M. Lengwiler u.a. (Hrsg.): Das präventive Selbst

Titel
Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik


Herausgeber
Lengwiler, Martin; Madarász, Jeannette
Reihe
VerKörperungen / MatteRealities. Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung 9
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Leanza, Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Zukunft ist unerreichbar. Wie ein Horizont schiebt sie sich in der Zeit beständig auf, mit jedem neuen Ereignis wird nicht nur eine neue Vergangenheit hervorgebracht, sondern auch die Grenze zwischen Aktuellem und künftig Möglichem neu gezogen: „The future cannot begin.“1 Dennoch existieren zahlreiche Bilder über die Zukunft und Anstrengungen, zukünftige Gegenwarten durch Entscheidungen im Hier und Jetzt zu beeinflussen. Trotz, oder besser: gerade wegen ihrer Unerreichbarkeit und Kontingenz ist die Zukunft stets auch ein Gegenstand von Zukunftserzählungen und Zukunftsinterventionen. Der Sammelband „Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik“ befasst sich in kulturhistorischer Perspektive mit der präventiven Form, Zukunft zu gestalten und Gegenwart zu binden. Er liefert dabei keine umfassende Geschichte präventiver Wissens- und Handlungsformen in der westlichen Moderne; die vierzehn im Band versammelten Aufsätze legen aber mit einem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert wichtige Zusammenhänge und Entwicklungen offen.

In ihrem Einleitungsaufsatz konstatieren die Herausgeberinnen Martin Lengwiler und Jeannette Madarász ein „Forschungsdesiderat“ (S. 12) bezüglich der Geschichte der modernen Krankheitsprävention. In zum Teil ländervergleichenden Studien (Deutschland, Großbritannien, Schweiz, USA) sucht der Band historische Brüche und regionale Unterschiede, aber auch Kontinuitätslinien und nationale Transfers sichtbar zu machen. Prävention wird dabei als eine „grundlegende Sozial- und Kulturtechnik der Moderne“ (S. 13) verstanden, die nicht auf den Bereich von Medizin und Gesundheit beschränkt ist, wenngleich sich der Band genau diesem zuwendet. Neben einigen knappen Andeutungen zu Entwicklungen in der Vor- und Frühmoderne, bei denen allerdings die Medicinalpolicey in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgespart bleibt, sehen die Herausgeberinnen einen wichtigen Bruch um 1900 gegeben. Sowohl durch die viel beschworene epidemiologische Transition – von den Infektionskrankheiten hin zu den chronischen Erkrankungen – als auch aufgrund epistemologischer und politischer Umbrüche – wie dem Aufstieg der Medizinalstatistik oder einer verbreiteten Zivilisationskritik – habe die Prävention seit jener Zeit einen starken Aufwind erfahren. Nach 1945 könne dann ein erneuter „Paradigmenwechsel“ (S. 21) in den gesundheitspolitischen Debatten festgestellt werden: Nicht zuletzt aufgrund massiver Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werde die ehemals klare Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit zugunsten der Vorstellung eines Krankheits-Gesundheits-Kontinuums verwischt, wodurch Prävention zur dauerhaften und inzwischen globalen Aufgabe avancierte. Aber auch das zunächst in den USA entwickelte Risikofaktorenmodell sowie Neuerungen im Bereich der Biomedizin und Humangenetik ab den 1990er-Jahren werden dargestellt. Insgesamt führten sie zu einer „liberalen Wende des Präventionsdiskurses“ (S. 22), da nunmehr verstärkt der Einzelne als präventives Selbst angerufen werde. Das Individuum sehe sich mit der Erwartung konfrontiert, die eigene Lebensführung gemäß gesundheitlichen Kriterien einzurichten.

Wenngleich die historische Anordnung insgesamt zu überzeugen vermag, und das Konzept des „präventiven Selbst“ interessante Forschungssperspektiven verspricht, so bleibt der titelgebende Begriff doch merkwürdig unbestimmt. Kurze Hinweise auf Bourdieus Habitus-Modell, Foucaults Analysen moderner Biopolitik sowie auf „innovative theoretische Zugänge, insbesondere die Ansätze der historischen Anthropologie, der Wissenschaftsgeschichte und der Körpergeschichte“ (S. 17) reichen nicht aus, um einen tragfähigen Begriff zu entwickeln – ein Versäumnis, das auch die meisten im Band versammelten Aufsätze nicht nachholen. Die (ausführlichere) Rezeption soziologischer und kulturwissenschaftlicher Subjekt- bzw. Identitätstheorien, wie sie seit vielen Jahren breit diskutiert werden, wäre sicherlich fruchtbar gewesen. So hätte etwa mit Bezug auf Foucault auch stärker zwischen Subjektivierung und Individualisierung differenziert werden können, Begriffe die von den Herausgeberinnen quasi synonym gebraucht werden. Individualisierung ließe sich dann als eine Form von Subjektivierung neben vielen anderen verstehen. Ebenfalls werden systemtheoretische Studien zur Prävention nicht rezipiert. Dies verwundert insofern, als sich dort theoretische Analysen des Zusammenhangs von Prävention, Zukunft und Risiko finden.

Eröffnet wird der historische Durchgang mit einem Aufsatz Jakob Tanners, der die aktuelle Adipositas-Diskussion historisch zu situieren versucht. Aus der Perspektive der historischen Anthropologie zeigt der Autor in einem großen Bogen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart die unterschiedlichen Formen auf, wie die Produktion und Inkorporation von Nahrungsmitteln sozial reguliert wird. Sichtbar wird in der kenntnisreichen Rekonstruktion nicht nur die Verschränkung von Symbolischem und Materiellem – so ist beispielsweise die Mundöffnung des Menschen Gegenstand zahlreicher Sozialisationsprozesse –, sondern auch wie sich die Aufmerksamkeit bezüglich des Essens vergrößert, körperliche Diversität problematisiert wird und es zu der Vorstellung einer beinahe grenzenlosen Steigerungsfähigkeit von Gesundheit kommt.

Besonders hervorzuheben sind die inhaltlich direkt aneinander anschließenden Artikel von Silvia Berger und Ursula Ferdinand, die in äußerst informativer Weise ihren Gegenstand darstellen. Berger geht in ihrem Artikel dem zunehmenden Bedeutungs- und Autoritätsverlust der Bakteriologie in der Weimarer Republik nach. Hatte die Bakteriologie mit ihrem Konzept lokalisier- und abgrenzbarer Erreger gegenüber den älteren hygienisch-diätetischen Ätiologien den Vorteil, gezielte Eingriffe mit starkem Wirkungsversprechen zu ermöglichen, so zeigt die Autorin auf, wie der Kontagionismus der Bakterienforscher nunmehr als reduktionistisch und unterkomplex wahrgenommen wurde. Die aktiv forcierte Immunisierung von Personen sowie die Assannierung der Städte verlor damit nicht ihre prinzipielle Berechtigung, jedoch konnten Konstitutionslehre und Sozialhygiene, Berger folgend, noch weitere Krankheitsfaktoren für die zeitgenössischen Beobachter plausibel darlegen. Der daran anschließende Aufsatz Ferdinands zeichnet die Entstehung der sozialhygienischen Programmatik detailliert nach. Dabei spart die Autorin nicht die eugenischen Ambitionen der Sozialhygiene aus und macht so die bisweilen intime Nähe von Gesundheit und Exklusion plastisch sichtbar. Im Fazit stellt Ferdinand die interessante Frage, ob bei der bevölkerungsbezogenen Sozialhygiene und Eugenik überhaupt von einem „präventiven Selbst“ gesprochen werden könne (S. 130). Bezieht sich der Begriff des „präventiven Selbst“ also nur auf Programme der Individualprävention? Oder adressieren nicht auch Vorsorgemaßnahmen, die bei Gruppen, Milieus, der Bevölkerung oder bei sozialen Verhältnissen ansetzen, Individuen als präventionsrelevante Personen und konstituieren spezifische Subjektpositionen? Kann es sein, dass sich am Ende der Begriff des „präventiven Selbst“ nur auf jenes rationale, sich selbst disziplinierende und eigenverantwortliche Subjekt bezieht, wie es etwa schon in der neohippokratischen Diätetik des 18. Jahrhunderts und heute von neoliberalen Präventionsprogrammen imaginiert wird, aber damit zahlreiche andere präventive Anrufungen außer Acht gelassen werden? Dies sind Fragen, die vor allem einer theoretisch-konzeptionellen Lösung bedürfen, die der vorliegende Band aber nur in Ansätzen liefert.

Mit Prävention als einer Selbsttechnologie befasst sich Eberhard Wolff. Überzeugend wird die Lebensreform-Bewegung als ein Laboratorium für moderne Selbstführungstechniken begriffen. Die Ordnungstherapie des schweizerischen Arztes Maximilian Bircher-Benner (1867-1939) und sein Sanatorium in Zürich werden exemplarisch vorgestellt. Doch der Artikel will weit mehr: Er unternimmt eine Grundsatzkritik der studies of governmentality, jener Studien also, die an Foucaults Konzept der „Gouvernementalität“ anschließen, wie dieser es in seinen Vorlesungen von 1977/78 und 1978/79 am Collège de France verhandelt hatte – und das schon kurze Zeit später zugunsten seiner Beschäftigung mit der Antike in den Hintergrund trat.2 Diese auch international verbreitete Forschungsperspektive wird vom Autor wie folgt rezipiert: „Manche Autoren vertreten, einmal expliziter, einmal impliziter, dieses reine ‚Fernsteuerungs’-Modell, wonach die Gouvernementalität lediglich ein Trick sei, die Menschen dazu zu bringen, freiwillig das zu tun, was fremde Machteliten von ihnen wollen.“ (S. 186) Demgegenüber gelte es, die Freiwilligkeit und Autonomie der an den diätetischen Präventionsmaßnahmen teilnehmenden Individuen hervorzuheben. Vieles ließe sich gegen Wolffs Kritik einwenden, die es sich entschieden zu einfach macht. So wird vom Autor übersehen, dass die foucaultsche Machtanalytik – gerade ab den späten 1970er-Jahren – den konstitutiven Zusammenhang von Freiheit und Macht betont und mit dem Begriff der „Regierung“ konzeptionell ausarbeitet. Das Verhältnis von Freiheit und Macht wird dort nicht gemäß einem Nullsummenspiel begriffen, sondern eher als wechselseitiger Bedingungs- und Steigerungszusammenhang konzeptualisiert. Demnach erweist es sich auch als aussichtslos, feinsäuberlich aktive und passive, autonome und heteronome Elemente im Subjekt voneinander trennen zu wollen. Den studies of governmentality ein beinahe verschwörungstheoretisch anmutendes Fernsteuerungs-Modell zu unterstellen (S. 186), geht an deren Argumentation deutlich vorbei.

Carsten Timmermann zeigt in einem fundierten und lesenswerten Aufsatz, wie das in den USA in den 1950er-Jahren etablierte Risikofaktorenmodell schon kurze Zeit später seine transatlantische Reise in BRD und DDR angetreten hatte. Der Autor zeichnet die in beiden deutschen Staaten jeweils unterschiedlichen Träger, Wege, Interpretationen und Kritiken nach, wobei mir neben den hier nicht näher darzustellenden empirischen Befunden vor allem ein generalisierbares Ergebnis wichtig zu sein scheint: Die Anschlussfähigkeit und Plausibilität eines wissenschaftlichen Konzeptes hängt im Wesentlichen von den jeweils regionalen diskursiven und institutionellen Konstellationen ab und weniger von seiner Bedeutung im Entstehungskontext.

Alles in allem liefert der Band einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Krankheitsprävention im 20. Jahrhundert und ergänzt sinnvoll andere Studien zu diesem Thema.3 Zugleich wird jedoch deutlich, dass die Rekonstruktion historischer Ereignisse und Prozesse theoretische Begriffsarbeit nicht ersetzen kann. Hier muss sich zeigen, ob es gelingt, theoretisch-konzeptionelle und historisch-empirische Aspekte stärker zusammen zu denken, als dies bislang der Fall ist.

Anmerkungen:
1 Niklas Luhmann, The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43,1 (1976), S. 130-152.
2 Vgl. für die zahlreichen Verschiebungen innerhalb des foucaultschen Werkes in den 1970er- und 1980er-Jahren Ulrich Bröckling, „Nichts ist politisch, alles ist politisierbar“. Michel Foucault und das Problem der Regierung, in: Michel Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin 2010, S. 401-439.
3 Vgl. etwa Sigrid Stöckel / Ulla Walter (Hrsg.), Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Weinheim 2002.