T. Wegmann: Dichtung und Warenzeichen

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Titel
Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000


Autor(en)
Wegmann, Thomas
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Schindelbeck, Pädagogische Hochschule Freiburg

Thomas Wegmanns "Dichtung und Warenzeichen" ist nicht nur die materialreichste Untersuchung, die es zum Verhältnis von Werbung und Literatur bislang gibt, sie eröffnet auch eine ganze Reihe neuer, teils überraschender, oft auch sehr anregender Blickweisen. Eigentlich lag die Aufarbeitung dieses delikaten Verhältnisses schon seit Jahren in der Luft – nur hatte sich bislang niemand getraut, es in einer Längsschnitt-Untersuchung über 150 Jahre hinweg zu verfolgen. Schließlich wird dabei gleich auf mehreren Gebieten ein außerordentlich großes Maß an Kenntnissen und Belesenheit vorausgesetzt: sowohl auf dem Feld der Literatur als auch der Kulturwissenschaft sowie der Werbegeschichte. Den vorgegebenen Anspruch löst vor allem der Germanist und Kulturwissenschaftler Wegmann ein. Es sei angemerkt, dass die nun vorliegende Veröffentlichung seiner Forschungen viel Zeit in Anspruch genommen hat. Die jüngsten zitierten Literaturtitel datieren aus dem Jahr 2006.

Wegmann bedient sich eines ungewöhnlichen, jedoch angesichts der im Laufe der Untersuchung evident werdenden Ergiebigkeit wohl legitimen Tricks: Er erklärt den Begriff der Reklame für den gesamten Untersuchungszeitraum von 150 Jahren für tragfähig und hinreichend. Das dürfte viele in ihren angestammten Wissenschaftstraditionen denkende Geschichts-, Sozial- und Kommunikationswissenschaftler verblüffen, pflegen sie doch "Reklame" gewöhnlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verorten. Wegmann jedoch subsumiert selbst moderne Phänomene wie "virales Marketing" (S. 506 ff.) unter diesem Begriff. Da es ihm nicht um Aufdeckung und Analyse komplexer Kommunikationsprozesse oder psychologische Milieuanalysen geht, sondern nur um die zu Markenbildern und -vorstellungen geronnenen Endergebnisse, welche die Semiosphäre einer (jeden) Zeit oder Gesellschaft ausmachen, mag dies angängig sein.

Auf der anderen Seite unterzieht Wegmann aber auch das untersuchte literarische Feld in seiner "Eigenlogik kultureller Produktion" (Bourdieu, S. 15) einer ungewohnten, aber überaus konsequent durchgehaltenen Blickweise. Literaten und ihre Werke sind für ihn vor allem eins: Marken. Schließlich hat jede/r Autor/in das ureigenste Interesse, wahrgenommen zu werden, sich einen "guten Namen" zu erarbeiten, Renommee und Ruhm anzuhäufen. Diese Betrachtungsweise mag der angestammten Germanistik wie ein Sakrileg erscheinen. Schließlich pflegt sie noch immer davon auszugehen, dass etwa die Schreibgenies der deutschen Klassik nur eine Motivation auf Erden gekannt hätten: ihre Mit- und Nachmenschen durch ihre für die Ewigkeit produzierten Wortwerke zu erheben, zu veredeln und zu erfreuen. Dem hält Wegmann seine Sichtweise etwa von Goethes Werther als "Modell für die Konstruktion von Marken" (S. 12) oder der "Deutschen Klassik als erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen" (S. 77) entgegen. Wird auf diese Weise "Autorschaft als Label" (S. 29) verstanden, entfällt auch die übliche Unterscheidung zwischen "zweckfreier Literatur und zweckgebundenen Gebrauchstexten" (S. 24). Da ist es nur konsequent, wenn Wegmann die tradierte Bourdieusche Differenz zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital aufkündigt, für ihn ist vielmehr "davon auszugehen, dass Autorschaft seit der Etablierung moderner Medien und Reklame im literarischen Feld auch als Marke bzw. Label fungiert" (S. 242).

Damit ist die Vergleichsfläche so zugeschnitten, dass sie dem stets grenzgängerischen Ansatz den nötigen Spielraum eröffnet, um den Über-Kreuz-Vergleich zweier Markenwelten (der literarischen und der ökonomischen) immer wieder stringent durchzuführen. Werbefachleute und Schriftsteller treten als "Experten für Aufmerksamkeit" (S. 13) in einen spannenden Wettbewerb, in dem es um "Grenzerhaltung und Grenzüberschreitung innerhalb des literarischen Feldes bzw. Systems" geht (S. 31). Wie fruchtbar diese Doppelsicht als Methode sein kann, zeigt Wegmann auf grandiose Weise in seiner Interpretation des berühmten Gedichts "Reklame" von Ingeborg Bachmann (1953). Darin werden (vermeintlich!) existentielle Seinsfragen mit geschwätzigen Reklamebotschaften jeweils im Zeilenwechsel miteinander in Beziehung gebracht, die letzte Seinsfrage "wenn Totenstille eintritt" bleibt jedoch von "der Reklame" unbeantwortet. In der Regel wird das Gedicht nur in eine Richtung interpretiert, nämlich vor dem Hintergrund eines stillschweigend vorausgesetzten Wertgefälles zwischen der (vermeintlich zweckfreien) Sinnsuche und philosophischen Ortsbestimmung des lyrischen Ichs und der schnöden Welt des es umgebenden Kommerzes. Wegmann nun interpretiert es erstmals als Markenartikel, ergo vom Selbststilisierungsinteresse einer aufstrebenden Autorin aus, die ihren Weltekel mit an Gryphius erinnernden Zentnerwortkaskaden harsch artikuliert. Dass der Entstehung eines auratischen Namens im Literaturbetrieb dieselben Gesetze zugrunde liegen, die auch einen Markenartikel in die Erfolgsspur bringen, macht Wegmann sehr anschaulich am Beispiel der "Gruppe 47" deutlich, dem "symbolischen Warenadvent in der deutschen Nachkriegsliteratur" (S. 482); ironischer Weise wurde der alljährlich von der Gruppe ausgesetzte Literaturpreis von der deutschen Filiale der Werbeagentur McCann gestiftet.

Diese frische Denkungsart ist nicht nur für die Geschichtswissenschaft ergiebig, sondern auch für die Literaturwissenschaft, geraten dabei doch auch so selten rezipierte (und deswegen oft unterschätzte) Texte wie etwa Goethes "Jahrmarktsfest zu Plundersweiler" von 1781 ins Zentrum des Diskurses. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sei, so Wegmann, "die Literatur auf ihrem eigen (Jahr-) Markt angekommen" (S. 42). Über weitere Etappen – Gottfried Kellers Grünen Heinrich und die Geheimmittel-Diskussion der vorletzten Jahrhundertwende, Otto Julius Bierbaums Autofahrt nach Italien im Adler-"Laufwagen" 1903, Dichter als Werbetexter wie etwa Eugen Roth, der über die Vorzüge des Tempo-Taschentuchs ein ganzes Versepos verfertigte – führt der Weg hin zu Selbstinszenierungen verschiedener Autoren auf dem literarischen Markt wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan George oder Peter Altenberg.

Natürlich sind auch Kompositionsprinzipien und Strukturen literarischer Werke Thema, etwa Döblins "Berlin Alexanderplatz", der "den Rezeptionsmodalitäten von Litfasssäulen" (S. 130) folge, sowie direkt aus der Werbewelt entlehnte Markennamen, Topoi und Formeln, beispielsweise im ironischen Nivea-Gedicht von Otto Jägersberg. Dass diesem "innengeleiteten" Werk nicht das Gegenstück eines "außengeleiteten" Werbegedichts der Beiersdorf-Hausdichterin Elly Heuss-Knapp entgegengesetzt wird, verwundert allerdings – wie man auch manche Namen und Werke erwartet hätte, die gar nicht fallen (zum Beispiel Karl Krauss' "Vor den Plakaten" von 1909). Gleiches gilt für die angeführte Literatur. So hätte sich von Frederic J. Schwartz' Buch über den Werkbund1 wohl viel profitieren lassen, zumal es vom Forschungsdesign her sehr nah an dem Wegmannschen ist.

Und hier scheint nun ein Defizit zutage zu treten, das sich als Asymmetrie darstellt: Der Germanist und Kulturwissenschaftler Wegmann ist dem Werbehistoriker Wegmann doch um etliche Längen voraus. Meist ist das Anzeigen- und Bildmaterial in seinem Buch nicht selbst erhoben, sondern aus anderen Publikationen entlehnt, also zweitverwertet. Es fehlt an originärer Quellenarbeit im werbehistorischen Bereich, wo sich noch unendlich viel zutage fördern lässt. Das ist zugegebenermaßen überaus mühsam. Weil das so ist, werden (in vielen Publikationen, nicht nur hier!) die aus der Literatur schon sattsam bekannten Beispiele immer wieder angeführt. Dadurch wird zum Beispiel der Kult um das Bernhard-Plakat für die Priester-Hölzer fortgeschrieben, das die Kunsthistoriker nach wie vor in Entzücken versetzt und als Design-Ikone gilt. Niemand hingegen hat bis heute die Frage gestellt, ob das abgebildete Produkt überhaupt irgendeine Relevanz im Konsumalltag der Zeit hatte, niemand ist über das Missverhältnis gestolpert, wie es möglich sein konnte, dass ein so banales Produkt Anlass für ein so aufwendiges Plakat werden konnte.

Hinzu kommt, dass Wegsmanns Aufarbeitung der historischen Werbefachliteratur lückenhaft erscheint. Die Synonymsetzung von Reklame und Werbung mag die Wahrnehmung hier vorschnell verengt haben, wobei einiges ausgeblendet worden sein dürfte, von dem die Arbeit hätte profitieren können. So vermisst man viele Titel, die dezidiert das Wort Werbung im Titel trugen, wie etwa Rudolf Seyfferts "Allgemeine Werbelehre" von 1929, sämtliche Schriften von Johannes Weidenmüller (1881-1936) oder die Werbefachliteratur zwischen 1900 und 1914, von der Wegmann mit Mataja und Ruben gerade einmal zwei Titel auf seiner Liste hat. Man muss die im selben Zeitraum erschienen Bücher nicht alle kennen, aber wenigstens Growalds "Plakat-Spiegel" von 1904, als Aphorismenbuch selbst ein literarisches Werk, hätte nicht nur als zitierte, sondern als primäre Quelle Eingang in die Untersuchung finden sollen, ebenso Johannes Weidenmüllers "Erfolgreiche Kundenwerbung" von 1912. Gleiches gilt für dessen "gesang vom werbewerk" aus dem Jahr 1924, einen der wenigen Fälle, in denen ein Werbefachmann dezidiert als Literat auftrat und ein Versepos verfasste, das die Wirkungsmacht der Werbung in allen Kapilaren der Gesellschaft pries: Welch eine Grenzüberschreitung! Unmittelbar im Zentrum Wegmannschen Interesses wäre schließlich auch Ernst Growalds "Reklame-Fetische" von 1926 gewesen. Es will – an Beispielen aus der eigenen Werbepraxis untermauert – zeigen, wie Suggestion zur Autosuggestion wird – voilà Virales Marketing!

Damit soll freilich Wegmanns Leistung keineswegs kleingeredet werden. Er hat eine Bresche geschlagen, die unbedingt weiter zu verfolgen und zu vertiefen ist.

Anmerkung:
1 Frederic J. Schwartz, Der Werkbund. Ware und Zeichen 1900 – 1914, Amsterdam 1999.

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