Die Studie von Stefanie Westermann, die gedruckte Fassung ihrer Dissertation aus dem Jahre 2009, befasst sich mit einem der bedrückendsten Kapitel der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945: dem Umgang mit den nach Hunderttausenden zählenden Opfern der rassenhygienischen Zwangssterilisierungen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) vom 14. Juli 1933. Es geht um den quälend langsam vorankommenden Wandel des öffentlichen Bewusstseins hin zu der Einsicht, dass es sich hier um ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz handelte. Nach einem vergeblichen Anlauf in den 1950er-Jahren gelang es den Betroffenen erst in den 1980er-Jahren, sich in einer Selbsthilfe- und Interessenorganisation zusammenzuschließen. Ihr zäher Kampf um materielle Entschädigung und politische Anerkennung ist ebenso Thema dieses Buches wie die körperlichen, psychischen und sozialen Folgen des gewaltsamen Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit für die Betroffenen und – dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Darstellung – ihr Leiden an der „zweiten Verfolgung“.
Eine knappe Einleitung führt in die Thematik ein, umreißt den Forschungsstand, ohne freilich explizit auf die wenigen jüngeren Arbeiten zu diesem Themenkomplex einzugehen 1, stellt die herangezogenen Quellen – ärztliche Zeitschriften, die Akten der Wiederaufnahmeverfahren, Briefe und (narrative) Interviews – vor und diskutiert methodische Fragen im Hinblick auf Interviews und Egodokumente. Was man vermisst, sind klare erkenntnisleitende Fragestellungen.
Das erste Kapitel des Hauptteils liefert alle Hintergrundinformationen, die man für das Verständnis des Folgenden benötigt: Die Entwicklung der Eugenik bis 1933, die Praxis der Zwangssterilisierungen zwischen 1934 und 1945, die Debatten um ein neues Sterilisationsgesetz und der Umgang mit dem GzVeN in der Bundesrepublik Deutschland werden in der gebotenen Kürze dargestellt.
Zwischen den beiden letztgenannten Komplexen bestand ein enger Zusammenhang. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein wurde in Politik und Wissenschaft, Kirche und Diakonie ernsthaft über ein neues Gesetz zur eugenischen Sterilisierung – auch unter Zwang – diskutiert (ein Thema, das noch nicht hinreichend erforscht ist). Die Kontinuität eugenischen Denkens über die Epochenzäsur von 1945 hinweg war zwar nicht gänzlich ungebrochen, doch erschien die eugenische Sterilisierung (manchmal unter Verweis auf die Praxis in anderen demokratischen Staaten) als eine akzeptable gesundheits- und sozialpolitische Option. Dieser eugenische Grundkonsens hatte zur Folge, dass das GzVeN über Jahrzehnte hinweg nicht als spezifisch nationalsozialistisches Unrecht galt – weshalb die Opfer in äußerst restriktiver Auslegung des Begriffs der „rassischen Verfolgung“ auch von den Leistungen des Bundesentschädigungsgesetzes in den meisten Fällen ausgeschlossen blieben. Bis zu einer Entscheidung des Bundestages im Jahre 1998 blieben die Urteile der Erbgesundheitsgerichte insgesamt rechtsgültig. Und erst 2007 verabschiedete das Parlament eine Erklärung zur „Ächtung“ des GzVeN, die auch die Zustimmung der Betroffenen fand. Seit den 1980er-Jahren kommen Opfer der Zwangssterilisierungen in den Genuss einer – wie Constantin Goschler treffend formuliert – „‚Entschädigung zweiter Klasse‘“ (S. 87).
Die Verfasserin schildert auch den schwierigen Weg zur Gründung einer Interessenorganisation der Betroffenen. Erste Versuche in den Jahren 1950/51 scheiterten nicht nur an den geballten Vorurteilen von Gesellschaft, Wissenschaft und Politik – sofort stand der denunziatorische Vorwurf der „Rentenpsychose“ (S. 92) im Raum –, sondern auch an inneren Widersprüchen. Die ersten Selbsthilfeorganisationen waren ihrem Selbstverständnis nach Interessenvertretungen von „politisch Verfolgten“, die sozusagen „zu Unrecht“ sterilisiert worden seien. Selbst Betroffene griffen die „Erbgesundheitslogik“ des „Dritten Reiches“ auf. So kam es „zu einer doppelten Isolation, im öffentlichen Raum ebenso wie im Umgang der Betroffenen untereinander“ (S. 99). Erst mit der Gründung des „Bundes der ‚Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ) zu Beginn der 1980er-Jahre erhielten die Betroffenen eine schlagkräftige Interessenvertretung, die sich von der jahrzehntelangen Stigmatisierung befreite.
Im zweiten Kapitel des Hauptteils und Kernstück der Studie analysiert Westermann die Wiederaufnahmeverfahren in den Bundesländern der ehemaligen britischen Besatzungszone (Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordrhein-Westfalen). Die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens war im GzVeN vorgesehen. – Und da das Gesetz in der britischen Besatzungszone formal weiter galt, hatte eine Verordnung aus dem Jahre 1947 die Durchführung solcher Wiederaufnahmeverfahren geregelt, die bis 1998 möglich waren. Die an den Verfahren beteiligten Juristen und Mediziner ließen in vielen Fällen „wenig Zweifel“ an ihrer „Akzeptanz eugenischer Zwangseingriffe“ (S. 114). Mitunter nannten sich die zuständigen juristischen Instanzen noch immer „Erbgesundheitsgericht“ (S. 110).
Das Prozedere der Gerichte war höchst unterschiedlich. Das Amtsgericht Hamburg forderte fast immer ein fachmedizinisches Gutachten an, das Amtsgericht Kiel eher selten, es verzichtete häufig auf jede Begutachtung oder Prüfung. Das Amtsgericht Hamburg ließ nur ärztliche Gutachter zu, die im „Dritten Reich“ keine Funktion an einem Erbgesundheitsgericht innegehabt hatten (S. 129). Das Amtsgericht Hagen hatte dagegen keine Bedenken, Gutachten etwa von der Universitätsnervenklinik Marburg unter dem ehemaligen T4-Gutachter Werner Villinger einzuholen (S. 130). Solche Begutachtungen konnten mit mehrwöchigen stationären Aufnahmen in einer psychiatrischen Einrichtung verbunden sein. Was Wunder, dass viele Betroffene sich scheuten, einen Antrag zu stellen, oder ihren Antrag wieder zurückzogen.
Die Motive der Antragsteller waren vielfältig. Viele erhofften sich eine materielle Entschädigung oder doch zumindest eine moralische Anerkennung. Manche waren auch der Meinung, sie dürften ohne Erlaubnis des Gerichts noch immer nicht heiraten (S. 122). Auch machten Mediziner die Durchführung von Operationen zur Refertilisierung manchmal von einem positiv verlaufenden Wiederaufnahmeverfahren abhängig (S. 123).
Die Entscheidungen der Amtsgerichte basierten oft weniger auf der Prüfung der Diagnose und der fachlichen Einschätzung der Erblichkeit einer Erkrankung oder Behinderung als vielmehr auf Werturteilen der Juristen und Ärzte über Lebensentwürfe und Lebenswandel der Antragsteller. Wie selbstverständlich legten sie ihre eigenen, bürgerlichen „Maßstäbe an das Leben anderer [an], entschieden über gelungene oder misslungene ‚Lebensbewährung’“ (S. 136). Und da hier Vertreter von bildungsbürgerlichen Eliten zumeist über „einfache Menschen“ – oft nur mit Hilfsschulabschluss, gering qualifizierter Arbeit, unregelmäßiger Erwerbsbiografie und „zerrütteten“ Familienverhältnissen – urteilten, fanden die Prozessbeteiligten keine gemeinsame Kommunikationsebene. Die Verfahren nahmen – um mit Jürgen Simon zu sprechen – „‚Züge einer Klassenjustiz‘“ (S. 148) an. Die Urteile waren willkürlich und nahezu beliebig; und sie fielen meist gegen die Antragsteller aus: Von 3.723 Anträgen, die bis Juni 1965 verhandelt wurden, entschieden die Gerichte nur in 964 Verfahren im Sinne der Antragsteller (S. 115). Erst sehr spät kam es zu einem Wandel der Bewertungskriterien, nahm die Empathie mit den Betroffenen zu, wurde ihnen die Beweislast, „unzulässig“ sterilisiert worden zu sein, endlich abgenommen. Aufseiten der Mediziner entwickelte sich eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und die Einsicht in die Unvereinbarkeit des GzVeN mit dem Grundgesetz wuchs.
Wo die Perspektive der Betroffenen in den Akten der Gerichte aufscheint – und mehr noch in den Briefen an den BEZ, die im dritten Kapitel des Hauptteils untersucht werden –, kommen die Folgen der Zwangssterilisierung deutlich zum Ausdruck: körperliche Beschwerden und Schmerzen (bei den betroffenen Frauen), Depressionen, Arbeitsunfähigkeit, verstellte Bildungs- und Berufsperspektiven, zerbrochene Partnerschaften, unerfüllter Ehe- und Kinderwunsch, fehlende soziale Orientierung, eine gebrochene Geschlechteridentität und Einsamkeit im Alter. Zudem löste sie eine tief greifende „Verletzung des Selbstwertgefühls“ (S. 174) aus, das Gefühl, „minderwertig“, ein „Mensch zweiter Klasse“, gar ein „halber Mensch“ (S. 241) zu sein. Des Weiteren sind Sprachlosigkeit gegenüber der Familie, eine Angst, dass im sozialen Umfeld der Makel der Sterilisation bekannt werden könnte, und – vielleicht am schwersten zu ertragen – eine überwältigende Scham dokumentiert. Die Egodokumente und Interviews belegen eindrucksvoll, wie sehr die Betroffenen bis in die Gegenwart unter einem „fortgesetzten Rechtfertigungsdruck gegenüber den Diagnosen und Urteilen“ (S. 215) stehen. Sie suchen die Gründe für ihre Sterilisierung in äußeren Ursachen – einem Unfall oder einer Erkrankung im Kindesalter, in schwierigen Lebensverhältnissen, häuslicher Gewalt, familiären Konflikten – oder vermuten einen politischen Hintergrund – in diesem Fall „bekommt die Frage nach dem ‚Warum‘ eine nicht schambesetzte Antwort“ (S. 216). Dieses „verschwiegene Leid“ sichtbar gemacht zu haben, ist das vielleicht größte Verdienst dieser empfehlenswerten Studie.
Anmerkung:
1 Z. B. Katja Neppert, Warum sind die NS-Zwangssterilisierten nicht entschädigt worden. Argumentationen der fünfziger und sechziger Jahre, in: Matthias Hamann / Hans Asbeck (Hrsg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirken der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 199-226; Henning Tümmers, Wiederaufnahmeverfahren und der Umgang deutscher Juristen mit der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik nach 1945, in: Justizministerium des Landes NRW (Hrsg.), Justiz und Erbgesundheit. Zwangssterilisation, Stigmatisierung, Entrechtung. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in der Rechtsprechung der Erbgesundheitsgerichte 1934-1945 und seine Folgen für die Betroffenen bis in die Gegenwart, Düsseldorf 2008, S. 173-193.