Das Thema Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Frage nach dessen angemessener Repräsentation in den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Erinnerungen der deutschen Nachkriegsgesellschaften sind auch 70 Jahre nach Kriegsende in hohem Maße umstritten. Es handelt sich um einen Themenkomplex, der in den vergangenen Jahren wie kaum ein anderer Bereich der auf den Zweiten Weltkrieg und die Kriegsfolgen bezogenen Erinnerungskultur zu Auseinandersetzungen innerhalb Deutschlands, aber auch zu Konflikten auf transnationaler Ebene geführt hat. Besonders im Kontext des im Aufbau befindlichen Dokumentationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (besser bekannt unter dem Namen „Zentrum gegen Vertreibungen“) kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, zuletzt im Zusammenhang mit der Neubesetzung der Direktorenstelle – einer Entscheidung, die mehrere Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats zum Rücktritt veranlasste.
Gerade von wissenschaftlicher Seite sind im Rahmen solcher emotional hoch aufgeladener, von zahlreichen Mythen und Missverständnissen durchzogener Themenkomplexe sachliche und nüchterne Interventionen gefragt, und in dieser Hinsicht kann Stephan Scholz’ Studie als das Buch der Stunde gelten. Zwar ist im Zuge und als Ergebnis der Diskussion um das Verhältnis von Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft, von Gedächtnis und Geschichte, der Historiker in seiner Rolle als „Wahrer eines kritischen Gedächtnisses“ (Norbert Frei) und als Dekonstrukteur von Geschichtsmythen etwas aus der Mode gekommen. Zu sehr ist die Pose des wissenschaftlichen, historische „Wahrheit“ verkündenden Aufklärers in Verruf geraten. Und zu sehr gilt heute als selbstverständlich, dass es sich bei Erinnerungen um Konstruktionen handelt, die häufig weniger über das erinnerte Ereignis selbst aussagen als vielmehr über die gegenwärtigen Interessen derjenigen, die diese Vergangenheitsbezüge entwerfen und in den öffentlichen Raum einspeisen. Scholz führt jedoch vor, dass beides möglich ist – eine differenzierte, sensible Dekonstruktion von immer wieder erzählten Geschichten über Flucht und Vertreibung sowie deren erinnernde Anerkennung in der Nachkriegszeit, ohne dabei die Frage nach Inhalten, Akteuren, Medien, Arenen, Phasen und Konjunkturen des Erinnerns aus dem Blick zu verlieren. Und hierin liegt nur eine der Stärken dieser überzeugenden Studie, deren Grundlage die von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommene Habilitationsschrift des Autors bildet.
Scholz liefert zunächst einmal Zahlen, und insbesondere eine Zahl hinterlässt sogleich tiefen Eindruck. Nicht weniger als 1.584 an Flucht und Vertreibung erinnernde Denkmäler kann der Autor in Deutschland nachweisen. Vom vielbeschworenen Tabu des Themas kann im westlichen Teil Deutschlands und später im wiedervereinigten Deutschland also keine Rede sein – in der DDR dagegen war die Errichtung solcher an Flucht und Vertreibung erinnernder Zeichen bekanntlich nicht möglich. Auch die häufig geäußerte These, dass Vertriebenendenkmäler ausschließlich eine Erscheinung der frühen Bundesrepublik gewesen seien, ist nicht haltbar, denn Scholz zeigt, dass deren Errichtung in allen Phasen der westdeutschen und wiedervereinigten Nachkriegsgeschichte belegbar ist, wenn auch mit deutlichen Konjunkturen in den 1950er- und erneut in den 1980er-Jahren.
Mit diesem Hinweis auf wenige Aspekte der ausgesprochen hilfreichen numerischen Bestandsaufnahme ist freilich erst unzureichend beschrieben, um was es dem Autor geht. Das Zahlenmaterial bildet nur die Grundlage für das aus vier Kapiteln bestehende Herzstück der Studie, in dem Scholz nach den Funktionen des Erinnerns an den und durch die Vertriebenendenkmäler fragt. Vier Funktionen werden auf diese Weise identifiziert, und jeder Funktion ist ein ausführliches Kapitel gewidmet. In einer facettenreichen Analyse stellt Scholz die Vertriebenendenkmäler als Orte der Trauer um die Toten, der Anerkennung und Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, der Deutschlandpolitik sowie der historischen Sinnbildung und Geschichtsdeutung vor. Gerade die letztgenannte Funktion lässt deutlich werden, dass die 1990er-Jahre eine tiefgreifende Zäsur markierten. Lag der Schwerpunkt der Geschichtsdeutung bis zu dieser Phase auf revisionistischen Forderungen, gerieten solche Ziele nun zusehends in den Hintergrund und wurden durch die Erinnerung an das Leiden der Vertriebenen während der Flucht und Vertreibung sowie durch eine dekontextualisierte Sicht auf die Vertriebenen als Opfer ersetzt. Diese Verlagerung von der politischen Mobilisierung hin zur Memorialisierung bildet zugleich den Hintergrund für die veränderte Denkmalpolitik des Bundes der Vertriebenen, der im Frühjahr 1999 erstmals sein Projekt eines nationalen Zentrums gegen Vertreibungen der Öffentlichkeit vorstellte.
Einer der interessantesten Befunde der Studie ist, dass Erinnerungen am und durch das Medium Denkmal nicht nur ermöglicht, sondern im Gegenteil ebenso verhindert werden können. So waren Vertriebenendenkmäler in ihrer Funktion als Orte der Trauer dem Gedenken an die Toten gewidmet – den Toten auf den Friedhöfen der verlassenen Heimat, den während der Flucht und Vertreibung Verstorbenen und den im Krieg gefallenen Soldaten. An die verlassene Heimat selbst jedoch wurde nur selten im Modus der Trauer erinnert, weil damit eine zumindest implizite Anerkennung eines endgültigen Verlustes verbunden gewesen wäre. „Etwaige Insinuierungen“, so Scholz, „wurden von den Initiatoren der Denkmäler sogar vehement abgewiesen.“ (S. 125) Der Autor deutet diese Praxis der Leugnung des endgültigen Verlustes auch als ein gezieltes Offenhalten einer Wunde, was die Trauerarbeit der Betroffenen behindern und verzögern konnte. Die Klage über ein angeblich gesellschaftlich induziertes Trauerverbot, die aus den Reihen der Vertriebenenverbände seit den 1990er-Jahren häufig zu vernehmen ist und mit der insbesondere die Notwendigkeit eines zentralen, an Flucht und Vertreibung erinnernden Gedenkorts argumentativ untermauert wird, muss also relativiert werden. Es bezog sich nicht auf den gesamten, hinsichtlich einer erinnernden Trauer relevanten Komplex, sondern auf die Heimat als Verlustobjekt, und es war darüber hinaus nicht von außen induziert, sondern von den Verbänden selbst errichtet worden. Trauer stand in einem engen Zusammenhang mit einem politisierten Erinnerungsdiskurs, der bis zur Anerkennung des endgültigen Verlustes der Heimat auch durch die Vertriebenenverbände am Beginn der 1990er-Jahre auf die Aufrechterhaltung territorialer Ansprüche ausgerichtet war. Insofern waren die Vertriebenendenkmäler selbst spannungsgeladene Mikrokosmen konkurrierender Interessen und Erinnerungsfunktionen, was durch einseitige Schuldzuweisungen an das gesellschaftliche Umfeld freilich verschleiert wird.
Am Ende dieser empfehlenswerten, facettenreichen und differenzierten Studie zu den Erinnerungen an Flucht und Vertreibung im Medium des Denkmals wagt Stephan Scholz einen Ausblick, indem er nach der Zukunft dieser Form der Erinnerung fragt. Dabei lässt insbesondere eine neuere Entwicklung aufhorchen, die den Vertriebenendenkmälern einen interessanten Weg weisen könnte. Seit Beginn der 1990er-Jahre war es Vertriebenen in bereits über 100 Projekten möglich, in Kooperation mit Kommunen in Polen, Tschechien und Südosteuropa Denkmäler an den Orten ihrer Herkunft zu errichten. Diese neu entstandene, dezentrale Erinnerungslandschaft könnte in Zukunft auch dazu einladen, das transnationale Gespräch über ein weiterhin schwieriges Thema an vielen europäischen Orten zu suchen und zu finden. So könnten die neuen, in einem transnationalen Rahmen situierten Vertriebenendenkmäler tatsächlich einen Beitrag zur grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Verständigung über die Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert leisten – eine Entwicklung, die vor 1989/90 wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte.