Die Erforschung historischer Netzwerke hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen. Vielen Autoren gilt alles als ein Netzwerk, wie Kalus ganz richtig zu Beginn seiner Untersuchung feststellt. Doch den wenigsten gelingt es, „konkrete Verflechtungen aufzuzeigen […] oder diese gar [zu] visualisieren“ (S. 3). Diesem Desiderat abzuhelfen, hat sich der Autor in seiner an der Universität Jena angenommenen Dissertation zur Aufgabe gemacht. Exemplarisch soll der so genannte „Europakontrakt“ der Fugger und Welser mit der portugiesischen Krone von 1591 bis 1593 einer Netzwerkanalyse nach einer von ihm entwickelten, computergestützten Methode unterzogen werden. Der Europakontrakt regelte den Verkauf des in Asien erstandenen Pfeffers in Europa und wurde zwischen dem portugiesischen König und einem Handelskonsortium geschlossen, an dem sich verschiedene Handelshäuser beteiligten, unter anderem die Augsburger Welser und Georg Fuggerischen Erben.
Kalus’ Methode weist dabei weit über das konkrete Beispiel hinaus und soll Historikern, Sozialwissenschaftlern oder historischen Fachinformatikern ein Instrumentarium an die Hand geben, das eine präzise Rekonstruktion von Netzwerken sowie deren Analyse erlaubt.
Der Autor, der mittelalterliche Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Informatik studiert hat, teilt seine Arbeit hierfür im Wesentlichen in zwei Teile. Nach der Einleitung mit Fragestellung und Literaturüberblick erläutert er die von ihm entwickelte historische semantische Datenbank mit dem Namen „historic crossroads“ oder kurz „histcross“ (Kapitel 2). Daran schließen sich die „Fallstudie: Netzwerke im Europakontrakt 1591-93“ (Kapitel 4) und die Untersuchung der Akteure eines der am Kontrakt beteiligten Unternehmen, nämlich der Georg Fuggerschen Erben (Kapitel 5) an. Der eigentlichen Untersuchung vorangestellt ist eine Einführung zum „Kontraktsystem der (spanisch-)portugiesischen Krone“ (Kapitel 3), ihr folgt ein Ausblick auf europäische und außereuropäische Netzwerke (Kapitel 6).
Die Datenbankerklärung und das Theoriemodell sind, wie man sich vorstellen kann, für den Historiker gewöhnlicher Prägung sehr komplex, so dass an dieser Stelle nicht alle Einzelaspekte, bei denen soziale Beziehungen in mathematische Funktionen umgewandelt werden, ausgiebig erläutert werden können. Im Wesentlichen ordnet Kalus das historische Material nach Knoten und Kanten, wobei Knoten beispielsweise für Personen, Orte oder Firmen stehen, während Kanten die Knoten zueinander sinnvoll in Beziehung setzen. Sowohl Knoten als auch Kanten werden Typen und Klassen untergeordnet, was eine möglichst dichte Beschreibung von Verflechtungen erlauben soll. Leider dient es nicht unbedingt der Reduktion der angesprochenen Komplexität, dass die Redaktion des Bandes wohl nur sehr oberflächlich stattgefunden hat. Mögen die häufigen Orthographiefehler zwar ärgerlich aber lässlich sein, führt die Betitelung einer Knotenliste mit der Beschriftung „Liste der Kanten in histcross“ dann doch zu einiger Verwirrung (S. 48).
Für seine Fallstudie gab der Autor nun alle aus den Quellen bekannten Daten zum Europakontrakt zwischen 1591 und 1593 – bzw. 1595, insoweit der nachgängige Verkauf des Pfeffers in Europa noch in die Analyse miteinbezogen werden sollte – in die Datenbank ein. So gelingt es Kalus, die Komplexität einer übergroßen Datenmenge, die aus einem frühneuzeitlichen Beziehungsgeflecht hervorgeht, zu reduzieren. Das von ihm entwickelte System „histcross“ kann, nach verschiedenen Zusammenhängen befragt, diese graphisch darstellen und erlaubt die Interpretation der Graphiken. So lassen sich wechselseitige Beteiligungsstrukturen einzelner Firmen, Gesamtnetzwerke, die sich nach geschäftlichen und familiären Beziehungen unterscheiden, oder eben Einzelnetzwerke wie die des Pfeffer- oder Kupferhandels darstellen. Natürlich können die verschiedenen Netzwerke auch nach Belieben verknüpft werden.
Im zweiten Teil der Netzwerkanalyse, in dem sich der Autor dem Unternehmen Georg Fuggersche Erben widmet, untersucht er vor allem die „innerbetriebliche Kommunikation“ zwischen Zentrale, Faktoren, Agenten und Korrespondenten. Brieffrequenzen, Inhalt usw. werden einer Analyse unterzogen, wobei der Darstellung dieses Parts kaum mehr Graphiken dienen, sondern herkömmliche Tabellen.
Kalus beschreitet mit seinem „histcross“ neue Wege in der Netzwerkforschung und bietet möglicherweise für Fragestellungen, bei denen eine große Menge historischer Daten verarbeitet werden soll, ein System, das das Zusammenfügen und Ordnen dieser Daten erleichtert. So könnten auch die Ergebnisse unterschiedlicher Forscher(gruppen) zusammengefügt und zu sinnvollen Analysen genutzt werden.
In dem vom Autor gewählten Fallbeispiel des Europakontrakts entzieht sich dem fachkundigen Leser aber doch ein wenig die Originalität der Ergebnisse. Die Aussagekraft von Graphiken, bei denen alle Knoten irgendwie miteinander verbunden zu sein scheinen, ist dann doch eher gering. Dass der frühneuzeitliche Handel nur mit weit gespannten Netzwerken funktionierte, die sich meist auf familiäre oder religiöse Bindungen gründeten, ist längst bekannt. Über die Qualität bestimmter Verbindungen sagen die Graphiken wenig aus, und so muss Kalus selbst zugeben, dass für die Frage danach nur „traditionelle Methoden der Geschichtswissenschaften, die Hermeneutik und die historisch-kritische Methode“ Abhilfe schaffen (S. 87). Das Ergebnis, „dass der Personenkreis im Laufe der Zeit konstant blieb, während die geschäftlichen Verbindungen wechselten“ (S. 90), heißt ja nichts anderes, als dass der frühneuzeitliche Handel in hohem Maße von Insiderwissen abhängig war, und dass die Träger dieses Wissens die bestehenden Verbindungen oder Netzwerke nach Möglichkeit zu ihrem eigenen Wohl nutzten, ebenso wie sie virtuos in verschiedenen Machtbereichen agierten. Auch diese Erkenntnis ist nicht sonderlich neu. Ebenso wenig wie die, dass im Pfefferhandel „eine ganze Riege des Netzwerkes mit der Hochfinanz verbunden war“ (S. 104).
In seinem Kapitel über die Georg Fuggerschen Erben und ihr Netzwerk unterzieht der Autor vor allem die Korrespondenz allerlei statistischen Erhebungen: wie oft, in welchem Umfang Briefe an die jeweiligen Agenten und Faktoren gesandt wurden. Dass Häufigkeit und Länge von der geographischen Entfernung bzw. der Sicherheit des Postwegs und von der Wichtigkeit der Geschäftsverbindung abhingen, ist ebenfalls wenig überraschend.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass es dem Autor vor allem um die Entwicklung seiner Methode ging, inhaltlich bleibt er meist an der Oberfläche: Der Überblick zum Forschungsstand ist eher eine Sammlung der vorhandenen Literatur und geht kaum auf die darin gewonnenen Erkenntnisse ein. Der Ausblick über europäische und außereuropäische Netzwerke beschränkt sich ebenfalls weitgehend auf Zusammenfassungen aus der Literatur. Literaturüberblicke mögen nicht grundsätzlich verwerflich sein, nur erschließt sich der Rezensentin hier nicht, welche Funktion sie in der Arbeit einnehmen.
So bleiben die Ergebnisse der Studie weitgehend dünn, doch mag dies ihrem bipolaren Ansatz zuzuschreiben sein. Weit vielversprechender als die Analyse des Netzwerkes ist die Entwicklung der computergestützten Methodik, auch wenn es vielleicht künftigen Projekten vorbehalten sein mag, die Praktikabilität von „histcross“, das im Internet zugänglich ist, auf Herz und Nieren zu prüfen.1
Anmerkung:
1 histcross <www.histcross.org> (15.08.2011).