Eine der wirkmächtigsten zeitgenössischen Darstellungen zur Geschichte der Revolution von 1918/19, welche die Forschung zur Rätebewegung seit den 1950er-Jahren beeinflusst hat, ist neben Arthur Rosenbergs Geschichte der Weimarer Republik zweifelsohne die von 1924 bis 1925 veröffentlichte Trilogie Richard Müllers unter dem Obertitel: „Vom Kaiserreich zur Republik“.1 Müller verfasste sein Geschichtswerk aus der Perspektive des unmittelbar an der Basis in den Betrieben und den Räteorganisationen aktiven Organisators der revolutionären Bewegung. Seine eigene Biografie steht paradigmatisch für jenen Teil der deutschen Arbeiterbewegung, der in den Revolutionsjahren für kurze Zeit ins politische Feld eingetreten war, nach dem Scheitern der Rätebewegung, der Auflösung der USPD und den Säuberungen innerhalb der KPD jedoch bald wieder von der politischen Bühne verschwand. Seine Geschichte der Revolution spiegelt daher auch Hoffnungen und Bestrebungen wider, die nicht in der Gegenüberstellung von parlamentarischer Demokratie oder bolschewistischer Einparteiendiktatur aufgeht.2
Der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge, dem das Verdienst gebührt, bereits vor vier Jahren die Biografie Müllers herausgearbeitet zu haben 3, hat nun zusammen mit Jochen Gester und Rainer Knirsch sowie mithilfe eines kleinen Berliner Verlages die drei Bücher Müllers in einem Band neu herausgegeben und mit einer ausführlichen Einleitung versehen. In dieser rekapituliert Hoffrogge noch einmal die Stationen der politischen Tätigkeit Müllers von seiner führenden Rolle unter den „revolutionären Obleuten“ in den Massenstreiks während des Ersten Weltkrieges über seine Tätigkeit als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und seinem Wirken als Rätetheoretiker und KPD-Gewerkschaftsbeauftragter bis hin zu seiner kurzfristigen Rolle in der kleinen Linksgewerkschaft „Deutscher Industrieverband“ nach seinem Ausschluss aus der KPD 1922. Anschließend hebt er die Rezeption Müllers während des Paradigmenwechsels in der bundesrepublikanischen Forschung in den 1950er- und 1960er-Jahren hervor, welche den scharfen Gegensatz von Demokratie und Rätebewegung endgültig aufgab 4, beleuchtet aber auch den Einfluss von Müllers Geschichtswerk auf die umstrittene populärwissenschaftliche Darstellung von Sebastian Haffner 5 und den Rückbezug auf Müller in linksgewerkschaftlichen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahren. Hoffrogge beschreibt das Paradox, dass Müllers Geschichte der Revolution gleichzeitig ein „Standardwerk“ und ein „Geheimtipp“ gewesen sei. Die Studentenbewegung habe bewirkt, dass diese in den 1970er- Jahren bei dem Berliner Verlag Olle & Wolter neu aufgelegt wurde, jedoch seit längerer Zeit vergriffen sei.
Die Neuauflage orientiert sich an der letzten Auflage des Originals, besitzt aufgrund der einbändigen Herausgabe jedoch veränderte Seitenzahlen. Eine Besonderheit von Müllers Werk besteht in der ausgiebigen Verwendung von teilweise seltenen Originaldokumenten, die unter anderem auf seine akribische Archivierungsarbeit während seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates zurückgeht. Jedem der drei Teile folgt daher ein längerer dokumentarischer Anhang aus Flugblättern, Protokollen und Ausschnitten aus Zeitungsartikeln, die das Buch zugleich zu einer wertvollen Dokumentensammlung machen.
Der erste Teil behandelt die Entwicklung vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Vorabend der Novemberrevolution. Müller legt in einem Vorwort dar, dass er keinesfalls beabsichtigt, eine erschöpfende wissenschaftliche Darstellung zu liefern. Den größten Raum nehmen die Vorgänge in Berlin und vor allem die Entwicklung in der Arbeiterschaft ein. Er betont dabei die Bedeutung der sozialen und psychologischen Folgen des Krieges, die im Zusammenspiel mit der Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsinstanzen und des sozialdemokratischen Parteiapparates schließlich dazu führten, dass ein kleiner Kreis konspirativ agierender oppositioneller Vertrauensleute, die Obleute, einen immer breiteren Anhang in der Arbeiterschaft gewinnen konnte. Er beschreibt auch die Differenzen in der Strategie zwischen den Obleuten und dem Spartakusbund, vor allem mit Karl Liebknecht, dessen Taktik der sich bis zur Revolution steigernden Straßenagitation die Obleute als „revolutionäre Gymnastik“ verspotteten. Sie setzten hingegen auf sich ausweitende große Massenaktionen wie die Streiks vom April 1917 und Januar 1918, die Müller, trotz des Scheiterns der aufgestellten Forderungen, als Erfolge verbucht.
Der zweite Teil beginnt mit dem Umsturz vom 9. November in Berlin, an dessen Gelingen die Vorbereitungen der Obleute entscheidenden Anteil hatten, und endet mit dem Ersten Reichsrätekongress im Dezember 1918, der die Entwicklung zur Nationalversammlung festschrieb. Müller beschreibt ausgiebig das Verhältnis zwischen Berliner Vollzugsrat, dessen Vorsitz er in dieser Zeit führte, und dem Rat der Volksbeauftragten. Der Vollzugsrat, der als Kontrollorgan der Räte gegenüber der neuen Regierung gedacht war, sah sich bald heftigen Angriffen ausgesetzt, blieb jedoch auch aufgrund interner Fraktionskämpfe zwischen SPD- und USPD-Vertretern gelähmt, so dass er den Restaurationsbestrebungen durch das Bündnis aus SPD-Volksbeauftragten und kaiserlichem Militär- und Verwaltungsapparat außer Willenskundgebungen nichts entgegen zu setzen hatte.
Der dritte Teil „Der Bürgerkrieg in Deutschland“ schließt das opulente Werk mit der Schilderung der militärischen Auseinandersetzungen und der Streikbewegungen vom Anfang bis zum Frühjahr des Jahres 1919 ab. Müllers zentrale These besteht darin, dass die SPD-Führung, durch eine revolutionäre Massenbewegung an die Macht getragen, die Grundlage dieser Macht in der Rätebewegung verleugnet habe und sich nicht nur weitergehenden Bestrebungen nach einer Sozialisierung und einer Heeresreform entgegenstellte, sondern sich dadurch auch auf die Macht der gegenrevolutionären Kräfte in Militär- und Staatsapparat stützen musste. Getrieben von ihren militärischen Bündnispartnern, sei sie auch vor dem Einsatz militärischer Gewaltmittel nicht zurückgeschreckt, wodurch sich die Konflikte erst zum Bürgerkrieg zugespitzt hätten. Auf der anderen Seite übt Müller scharfe Kritik an der revolutionären linken Opposition, die durch überstürzte, einer Radikalisierung der Rätebewegung vorauseilenden Aktionen die vorhandenen Möglichkeiten der Revolutionsjahre verspielt habe. Er sieht daher weder im Januaraufstand noch in den diversen Räterepubliken die entscheidenden Kämpfe um die Weiterführung der Revolution, sondern in einer aus der wirtschaftlichen Not und der Enttäuschung breiter Massen entstandenen Streikwelle im Frühjahr 1919. Die kam jedoch aufgrund der Schwäche der revolutionären Linken nach den militärischen Niederlagen und ihrer organisatorischen und regionalen Zersplitterung, nur versprengt zur Entfaltung und scheiterte in erneuten zum Teil sehr blutigen militärischen Auseinandersetzungen weitgehend.
Müllers Werk ist eine beeindruckende Darstellung aus der Binnensicht. Wer seine durchaus kontrovers zu beurteilenden Thesen nicht teilt, wird dennoch eine Fülle von sehr bewegenden Darstellungen entscheidender Stationen der Revolutionsgeschichte vorfinden. Vor allem aber liefert er einen guten Einblick in die organisatorische Struktur und mentale Verfassung der „größten Massenbewegung der deutschen Geschichte“6 aus der Perspektive eines ihrer entscheidenden Akteure. Trotz der aus fachhistorischer Sicht vorhandenen Schwächen des Buches, wie einer teilweisen Glättung der eigenen Rolle Müllers in den Ereignissen, bleibt der Hoffnung der Herausgeber zuzustimmen, die Neuausgabe möge zu einer Belebung der seit den 1980er-Jahren zurückgegangenen Debatten über die Revolution beitragen. So betont Müller beispielsweise die wichtige Rolle psychologischer und sozialer Brüche in Weltkrieg und Revolution, deren Herausarbeitung eine Aufgabe zukünftiger Geschichtswissenschaft sei. Die von ihm selbst vor der Vernichtung bewahrten Protokolle der Vollversammlungen der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und des Vollzugsrates sind seit einigen Jahren in einer ausführlichen Edition leicht zugänglich. Sie bieten ein reichhaltiges Material für eine erst in den Anfängen stehende mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Forschung zur Revolution von 1918/19.7
Anmerkungen:
1 Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1955. Im Original: „Entstehung der Deutschen Republik 1871-1918“ und „Geschichte der Deutschen Republik“, veröffentlicht 1928 und 1935.
2 Diese Gegenüberstellung bildete das Forschungsparadigma in der westdeutschen Geschichtsschreibung zur Revolution bis in die 1950er-Jahre hinein. Vgl. dazu am prononciertesten Karl Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 3 (1955), S. 1-19.
3 Ralf Hoffrogge, Richard Müller – Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.
4 Für einen Überblick über die westdeutsche Forschungsdebatte siehe Eberhard Kolb, Revolutionsbilder: 1918/19 im zeitgenössischen Bewusstsein und in der historischen Forschung, Heidelberg 1993. Insbesondere Peter von Oertzen stützt sich intensiv auf Müllers Werk. Ders., Betriebsräte in der Novemberrevolution, 2. Auflage, Berlin/Bonn 1976.
5 Sebastian Haffner, Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19, Hamburg 1969. Kritisiert wurde insbesondere seine These des „Verrats“ der SPD-Führung an der eigentlich sozialdemokratischen Revolution. Hierbei stützt sich Haffner in weiten Teilen, allerdings unausgesprochen, auch auf die Thesen Richard Müllers.
6 Kolb, Revolutionsbilder, S. 30.
7 Gerhard Engel, Bärbel Holz, Ingo Materna (Hrsg.), Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlung und des Vollzugsrats, 3 Bde., Berlin 1993-2002.