Seine Fotografien sind bekannter als er selbst. Denn kaum eine Veröffentlichung zum jüdischen Leben in Deutschland nach 1933 oder zur Verfolgung der deutschen Juden kommt ohne ein Foto von Abraham Pisarek aus. Er selbst blieb hingegen zumeist im Hintergrund.1 Nun liegt ein deutsch-englischer Katalog mit einer Auswahl seiner Bilder des jüdischen Lebens in Berlin von 1933 bis 1941 und einer ausführlichen Einleitung des Herausgebers Joachim Schlör vor.
Abraham Pisarek, 1901 nahe Łodź geboren, kam 1919 nach Deutschland, arbeitete in verschiedenen Berufen, auch kurz in Berlin. 1924 wanderte er nach Palästina aus, kehrte aber schon vier Jahre später malariageschwächt wieder nach Berlin zurück. Pisarek heiratete Berta Isigkeit, eine Nicht-Jüdin, besuchte Abendkurse für Fotografie an der Kunst- und Gewerbeschule und begann, für Presseagenturen wie Mauritius, für die „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ (AIZ) und als Bühnenfotograf zu arbeiten. Über die KPD lernte er John Heartfield kennen, mit dem er zusammenarbeitete, und die Freundschaft zum Maler Max Liebermann brachte Pisarek in Kontakt mit etlichen Künstlern der Weimarer Republik, die er porträtierte. Mit seiner Familie – 1929 wurde Sohn Georg, 1931 Tochter Ruth geboren – lebte er in der „Weißen Stadt“ in Berlin-Reinickendorf, einem im Baustil der Neuen Sachlichkeit entworfenen Wohnviertel.
1933 erhielt Pisarek Berufsverbot; er durfte nur noch für die jüdische Presse und jüdische Organisationen tätig sein. Einen Ausreiseantrag in die USA lehnte das Generalkonsulat in Berlin im Dezember 1933 ab. Die Familie musste ihre Wohnung in Reinickendorf aufgeben und zog in die Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. 1941 wurde Pisarek endgültig das Fotografieren verboten, die Kamera beschlagnahmt, er selbst zur Zwangsarbeit bei Zeiss-Ikon verpflichtet.
Aus diesen sieben Jahren stammen die gut 100 Fotografien, die der Band versammelt. Pisarek versuchte, das jüdische Leben in Berlin, den Willen zur Selbstbehauptung trotz zunehmender, einschnürender Verfolgung zu dokumentieren. Das Spektrum seiner Aufnahmen umfasst Synagogen und Schulen, soziale Einrichtungen, die Winter- und Altenhilfe, Kulturveranstaltungen wie Sportwettkämpfe und die Vorbereitung auf die Emigration nach Palästina. Die Fotografien zeigen Menschen bei ihrer Arbeit, im Gebet und in jener Zeit, die man in einem normalen Leben „Freizeit“ nennen würde. Es sind beeindruckende, eindrückliche Aufnahmen, berührende wie mitreißende Bilder von Menschen, denen manchmal – wie beim Lesen in der Bibliothek oder beim Sportfest der Jüdischen Gemeinde – die Drohung der Verfolgung für kurze Zeit genommen zu sein scheint. Menschen stehen im Mittelpunkt von Pisareks Fotografien, meistens gestellt, aber stets inmitten ihrer Arbeits- und Lebensumgebung.
Zu sehen sind jedoch auch Bilder von der Verfolgung, von beschmierten Synagogenwänden, zerschlagenen Fensterscheiben, Schildern an Ortseingängen, dass „Juden unerwünscht“ seien. Ein Schild über der Tür zum Behandlungszimmer im Jüdischen Krankenhaus weist darauf hin, dass ab dem 1. Oktober 1938 „nur jüdische Patienten behandelt“ werden. Mitunter gelangen Pisarek ganz seltene, heimliche Aufnahmen wie die von der Beerdigung Max Liebermanns im Februar 1935 oder die Fotografie einer Gruppe von Jüdinnen und Juden aus Brandenburg/Havel 1942, die zum Abtransport versammelt war.
Gern würde man mehr über diese Menschen erfahren, von denen nur wenige mit Namen in den Bildunterschriften erscheinen, auch von den Institutionen wie der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in der Artilleriestraße, dem Altersheim in der Exerzierstraße, dem Jüdischen Krankenhaus, dem Waisenhaus in der Schönhauser Allee, den landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten in Altkarbe und dem Gut Winkel bei Spreenhagen. Ein Glossar zu den namentlich genannten Personen und den Institutionen hätte dem Band gut getan.
Und auch zu den Fotografien selbst, zu ihrer Überlieferung erhalten die Leser nur wenige Informationen, da sich der einleitende Essay auf die Geschichte der Juden in Berlin seit dem 13. Jahrhundert und auf Pisareks Biographie konzentriert. Existieren originale Bildunterschriften zu den Fotos? Hat Pisarek seine Fotografien nach denselben Themen geordnet, nach denen sie der Band gliedert? Aufgrund welcher Kriterien fand die Auswahl statt, welche Fotografien im Band abgedruckt werden sollten? Wie viele Fotos hat Abraham Pisarek hinterlassen? Wie konnten die Negative bzw. Abzüge die Zeit der Verfolgung überdauern? Wie gelang es den Kindern, insbesondere Dr. Ruth Gross, das fotografische Erbe des Vaters zu bewahren?
Pisarek wurde im Februar 1943 in der so genannten „Fabrik-Aktion“ durch die Gestapo verhaftet – wie tausende anderer jüdischer Zwangsarbeiter in Berlin, die bis dahin durch ihre Ehe mit nicht-jüdischen Partnern geschützt waren. Auseinandersetzungen innerhalb der NS-Führung und nicht zuletzt der mutige, öffentliche Protest der Ehefrauen in der Rosenstraße, darunter auch Berta Pisarek mit Georg und Ruth, führten zur Freilassung der meisten Verhafteten mehrere Tage später. 1944 brannte jedoch die Wohnung der Pisareks in der Oranienburger Straße aus.
Etwa 1.700 Jüdinnen und Juden überlebten die NS-Herrschaft in Berlin, darunter Abraham Pisarek und seine Familie. Pisarek wurde Bildreporter im Ostteil der Stadt. Von ihm stammt das berühmte Foto vom Handschlag zwischen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED 1946. Ende der 1950er-Jahre arbeitete er vornehmlich wieder als Theaterfotograf. 1983 starb er in West-Berlin.
Heute werden Pisareks Fotos in mehreren Archiven aufbewahrt. Die Deutsche Fotothek der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden hat 1982 etwa 100.000 Negative aus der Zeit nach 1945 übernommen; davon sind annähernd 70.000 Aufnahmen als Digitalisate auf der Website anzusehen.2 In der Stiftung Stadtmuseum Berlin, im Archiv der Akademie der Künste Berlin, in der Bildagentur akg-images sowie im Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz existieren weitere Aufnahmen von Pisarek.3
Der großformatige Band ist ein erster wertvoller Schritt, um diese Fotografien zum jüdischen Leben in Berlin sowie zur Verfolgung zwischen 1933 und 1945 als eigenen Bildbestand zu dokumentieren und Abraham Pisarek einen angemessenen Platz als wichtigem Fotografen der deutschen Zeitgeschichte zuzuweisen. Es bleibt zu wünschen, dass sich auch die Geschichtswissenschaft dieser Bildquellen genauer annimmt.
Anmerkungen:
1 Einen Film „Grenzgänger. Der Fotograf Abraham Pisarek“ (1991), basierend auf den Erinnerungen seiner Kinder Ruth und Georg, drehte Walter Brun. Inge Unikower verfasste eine literarisierte Lebensgeschichte: Suche nach dem gelobten Land. Die fragwürdigen Abenteuer des kleinen Gerschon, Berlin 1978. 2010 erschien ein französischer Band: Les Juifs de Berlin 1933–1941, photographié par Abraham Pisarek. Textes de Dominique Bourel, entretien avec Ruth Gross, Paris 2010.
2 Vgl. <http://www.deutschefotothek.de> (23.05.2013).
3 Auf der Website des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz (<http://bpkgate.picturemaxx.com/webgate_cms/>, 23.05.2013) sind über 400 Fotos von Abraham Pisarek als Digitalisate einsehbar.