Vor mehr als einhundert Jahren erschien im Handbuch der Altertumswissenschaft der erste Band von Wilhelm Schmids und Otto Stählins Geschichte der griechischen Literatur, vor mehr als sechzig Jahren der letzte. An ihre Stelle tritt jetzt das von Bernhard Zimmermann herausgegebene Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Insgesamt auf drei Bände angelegt, widmet sich der jüngst erschienene, ebenfalls von Bernhard Zimmermann unter Mitarbeit von Anne Schlichtmann herausgegebene erste Band der Zeit von Homer bis um 400 v.Chr.
Die Neubearbeitung ist – wie ein knappes Vorwort (S. V–VII) ausführt – aus mehreren Gründen dringend angezeigt: Zahlreiche Neufunde haben zum einen nicht nur den Umfang der bekannten griechischen Literatur stark anwachsen lassen und neue Einzelerkenntnisse ermöglicht, sondern teils zu revolutionären Neubewertungen ganzer Autoren, Gattungen und sogar Epochen geführt. Zum anderen hat die vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer intensiver geführte Methodendiskussion und -reflexion in den Geisteswissenschaften und speziell in der Klassischen Philologie – gerade in Bezug auf die archaische und klassische Zeit – qualitativ neue Perspektiven eröffnet, und dies im Rahmen einer sich auch quantitativ immer stärker weitenden Forschungsdiskussion. Zu denken ist hier insbesondere an die jüngsten transdisziplinär-kulturwissenschaftlichen Tendenzen, etwa in der Homerforschung. Schließlich ist die Schmid-Stählinsche Literaturgeschichte trotz ihres immensen Umfangs nicht nur nicht vollständig – im fünf Bände umfassenden ersten Teil zur Literatur bis 320 v.Chr. blieb die Zeit nach Thukydides und der Atomistik unbehandelt, also gerade die Hochzeit der griechischen Prosa –, sondern sie ermangelte schon zu ihrer Entstehungszeit eines hinreichenden Einbezugs der Forschung, insbesondere der nicht-deutschsprachigen.
Hiermit ergibt sich zugleich das Ziel der Neubearbeitung: Sie soll einen konzisen Überblick zur griechischen Literatur der Antike in ihrer ganzen Fülle aus der Perspektive der aktuellen Forschung vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte bieten, und zwar – der Tradition des Handbuchs der Altertumswissenschaft folgend – nicht nur für die Fachwissenschaft, sondern auch für Lehrerinnen und Lehrer am Gymnasium, Studierende sowie Vertreterinnen und Vertreter anderer Fachdisziplinen. Nicht zuletzt hieraus folgt im Übrigen die begrüßenswerte Grundsatzentscheidung, alle behandelten Texte in kurzen Inhaltsangaben zu referieren und alle Originalzitate zu übersetzen.
Im Gegensatz zu Schmid-Stählins Literaturgeschichte ist das Handbuch auf nur drei Bände angelegt, versteht sich also dezidiert als „Mittelweg zwischen einer mehrbändigen Darstellung wie dem ‚Handbuch der lateinischen Literatur der Antike (HLL)‘ […] und den zahlreichen einbändigen, einführenden Literaturgeschichten und ‚Companions‘“ (S. VI). Die hiermit notwendige Aufteilung des Stoffs – die ja „gleichzeitig auch eine Stellungnahme in der Frage der Epocheneinteilung“ (S. VI) darstellt – erfolgt partiell durchaus überraschend: so meint der Herausgeber zum einen, dass es bezüglich der ersten Epoche durchaus vertretbar scheine, „einen Schnitt am Ende des Peloponnesischen Kriegs anzusetzen, zumal die 405 v.Chr. aufgeführten Frösche des Aristophanes das deutliche Bewußtsein eines Epocheneinschnitts aufweisen und für die Prosaautoren des 4. Jh. der Zusammenbruch Athens und der Tod des Sokrates (399 v.Chr.) ebenfalls einen deutlich markierten Anhaltspunkt darstellen“ (S. VII). Eher konventionell wird zum anderen ein zweiter Einschnitt um die Zeitenwende angesetzt. Schließlich wird als Ende des letzten großen Abschnitts nicht (in eher traditioneller Weise) die Schließung der neuplatonischen Schule durch Iustinian im Jahre 529 n.Chr. bestimmt: „Den tatsächlichen Einschnitt kann man wohl erst in die sogenannten Dunklen Jahrhunderte setzen, in denen ein tiefgehender Bruch mit der antiken literarischen Tradition stattfand (650 – ca. 800/50 n.Chr.)“ (S. VII).
Zur konkreten Gestaltung des ersten Bandes: Nach einer knappen, aber informativen Einleitung (S. 1–5), die einen allgemeinen Überblick über die behandelte Literatur in ihrem spezifischen historischen Kontext gibt, erfolgt die primär gattungs-, sekundär autorzentrierte Vorstellung der Texte selbst. Dabei korreliert der Umfang der Abschnitte im Großen und Ganzen einerseits mit dem Umfang des erhaltenen Textes, andererseits mit dem Umfang der Forschung; grobes Anordnungsprinzip ist die (ungefähre) Chronologie der jeweils ersten bezeugten Vertreter: Vorgestellt werden epische Dichtung (S. 7–123), Lyrik (S. 124–253), Philosophie (S. 254–288), Fachliteratur (S. 289–320), Fabel (S. 321–325), Historiographie (S. 326–423), Rhetorik (S. 424–450) und Drama (S. 451–800). Für die Unterabschnitte zeichnen jeweils ausgewiesene Expertinnen und Experten verantwortlich: Jochen Althoff (medizinische Fachliteratur), Andreas Bagordo (Lyrik außer den Dithyrambikern des 5. Jahrhunderts), Andrea Ercolani (Hesiod außer Erzähltechnik), Michael Erler (Philosophie und anonyme rhetorische Schriften), Sabine Föllinger (Fachliteratur außer der medizinischen), Hans Rupprecht Goette (Theaterarchitektur), Jonas Grethlein (Fabel), Thomas Paulsen (Rhetorik außer den anonymen Schriften), Rebecca Lämmle (Satyrspiel), Michael Reichel (Epos außer Hesiod), Antonios Rengakos (Hesiods Erzähltechnik und Historiographie außer Pseudo-Xenophon), Luigi Enrico Rossi (Hesiod), Carlo Scardino (Pseudo-Xenophon) und Bernhard Zimmermann (Dithyrambiker des 5. Jahrhunderts und Drama außer Theaterarchitektur und Satyrspiel).
Die einzelnen Kapitel sind analog aufgebaut: Nach einleitenden Ausführungen zur Gattung, insbesondere hinsichtlich der zentralen Fragen der Forschung, werden in einem zweiten Schritt die Autoren erörtert. Als Beispiel sei die Lyrik angeführt: Im ersten Hauptabschnitt „Einleitung“ (S. 124–138) werden die Punkte „Antike und moderne Terminologie“ (S. 124–126), „Stand und Tendenzen der Lyrikforschung“ (S. 126f.), „Die pragmatische Dimension der Lyrik“ (S. 127f.), „Das ‚lyrische Ich‘“ (S. 129), „Iambos“ (S. 130–132), „Elegie“ (S. 132f.) und „Melik“ (S. 133–136) diskutiert; ergänzend tritt eine ausführliche Literaturliste hinzu, getrennt für Textausgaben und Sekundärliteratur (S. 136–138). Der zweite Hauptabschnitt behandelt einzeln 19 Dichter sowie die Dithyrambiker des 5. Jahrhunderts in einem eigenen Unterkapitel (S. 138–253), wobei (zumeist in separaten Unterabschnitten) Leben, Werk sowie Überlieferungsgeschichte und Rezeption betrachtet werden und zusätzlich eine Zusammenstellung der relevanten Literatur gegeben wird. Allgemeines Ziel dieser Unterkapitel ist nicht nur der deskriptive Bericht, sondern auch eine enge und kritische Anbindung an die Forschungsdiskussion. Ein grundsätzlich (wenngleich nicht starr) gleiches Vorgehen ist für das gesamte Handbuch festzustellen, gegebenenfalls in iterierter Form, etwa beim Drama (S. 451–800): Einer allgemeinen Einleitung (S. 451–484) folgen (abgesehen von einem kurzen Abschnitt zur außerattischen Komödie: S. 664–670) drei große Hauptkapitel zur attischen Tragödie (S. 484–610), zum Satyrspiel (S. 611–663) und zur attischen Komödie (S. 671–800), ihrerseits ebenfalls – entsprechend der Forschungsdiskussion – mit umfangreichen separaten Einleitungen versehen (S. 484–554, 611–635 u. 671–715).
Es ließe sich (nicht nur) angesichts des Zielpublikums fragen, ob nicht, gewissermaßen als komplementäres Korrektiv zur Gattungszentriertheit, in einem größeren Umfang als in der kurzen Einleitung geschehen Erläuterungen allgemein-systematischer Art zur besonderen kulturgeschichtlichen Charakteristik der antiken griechischen Literatur, sowohl im Vergleich zu den folgenden Epochen als auch zur Moderne, einen zusätzlichen Beitrag zu einem vertieften Verständnis hätten leisten können, insbesondere hinsichtlich des Aspekts der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (S. 2). Ebenso ließe sich anlässlich des großen Umfangs des Abschnitts zum Drama (fast die Hälfte des Handbuchs) fragen, ob dem für die moderne Zivilisation so ungemein wichtigen Bereich der Fachliteratur (man denke nur daran, dass auf der Erfindung der wissenschaftlichen Mathematik durch die Griechen letztlich unsere gesamte moderne Technik beruht) nicht mehr Platz als die Seiten 289–320 (wovon die Seiten 295–320 nur der medizinischen Literatur gewidmet sind) hätte eingeräumt werden können (auch wenn zahlreiche in dieser Hinsicht relevante Autoren in anderen Kapiteln behandelt werden) – was allerdings in der Umkehrung keineswegs heißt, dass die exzellente Darstellung des Dramas hätte gekürzt werden sollen.
Doch sind dies Nebensächlichkeiten – angesichts der großen Leistung, die vollbracht wurde: Ohne Zweifel erreicht der erste Band des Handbuchs sein Ziel in vortrefflicher Weise und erweist sich durchgängig als Darstellung, die auf dem aktuellen Stand der Forschung die Gattungen und Autoren der griechischen Literatur bis 400 v.Chr. vollumfänglich in all ihren relevanten Aspekten erschließt und übersichtlich, lesbar und ansprechend präsentiert. In diesem Sinne ist Verlag, Herausgeber und Autoren zu gratulieren und gutes Gelingen für die kommenden zwei Bände zu wünschen.