Zweifelsohne weisen die Forschungen zu lokalen Dynamiken der nationalsozialistischen Verfolgung von als „Zigeuner“ stigmatisierten Menschen nach wie vor große Lücken auf. Erst seit den 1990er-Jahren sind einige regionale Studien, etwa zu Nordwestdeutschland oder Hessen, auch in gesammelter Form vorgelegt worden. Eine solche systematische Zusammenstellung für eine ausgewählte Region haben nun Karola Fings und Ulrich Friedrich Opfermann mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband über die „Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933–1945“ geleistet. Entstanden ist ein gelungener Band, der dem selbst gesetzten Anspruch, die regionale Spurensuche zum Thema umfassend abzubilden und dabei für verschiedene AdressatInnen ein Nachschlagewerk zur Verfügung zu stellen, vollauf gerecht wird.
Eingangs zeichnen die HerausgeberInnen in drei Beiträgen das frühneuzeitliche Gefüge zwischen staatlichem Zugriff auf die Minderheit und pragmatischer Kooperation in der Bevölkerung, die zunehmende Systematisierung von Kriminalisierung und Ausgrenzung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (beide: Opfermann) sowie die Radikalisierung der Verfolgungspraxen in den 1930er- und 1940er-Jahren (Fings) nach. Dabei gelingt es, die Relevanz regionalhistorischer Fragestellungen zu untermauern und zugleich gegen vorschnelle Kontinuitätsthesen anzuschreiben. Das „Kernstück“ (S. 12) des Bandes bilden 20 ortsbezogene Beiträge. Alphabetisch nach Ortsnamen geordnet, orientieren sie sich in ihrem Aufbau an den Schlagworten aus dem Untertitel: „Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung“. In einem ersten Schritt skizzieren die AutorInnen die Quellenlage und bisherige Forschungen zur lokalen Verfolgungsgeschichte. Der Hauptteil der Artikel widmet sich jeweils der nationalsozialistischen Verfolgung von als „Zigeuner“ stigmatisierten Menschen vor Ort, wobei es zugleich gelingt, ausgehend von den verfügbaren Quellen ausgewählte Schwerpunkte zu setzen. Abschließend befassen sich die Beiträge schlaglichtartig mit dem Gedenken und Erinnern an den Orten der Verfolgung. Der „Nachgeschichte“ widmet sich auch Ulrich Opfermann im dritten Teil des Bandes in seinen Beiträgen über die westfälische Heimat-Schriftstellerin Josefa Drenens und deren anhaltende Popularität weit über die NS-Zeit hinaus sowie über den „Berleburger Zigeunerprozess“, in dessen Kontext 1948/49 sieben Beamte der lokalen Verwaltung und Kriminalpolizei für ihre Beteiligung an den 1943 durchgeführten Deportationen von als „Zigeuner“ klassifizierten Menschen nach Auschwitz-Birkenau belangt worden sind.
In ihrem Nebeneinander verdeutlichen die ortsbezogenen Beiträge nicht nur die zunehmende Radikalisierung der nationalsozialistischen „Zigeunerpolitik“, sondern zudem die teils erstaunlichen Entscheidungsspielräume lokaler Akteure. So bringen die Beiträge etwa zutage, dass die Anweisungen des sogenannten Auschwitz-Erlasses Himmlers zur Deportation aller „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige[r] Angehörige[n] zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ nach Birkenau vielerorts rigoroser umgesetzt wurden, als die diesbezüglichen Durchführungsbestimmungen des Reichskriminalhauptamtes es vorsahen. Marc von Lüpke-Schwarz verdeutlicht dies auf besonders anschauliche Weise für die Stadt Duisburg: Wie bereits im Vorfeld der Deportationen von 1940 seien es auch 1943 die Beamten der örtlichen Kriminalpolizei gewesen, die nicht selten nach persönlichem Ermessen und aufgrund ihrer „Auffassung[en] sozialkonformen Verhaltens“ (S. 121) darüber entschieden, wer als „Zigeuner“ identifiziert und infolge deportiert wurde (ähnlich und ebenso mit dem Schwerpunkt auf dem Agieren der Kriminalpolizei: Thomas Roth und Astrid Mehmel zu Bonn). Stefan Goch spricht in seinem Beitrag über Gelsenkirchen von einem „arbeitsteiligen Prozess“ (S. 162), in dem die permanente Kontrolle und Ausgrenzung organisiert worden sei. Neben den Polizeibeamten forcierten ebenso örtliche Behörden, die Stadtverwaltung sowie die lokale Presse die sich radikalisierende Verfolgung. Dass hierbei auch Denunziationen aus der Bevölkerung bzw. persönliche Bereicherungsabsichten eine wesentliche Rolle spielen konnten, hebt Ulrich Opfermann in seinen Beiträgen über Greven bzw. Siegerland und Wittgenstein hervor. Damit bekräftigen die AutorInnen Befunde, zu denen auch andere regionalgeschichtliche Studien gekommen sind: Lokal wurde oftmals auf eine zentrale Regelung des „Zigeunerproblems“ gedrungen; entsprechende Erlasse („Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ 1937/38, „Festsetzungserlass“ 1939 und „Auschwitz-Erlass“ 1942) wurden offensichtlich dankbar als Möglichkeit zur Abschiebung unliebsamer Personen gesehen und genutzt.1 So bestätigt sich letztlich Fings einleitende Feststellung, dass es „kein geradliniger Weg [war], der seit 1933 in den Völkermord führte, aber ein Weg, an dem viele Einzelne in den Städten und Gemeinden beteiligt waren“ (S. 70). Durchaus überraschend und eindrücklich sind die in den Beiträgen immer wieder aufgezeigten Lücken der Verfolgung. Dass die Kehrseite der lokalen Entscheidungsspielräume eben auch darin bestehen konnte, dass aufgrund persönlicher Motive zuvor als „Zigeuner“ eingestufte Personen von den Deportationen ausgenommen wurden, verdeutlichen etwa Ulrich Opfermann in seinem Beitrag über Siegerland und Wittgenstein sowie Michael Okroy in seinen Ausführungen zu Wuppertal.
Die vergleichende Perspektive des Sammelbandes führt das besondere Potential regionalhistorischer Studien vor Augen: Sie vermögen nicht nur, nach der konkreten Umsetzung und Wirkkraft zentraler Direktiven vor Ort zu fragen, sondern zudem, einen differenzierten Blick auf lokale Entscheidungsträger und auf die individuellen Verfolgungsgeschichten zu richten und ortstypische Besonderheiten der Verfolgung herauszuarbeiten (zum Beispiel Karola Fings zur Rolle des Spionage-Vorwurfs in Aachen und Umland aufgrund der Grenznähe). Zugleich lässt sich die Verwobenheit der Verfolgung in der Region verdeutlichen. Für diese Verwobenheit stehen die Stadt Köln als Sitz der zuständigen Kriminalpolizeileitstelle und zentraler Deportationsort (zu Köln: Karola Fings) ebenso wie die seit 1937 mehrfach durchgeführten „allgemeinen Fahndungstage“ in der Provinz Westfalen (etwa: Stefan Mühlhofer zu Dortmund) oder die regional eingesetzten „fliegenden Einsatzgruppen“ der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ (S. 215).
Hinsichtlich der Erforschung und Erinnerung der nationalsozialistischen Verfolgung von als „Zigeuner“ Stigmatisierten zeichnen die Beiträge ein sehr einheitliches Bild: Entsprechende Initiativen von Seiten der Betroffenen, Schulprojekte oder ein bürgerschaftliches Engagement für Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen und Gedenktafeln fielen zumeist erst seit den späten 1990er-Jahren auf fruchtbaren Boden. Neben den personellen Kontinuitäten vor allem in den Reihen der Kriminalpolizei und bei gutachterlichen Tätigkeiten sowie der anhaltenden Stigmatisierung als „Asoziale“ (etwa: Christoph Laue zu Herford) war es insbesondere die andauernde örtliche Konzentration, nicht selten auf dem Gelände vormaliger „Zigeunerlager“, die die Nachkriegssituation von als „Zigeuner“ klassifizierten Menschen in Stadt und Land des späteren Nordrhein-Westfalen prägte. Auch hier profitiert der Band von seiner vergleichenden Perspektive, obgleich die Lektüre zwangsläufig mit zunehmenden Redundanzen verbunden ist.
In ihrer analytischen Tiefe erweisen sich die Beiträge als auffallend heterogen. Verschenkt wurde teils, lokale Besonderheiten klar zu benennen (etwa: Helen Quandt über Düsseldorf), und insbesondere, lokale Dynamiken der Internierung von als „Zigeuner“ Stigmatisierten in Konzentrationslagern zu thematisieren (Kirsten John-Stucke über das KZ Niederhagen / Wewelsburg).2 Etwas eklektisch wirkt der dritte Teil des Sammelbandes zu „nach 1945“, hier insbesondere die Ausführungen zu Josefa Drenens und deren Rezeption bis in die Gegenwart.
Nichtsdestotrotz eignet sich der Band vor allem aufgrund des immer wiederkehrenden Prinzips der knapp gehaltenen ortsbezogenen Beiträge samt deren Blick auf bereits Erforschtes und auf die jeweilige Quellenlage als Nachschlagewerk. Auch das Glossar im Anhang, das unter anderem Einträge zu Begrifflichkeiten wie „Antiziganismus“, „Genozid“ oder „Zigeuner“ beinhaltet, sowie die Chronologie, die über den regionalen Fokus Rheinland und Westfalen hinausweist, machen ihn in diesem Sinne einsetzbar. Eine Besonderheit des Bandes ist sicherlich die reichhaltige Bebilderung, unter anderem mit zahlreichen Quellen. Diese Abbildungen vermitteln eine Vorstellung von der nationalsozialistischen Organisation und Bürokratisierung der Verfolgung, machen den Wissenserwerb von HistorikerInnen transparent und stellen zugleich Materialien für die Bildungsarbeit zur Verfügung. So ist es insbesondere jener meist sehr sensible Umgang mit Quellen- und Bildmaterial (siehe vor allem Armin Breidenbachs und Viola Schwanickes Ausführungen zu den Remscheider Deportationsfotografien von 1943, S. 226ff.), worin meines Erachtens das pädagogische Potential des Bandes zu sehen ist. In der Praxis muss sich letztlich dessen konkrete Einsetzbarkeit zeigen. Wünschenswert für die Forschung indes ist es, andere Regionen auf ähnlich vergleichende Weise in den Blick zu nehmen und für Nordrhein-Westfalen eine Geschichte der „fortgesetzte[n] Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft nach 1945 und [der] verweigerte[n] Anerkennung und Entschädigung“ (S. 15) zu schreiben.
Anmerkungen:
1 Hans Hesse / Jens Schreiber, Vom Schlachthof nach Auschwitz. Die NS-Verfolgung der Sinti und Roma aus Bremen, Bremerhaven und Nordwestdeutschland, Marburg 1999.
2 Anregungen hierzu in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 14: Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus, Bremen 2012.