H. Graml: Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik

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Titel
Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik. Hybris und Augenmaß im Auswärtigen Amt


Autor(en)
Graml, Hermann
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Michalka, Heidelberg

Hermann Graml, langjähriger Wissenschaftler am Institut für Zeitgeschichte und Chefredakteur der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, legte bereits 1969 eine bis heute gültige Arbeit über „Europa zwischen den Kriegen“ vor. 2001 folgte eine Untersuchung der Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher. Seine 1990 erschienene Arbeit über das in den Zweiten Weltkrieg eskalierende Krisenjahr 1939 wurde 2009 ergänzt von seinem Essay zur NS-Außenpolitik: „Hitler und England“. Nun folgt von einem der wohl besten Kenner der internationalen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein biographischer Essay über „Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik“.1

Der aus traditionsreicher Familie mit berühmten Soldaten und Politikern stammende Neffe des wilhelminischen Außenministers und Reichskanzlers gleichen Namens wurde 1895 in Potsdam geboren. Nach Jurastudium, Promotion und weitläufigen Reisen trat er 1911 in den Diplomatischen Dienst ein. Bereits 1912 wurde er ein von Albrecht Graf von Bernstorff sehr geschätzter Mitarbeiter an der deutschen Botschaft in Washington. Nach einer Verwundung im Ersten Weltkrieg wurde von Bülow 1916 erst nach Konstantinopel, dann nach Athen abgeordnet. Ende 1917/Anfang 1918 gehörte er zur deutschen Delegation in Brest-Litowsk, 1919 zur Friedensdelegation in Versailles. Mit deren Leiter, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, ergaben sich enge, fast freundschaftliche Beziehungen. Als dieser aus Protest gegen den Versailler Vertrag 1919 als Außenminister zurücktrat, verließ von Bülow ebenfalls den Diplomatischen Dienst.

Fortan nutzte von Bülow seine berufliche Auszeit, um sich gleich mehrfach zu engagieren: Als Politiker trat er der DDP bei, als Journalistist schrieb er vor allem für die „Die deutsche Nation“, mit dessen Redakteur Theodor Heuss ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Als Autor schließlich verfasste er Denkschriften und publizierte eine kritische Zwischenbilanz des Völkerbundes.2 Als nach Einstellung der deutschen Reparationszahlungen (und nicht nur infolge rückständiger Telegraphenmastenlieferungen) Anfang 1923 französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, kam die Stunde von Bülows. Das in dieser Krisensituation im Auswärtigen Amt eingerichtete Völkerbundsreferat wurde nun von seinem schärfsten Kritiker geleitet.

Von Bülow verknüpfte den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund mit der Forderung nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat und an die verbriefte Befreiung von jeglicher Beteiligung an möglichen Sanktionen gegen die Sowjetunion, mit der Deutschland seit dem Rapallo-Vertrag von 1922 verbunden war. Tatsächlich wurden diese Bedingungen akzeptiert, als das Deutsche Reich den Schritt am 8. September 1926 vollzog. Überhaupt verfolgte von Bülow die „Erfüllungspolitik“ Gustav Stresemanns und seines Staatssekretärs Carl von Schubert mit starken Vorbehalten. Er verstand sich regelrecht als „Wachhund“, der aufpasste, dass Deutschland nicht zu stark vom Weg der Revisionen abirrte. So konnte er auch die Locarno-Politik nicht gutheißen. Seiner Ansicht nach war sie mit zu vielen Zugeständnissen verbunden und daher zu teuer erkauft worden. Mit seinem Revisionskurs stieß von Bülow offensichtlich nicht nur in der Wilhelmstraße auf große Zustimmung. 1928 wurde er Leiter der politischen Abteilung. Ein Jahr nach dem Tod Stresemanns (1929) folgte er dem als Botschafter nach Rom „abgeschobenen“ Carl von Schubert als Staatssekretär im Auswärtigen Amt – eine beispiellose Kariere!

Unter Außenminister Julius Curtius endete die Ära der von Stresemann geprägten Verständigungspolitik. Heinrich Brünings Präsidialkabinett rückte die Politik eindeutig nach rechts: Abschüttelung der Reparationen, Aufrüstung und selbst territoriale Revisionen waren jetzt angesagt. Und bemerkenswerter Weise war es der neue Staatssekretär, der jetzt eine Fortsetzung der Stresemannschen Politik betrieb. Von Bülow hatte erkannt, dass nicht gegen, sondern nur mit Unterstützung Frankreichs eine erfolgreiche deutsche Revisionspolitik möglich war. Doch war er in seiner Haltung nicht konsequent. Er torpedierte die Idee einer europäischen Union des französischen Außenministers Aristide Briand, unterstütze dagegen den Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion als Vorstufe des angestrebten Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich. Das Vorhaben wurde vor allem von Frankreich unterbunden und führte zu einem politischen Desaster. Curtius musste seinen Abschied nehmen.

Bei der Reparations- und Rüstungsfrage kam es trotz peinlicher Entgleisungen Franz von Papens, der 1932 Brüning als Kanzler ablöste, zu nennenswerten Erfolgen. Die „Abkehr von der bisher vertreten Revisionspolitik und die Einleitung einer Eroberungspolitik mit weitgesteckten Zielen im Osten“ (S. 114) zeichneten sich ab. Dabei konnten den Westmächten gegenüber die enormen Wahlerfolge der NSDAP und die Radikalisierung der Innenpolitik ausgespielt werden. Die Machtübergabe an Hitler hatte im Auswärtigen Amt unmittelbar keine nennenswerten Folgen. Konstantin von Neurath, Außenminister seit 1930, galt als Garant traditioneller Politik. Lediglich von Bülows Freund Friedrich von Prittwitz, Botschafter in Washington, zog die Konsequenz und nahm seinen Abschied.

In seiner Rede vor der hohen Generalität forderte Hitler am 3. Februar 1933 die Eroberung von Lebensraum und dessen „rücksichtslose Germanisierung“. Hierdurch alarmiert, reagierte von Bülow mit einem Memorandum, in dem er eindringlich für einen mehrjährigen „Gottesfrieden“ und für die Fortsetzung schrittweiser Revision plädierte. Graml kritisiert vehement die Interpretation der Herausgeber und Autoren von „Das Amt und die Vergangenheit“, die Bülows Kurs als „Stufenplan“ vom Weimarer Revisionismus zur imperialistischen Außenpolitik Hitlers verstehen, als „unhaltbar“ (S. 120).3 Selbst die von der Forschung weitgehend akzeptierte Diagnose einer „Teilidentität“ außenpolitische Zielvorstellungen konservativer und nationalsozialistischer Politiker will Graml für von Bülow nicht gelten lassen.

Bald sahen sich die professionellen Diplomaten von „Amateuren“ konfrontiert, die am Auswärtigen Amt vorbei Außenpolitik betrieben. Indem wichtige Positionen von der NSDAP besetzt wurden, setzte die „Gleichschaltung“ des AA ein. Besonders Joachim von Ribbentrop, der spätere Außenminister, habe sich zum „gefährlichsten Konkurrenten“ (S. 129) entwickelt, der des „Führers“ Argwohn der traditionellen Diplomatie gegenüber nutzte und mit dem deutsch-britischen Flottenabkommen von 1935 einen spektakulären Erfolg erzielen konnte. Die zunehmende Ohnmacht der Wilhelmstraße zeigte sich besonders in der Werbung um Japan. Mit dem Antikominternpakt von 1936 wurde schließlich eine deutliche Kursänderung vorgenommen.

Die Minderheitenpolitik, speziell in der Tschechoslowakei, aber auch das Verhältnis zu Österreich entzogen sich immer mehr der Kontrolle des Auswärtigen Amtes. Im Herbst 1933 veranlasste Hitler den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und den Rückzug von der Genfer Abrüstungskonferenz, ohne dass das Auswärtige Amt vorher zu Rate gezogen oder gar informiert wurde. Nicht zuletzt der Nichtangriffspakt mit Polen vom 26. Januar 1934 und die Beendigung der Kooperation mit der Sowjetunion, wovon besonders auch von Bülow immer wieder abgeraten hatte, dokumentierten den neuen außenpolitischen Kurs und waren deutliche Symptome dafür, dass das Auswärtige Amt längst „vom Motor zum Getriebe“ (Peter Krüger) herabgestuft worden war. Bülow erkannte diesen Funktionsverlust klar, ebenso die besondere „Qualität“ der Politik Hitlers, so dass er sich über die Zukunft Deutschlands keinerlei Illusionen hingab.

Warum blieb Bernhard von Bülow dennoch im Amt? Graml beantwortet diese Frage der Fragen damit, dass der Staatssekretär im Mai 1933 ein Abschiedsgesuch geschrieben und formal korrekt an Außenminister von Neurath mit der Bitte um Weiterleitung an Reichskanzler und Reichspräsident gerichtet habe. Seine Begründung zielte freilich nicht auf die Bedrohung der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaats ab, sondern auf die Radikalisierung der Außenpolitik, „nicht zuletzt mit kritischen Bemerkungen zur Russland- und Polenpolitik Hitlers“ (S. 177). Allerdings habe von Bülow sein Abschiedsgesuch nicht abgeschickt. Ursprünglich habe es eine Vereinbarung mit Roland Köster und Leopold von Hoesch, den damaligen Botschaftern in Paris und London, gegeben, gemeinsam aus dem Amt zu scheiden, um ein deutliches Zeichen gegen die neuen Machthaber zu setzen. Da beide Kollegen sich einem solchen kollektiven Protest dann doch nicht anschließen wollten, entschloss sich von Bülow zu bleiben, um „Schlimmeres zu vermeiden“, vor allem auch, um Ribbentrop als möglichen Staatssekretär abzuwehren. Da von Bülow bereits 1936 starb, übrigens im gleichen Alter von 51 Jahren wie Stresemann und Walther Rathenau, wird es wohl eine schlüssige Antwort über die Entwicklung und den Ausgang von Bülows Loyalitätskonflikten nicht geben.

Für Graml ist Bernhard von Bülow ein mehrfach Gescheiterter, der das Fiasko von Versailles, die Politik Stresemanns, das Desaster der deutsch-österreichischen Zollunion und die eigene Unvereinbarkeit mit der Politik Hitlers hinzunehmen hatte. Mit seiner überzeugenden Untersuchung setzt der Autor einen Kontrapunkt zum umstrittenen Werk „Das Amt“. Er zeigt am Beispiel seines Protagonisten, dass eine Interpretation, die vom Ende des Dritten Reiches ausgeht und gleichsam mit „Auschwitz-Augen“ schaut, wenig Differenzierungen zulässt, zu einseitigen Ergebnissen führt und letztlich ahistorisch ist. Seine ausgewogene Lebensgeschichte eines Mannes, der den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik wesentlich mitgestaltete und schließlich an der Schwelle zur nationalsozialistischen Politik über seine künftige Rolle zu entscheiden hatte, sollte zu vergleichbaren Studien anregen. Hier ist insbesondere von Bülows Vorgänger als Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Carl von Schubert, zu nennen, dessen Biographie der im vergangenen Jahr verstorbene Peter Krüger wohl leider nicht mehr hat beenden können.

Anmerkungen:
1 Hermann Graml, Europa zwischen den Kriegen, München 1969; ders., Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939, München 1990; ders., Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher, München 2001; ders., Hitler und England. Ein Essay zur nationalsozialistischen Außenpolitik 1920 bis 1940, München 2009.
2 Bernhard von Bülow, Der Versailler Völkerbund. Eine vorläufige Bilanz, Berlin u.a. 1923.
3 Vgl. Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.

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