J-D. Steinert: Deportation und Zwangsarbeit

Titel
Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939–1945


Autor(en)
Steinert, Johannes-Dieter
Erschienen
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
29,95 EUR
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jakob Benecke, Lehrstuhl für Pädagogik, Universität Augsburg

Das Verhältnis der NS-Führung zur Jugend war in vielfacher Hinsicht von funktionalen Motiven geprägt. Diese Grundstruktur kennzeichnete die NS-Jugendpolitik übergreifend, wenngleich das nationalsozialistische Regime hieraus gegenüber den einzelnen, nach rassistischen Bewertungskriterien differenzierten Gruppen Heranwachsender höchst unterschiedliche konkrete Anforderungen und Maßnahmen ableitete. In seinen ausführlichen Beschreibungen der Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen sowie den hierzu erfolgten Deportationen legt Steinert eindrücklich und bedrückend dar, wie sehr durch eine negative ideologische Bewertung der betreffenden Bevölkerung deren Funktionalisierung exorbitant gesteigert und etwaige moralische Bedenken von vorneherein oder im Verlauf der Radikalisierung der NS-Politik nach 1938/39 gemindert bis ausgeschaltet wurden.

Steinert befasst sich mit einem Ausschnitt des Gesamtkomplexes der Zwangsarbeit unter der NS-Herrschaft: dem Schicksal der heranwachsenden Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion. Als Zwangsarbeit definiert Steinert „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“ (S. 24). Der Vorteil dieses weitgefassten Begriffs ist es, dass mit ihm ausgesprochen heterogene Bereiche systematisch erfasst werden können: Deportation und Vertreibung als Voraussetzung von Zwangsarbeit; Zwangsarbeit in unterschiedlichen räumlichen (vom Privathaushalt bis zum Konzentrationslager), regionalen, herrschaftspolitischen und militärischen Kontexten sowie deren Synergien untereinander; die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung der Kinderzwangsarbeit durch die Betroffenen.

Auf Grundlage dieser vielschichtigen Forschungsperspektive geht Steinert im ersten Teil der Frage nach den „Zusammenhängen zwischen Germanisierungspolitik, Deportation und Zwangsarbeit“ (S. 14) anhand einer Untersuchung der folgenden sechs Themenfelder nach: 1. Verdrängung und Vertreibung der polnischen Bevölkerung in und aus den annektierten bzw. besetzten Gebieten, 2. Deportation polnischer und sowjetischer Hausgehilfinnen nach Deutschland, 3. Aufbau von Jugendorganisationen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion (Weißruthenisches Jugendwerk), 4. Deportationen aus dem sogenannten Partisanengebiet, 5. Durch die Wehrmacht initiierte Vertreibungen der Zivilbevölkerung beim Rückzug aus Osteuropa sowie 6. Deportation von Kindern als Geiseln und Zwangsarbeiter im Zuge der sogenannten HEU-Aktion. Der zweite Teil befasst sich dann mit den Erfahrungen der Heranwachsenden während der eigentlichen Zwangsarbeit. Dieser Frage wird zunächst hinsichtlich der in Deutschland geleisteten Zwangsarbeit nachgegangen. Darauf folgt eine Darstellung der Erlebnisse von Kinderzwangsarbeiter/innen in den besetzten Gebieten. Bei letzterer stehen, nach einer Einführung zur Arbeitspflicht als formaler Basis der Zwangsarbeit, vor allem die unterschiedlichen, für die Wehrmacht geleisteten Frondienste und die Erfahrungen der Kinderzwangsarbeiter/innen in einigen ausgewählten Lagerkontexten im Zentrum des Interesses.

Die Analysen Steinerts fußen auf einer ausgiebigen, Jahre andauernden Forschungstätigkeit zum Thema, was den Ausführungen durchweg anzumerken ist. Die herangezogenen Quellen sind in vielfacher Hinsicht im erkenntnisfördernden Sinne heterogen: Akten und Erfahrungsberichte Betroffener aus insgesamt 16 Archiven (Deutschland, Polen, Ukraine, Weißrussland, USA, Israel, England) und 4 größeren Interviewsammlungen (Polen, Deutschland, England), Autobiographien Betroffener, eine große Zahl relevanter wissenschaftlicher Publikationen internationaler Provenienz zum Gesamtbereich der NS-Ostpolitik sowie eine Reihe von Regionalstudien aus den besetzten Gebieten und den Orten in Deutschland, an denen Kinderzwangsarbeit geleistet wurde. Gerade letztere sind es, zusammen mit den Erfahrungsberichten Betroffener, die zusammengenommen ein individuell und regional differenziertes Bild der Kinderzwangsarbeit entstehen lassen, anhand dessen aber zugleich auch übergreifende Erlebensstrukturen deutlich werden: der Beginn der Zwangsarbeit als biographischer Bruch; massive, direkt oder indirekt erfahrene Gewalt; vorrangig bei weiblichen Kinderzwangsarbeiterinnen das Erleben einer starken emotionalen Belastung, durch wiederholte beschämende Erlebnisse im Verlauf der Deportation und der Frondienste, insbesondere durch Erfahrungen der Missachtung der eigenen körperlichen Intimsphäre; chronische Überforderung der Heranwachsenden durch die ihnen zugewiesene Arbeit; dauernder, in der Erinnerung „mit Abstand am deutlichsten“ (S. 159) gebliebener Hunger, durch eine konsequente Unterversorgung an allen Einsatzorten; die Unterbringung unter, vor allem in den Lagern, nicht selten menschenunwürdigen Bedingungen; körperlicher Verfall und Krankheit als Konsequenz dieser Lebensbedingungen und damit die zunehmende Gefahr einer Deportation in eines der Vernichtungslager; Diffamierungen und Angriffe durch die deutsche Bevölkerung, häufig durch Heranwachsende, allen voran der Hitler-Jugend, aber auch seltene, in den Erinnerungen als stärkende Ausnahmen beschriebene, positive Erlebnisse der Unterstützung; dauerhaft belastende Angstzustände, Depressionen und das Gefühl der Schutzlosigkeit sowie starkes Heimweh und Trennungsschmerz; drakonische Sanktionen bei attestiertem abweichenden Verhalten.

Als zentrale Perspektive wurde von Steinert die Erfahrungsebene der betroffenen Kinderzwangsarbeiter/innen gewählt. Unterschieden und aufeinander aufbauend dargestellt werden hinsichtlich der Erlebnisse die Erfahrungen von Deportation – allein hiervon waren schätzungsweise 1,5 Millionen Heranwachsende betroffen – und Zwangsarbeit in Deutschland sowie in Polen und der Sowjetunion. Die Erfahrungsperspektive ist eingebettet in ausführliche Ablaufbeschreibungen der einzelnen Maßnahmen sowie der jeweiligen Intentionen, welche das NS-Regime bzw. seine einzelnen Vertreter und Organisationen mit diesen verbanden. Zudem schließen sich hieran fortlaufend erhellende Analysen struktureller Zusammenhänge an, insbesondere hinsichtlich der „Interdependenzen zwischen Kinderzwangsarbeit und Germanisierungspolitik“ sowie der „Partizipation militärischer und ziviler Stellen bei Zwangsarbeit und Deportation“ (S. 12). Das beträchtliche Ausmaß beider Aspekte im Rahmen der damaligen herrschaftspolitischen Planung und Umsetzung von Kinderzwangsarbeit kann Steinert deutlich belegen. Den letztgenannten Punkt betreffend liefert seine Publikation auf diesem Wege weitere eindeutige Gegenbelege gegen die Pauschalbehauptung einer „sauberen“ Wehrmacht. Diese setzte Zwangsarbeiter, darunter immer wieder Frauen und Kinder, schließlich sogar als „lebende Minensuchgeräte“ (S. 220) und an den vorderen Frontlinien als „lebendes Schild“ (S. 223) ein. Die Darstellung Steinerts vermittelt die Erkenntnis, dass sich auch im Bereich der Kinderzwangsarbeit durchweg jene Zunahme an gewaltsamer Radikalisierung und Skrupellosigkeit als charakteristisch für die NS-Politik erwies, wie sie für die gesamte NS-Herrschaft während ihrer letzten Phase kennzeichnend war. Neben den oben genannten Tätigkeiten zeigte sich diese Radikalisierung in der ständigen Herabsetzung bzw. zunehmenden Missachtung der Altersgrenzen, nach denen Heranwachsende deportiert und zur Zwangsarbeit herangezogen werden sollten sowie anhand der steigenden Gewaltanwendung bei den Versuchen, weitere Zwangsarbeiter/innen zu rekrutieren.

Die verwendete Darstellungskombination von historischen Fakten und subjektiven Erlebensberichten Betroffener ist ein besonderes Qualitätsmerkmal der Studie. Durch die aufeinander bezogene Zusammenschau beider Perspektiven entstehen mitunter sehr dichte Beschreibungen des Sachverhaltes. Gerade im ersten Teil der Darstellung wäre allerdings durchaus eine (noch) weitergehende Berücksichtigung von Zeitzeugenerfahrungen wünschenswert und vertretbar gewesen. Die Darstellungsweise der dichten Beschreibung birgt in sich allerdings auch den Hauptkritikpunkt an der vorliegenden Publikation: Es mangelt bei Steinert stellenweise an einer weiter differenzierenden Untergliederung der einzelnen Kapitel. Dies führt wiederholt dazu, dass es in den einzelnen Verlaufsschilderungen zu thematischen Sprüngen kommt, was den Nachvollzug stellenweise spürbar erschwert.

Für die Darstellung der Kinderzwangsarbeit in Deutschland, Polen und der Sowjetunion insgesamt kann die Arbeit Steinerts durchaus Pionierstatus beanspruchen. Dem Rezensenten ist keine vergleichbar gehaltvolle Zusammenschau der Erfahrungsebene (inklusive der hier angedeuteten, damit zusammenhängenden Aspekte) von Zwangsarbeit im Kindes- und Jugendalter in den genannten Einflussgebieten der NS-Herrschaft bekannt. Dies gilt in besonderem Maße für den zweiten Teil der hier besprochenen Studie. Zum Polen-Jugendverwahrlager in Litzmannstadt liefert die Untersuchung zudem eine hilfreiche Zusammenfassung der dortigen Abläufe und der dahinterstehenden herrschaftspolitischen Intentionen, die die (wenigen) bisher verfügbaren Publikationen zu den anderen beiden Jugendkonzentrationslagern erkenntnisfördernd ergänzt. 1

Zu erwähnen ist schließlich zudem, dass sich in der Studie Steinerts eine ganze Reihe charakteristischer Merkmale der NS-Herrschaft durch ihre Verbindung zur Thematik der Kinderzwangsarbeit exemplarisch verdeutlicht finden: die Loyalitätssicherung weiter Kreise der deutschen und „volksdeutschen“ Bevölkerung durch deren ausgiebige Beteiligung an der Ausbeutung der weiblichen und männlichen Kinderzwangsarbeiter; die Produktion sich selbst erfüllender Prophezeiungen durch die Bevölkerungspolitik der NS-Herrschaft gegenüber „fremdvölkischen“ Bevölkerungsgruppen; die rassistisch-hierarchisierende und entsprechend instrumentalisierte Bildungspolitik in den besetzten Gebieten.

Insgesamt gesehen liefert die Studie mindestens auf drei Ebenen einen deutlichen Erkenntnisgewinn: 1. Gehaltvolle Zusammenschau der Aspekte von Kinderzwangsarbeit im NS-Herrschaftskontext, die in Teilen Pionierstatus einnimmt; 2. in dieser Form bisher vermisste Übersichten zu Einzelbereichen, wie etwa dem Polen-Jugendverwahrlager; 3. forschungsanregende Benennung bestehender Desiderate aus dem Themenkomplex der Kinderzwangsarbeit. Gegenüber diesem Ertrag fallen die genannten Kritikpunkte nur wenig ins Gewicht.

Anmerkung:
1 Vgl. einführend Martin Guse, Die Jugendschutzlager Moringen und Uckermark, in: Wolfgang Benz / Barbara Diestel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2009, S. 100–114; vgl. zudem Manuela Neugebauer, Der Weg in das Jugendschutzlager Moringen. Eine entwicklungsgeschichtliche Analyse nationalsozialistischer Jugendpolitik, Mönchengladbach 1997; Katja Limbächer / Maike Merten / Bettina Pfefferle (Hrsg.), Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, Münster 2000; Martin Guse, „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“. Eine Ausstellung zu den Jugend-Konzentrationslagern Moringen und Uckermark, 1940–1945, 5. Aufl., Moringen 2004.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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