H. Kaelble: Der historische Vergleich

Titel
Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Kaelble, Hartmut
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: Campus Verlag
Anzahl Seiten
179 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Ameskamp

Was passiert, wenn man Birnen mit Äpfeln vergleicht? Das Ergebnis sei ein Obstsalat, bekommen Schüler zu hören, wenn sie lernen verschiedene Längenmaße und Gewichte umzurechnen. - Hartmut Kaelble, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, warnt ebenso vor dem Vergleich des Unvergleichbaren. Der Untertitel des schmalen Bandes täuscht zunächst: Weder führt er in die moderne Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte ein, noch erschöpft er sich im kleinen Einmaleins der vergleichenden Methode. Kaelble liefert auf 179 Seiten sowohl einen Forschungsüberblick zur Praxis der europäischen - wenn auch meist deutschen - Sozialgeschichte als auch eine komplexe systematische Anleitung zum historischen Gesellschaftsvergleich, die jedem als Handbuch ans Herz gelegt sei, der sich an das Abenteuer eines historischen Vergleichs wagt, nicht nur dem Leser, "der sich grundlegend informieren will."(11)

Um Enttäuschungen vorzubeugen: Grundlegend neue historische Erkenntnisse hat Kaelble hier nicht zu bieten. Mit vielen Beobachtungen und Unterscheidungen ist der Leser aus dem drei Jahre zuvor erschienenen Sammelband von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka vertraut 1, denen auch die erste Fußnote gewidmet ist. Ebenso wie seine Kollegen möchte Kaelble dem Vergleich "als Methode der Geschichtswissenschaft eine breitere Anerkennung verschaffen."(11) Das Buch endet dann auch mit einem Plädoyer für mehr vergleichende Studien und einem optimistischen Blick in die Zukunft: "Der Vergleich ist heute nicht mehr das Aschenputtel der Geschichte, schon gar nicht der Sozialgeschichte, unserem Fallbeispiel."(151)

Kaelbles Einschätzung beruht auf einer Auszählung sozialhistorischer Vergleichsarbeiten in Europa und den USA, die zwischen 1970 und 1995 erschienen sind. Mit etwas gutem Willen läßt sich Kaelbles Befund als "beginnender Aufschwung" interpretieren, der allerdings durch eine restriktive Förderungspolitik ebenso gefährdet wird wie durch den enormen Aufwand an zeitlichen und finanziellen Ressourcen, den historische Vergleiche verlangen.

Liest man das Buch gegen den Strich von hinten nach vorne, lassen sich schon an der sehr hilfreichen Bibliographie die Grundzüge der komparativen Forschungslandschaft ablesen. Die überwältigende Prominenz des klassischen Dreigestirns der Modernisierungsgewinner England, Frankreich und Deutschland ist nicht zu übersehen. Vereinzelt tauchen skandinavische oder osteuropäische Fälle auf. Für deutsche Historiker scheint jedoch weiterhin die eigene Heimat bevorzugtes Forschungsobjekt und absoluter Vergleichsmaßstab zu sein. Wenn der Blick über den europäischen Tellerrand fällt, weist er nach Westen über den Atlantik. Amerikanisch-europäische Vergleiche dürften sich aber für historische Zivilisationsvergleiche, die Kaelble als Zukunftsdesiderat besonders am Herzen liegen, weniger eignen, da etwa gegenüber dem asiatischen oder afrikanischen Kulturraum die inneren Unterschiede der Großgesellschaften der "Western Civilization" weitgehend verblassen. Beispiele aus der Kulturgeschichte sucht man vergeblich in Kaelbles letztem, viel zu kurzem Kapitel, das die bisherigen Leistungen der vergleichenden empirischen Geschichtswissenschaft beurteilt.

Gewinnbringender als die abschließende statistische Auswertung und ein oberflächlicher Exkurs zum Modethema Europa unter der Rubrik "Zivilisationsvergleich" fällt der Hauptteil dieser Einführung aus. Kaelble knüpft an die geistige Tradition Marc Blochs, Theodor Schieders und Charles Tillys an, um eine systematische Typologie des historischen Vergleichs zu entwickeln. Unter einem historischen Vergleich versteht er dabei "die explizite und systematische Gegenüberstellung von zwei oder mehreren historischen Gesellschaften, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Prozesse der Annäherungen und Auseinanderentwicklungen zu erforschen."(12) Zunächst schildert Kaelble die Debatte um zwei grundsätzlich verschiedene Vergleichsansätze, den generalisierenden (oder universalisierenden) und den individualisierenden (oder typisierenden) Vergleich. Die Vielschichtigkeit komparativer Fragestellungen wird noch deutlicher im nächsten Kapitel, das unterschiedliche Intentionen des Vergleichs einander gegenüberstellt. Sie reichen von analytisch, aufklärend und verstehend bis zum Identitäts- und dem erwähnten Zivilisationsvergleich.

Anschließend stellt Kaelble die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von historischen Vergleichen und den komparativen Methoden der Nachbardisziplinen Soziologie und Ethnologie. Aus dem Mund eines eingefleischten Sozialhistorikers überrascht der Ruf nach einem intensiven Dialog der Geschichtswissenschaft mit anderen Sozialwissenschaften nicht. Er ermuntert zum Sprung über die Fächergrenzen. Trotz aller Gemeinsamkeiten identifiziert Kaelble sechs Besonderheiten des historischen Gesellschaftsvergleichs: Die Perspektive eines Historikers ist erstens räumlich begrenzt und zweitens zeitlich spezialisiert. Historiker kämpfen drittens mit dem Spannungsverhältnis zwischen ihrem gegenwärtigem Vokabular und den Begriffen vergangener Epochen. Außerdem möchten sie Generalisten sein. Fünftens zeichnet die Geschichtswissenschaft ein kritischer Umgang mit ihren Quellen aus, in der Regel "bruchstückhaften Hinterlassenschaften von Toten".(107) Schließlich bemühen sich Historiker, einen spezifischen Fall in den breiteren historischen Kontext einzuordnen. Dabei sei Denken in komplexen Zusammenhängen gefragt, denn unter Historikern gelte monokausal als Schimpfwort.

Am nützlichsten für die anvisierte Zielgruppe erweist sich Kaelbles praktischer Leitfaden unter der Überschrift "Wie bearbeitet man einen historischen Vergleich?" Eine detaillierte Betriebsanleitung soll Anfänger ebenso wie Fortgeschrittene vor zeit- und energieraubenden Irrwegen bewahren. Der richtige Weg führt hier von der Einarbeitung in den Forschungsstand über die Entwicklung der Fragestellung, die Auswahl der Vergleichsfälle und die Erschließung des Kontextes zur Auswahl geeigneter Quellen. Der letzte Schritt ist der delikateste. Mit ihm steht und fällt die Aussagekraft einer vergleichenden Arbeit, weil ungleichartige Quellen oft die Ergebnisse verzerren. Daher sollte man bei der Analyse klären, "ob nicht die Unterschiede, die man zwischen den verglichenen Gesellschaften gefunden hat, etwas mit den unterschiedlichen Quellen zu tun haben."(150) Die Vergleichbarkeit des Quellenmaterials ist das einzige spezifische Problem der Komparatisten. Alle anderen Empfehlungen Kaelbles kann sich jeder Historiker zu Herzen nehmen: mit klaren Hypothesen arbeiten, das Erklärungsangebot von Theorien nutzen und die Methode auf die leitende Fragestellung abstimmen. An dieser Stelle hätte der Autor einige Zeilen über den Schlüsselbegriff des "tertium comparationis" verlieren können. Das gemeinsame Dritte bildet letztlich den Dreh- und Angelpunkt eines jeden Vergleichs und sollte daher sorgfältig überdacht werden.

Was leistet ein historischer Vergleich, das eine einzelne Studie nicht erfüllen kann? Kaelble gibt auf diese Frage eine ebenso befriedigende wie (selbst)kritische Antwort. Der Vergleich schärft das analytische Instrumentarium des historischen Verstehens und Erklärens. Die meisten vergleichenden Studien arbeiten eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen den Vergleichsobjekten heraus. Unter den Stärken der vergleichenden Methode verbucht Kaelble die präzisere Erfassung historischer Ursachen, die Erschließung der Vielfalt und Widersprüchlichkeit historischer Prozesse und die Erleichterung des Zugangs zu fremden Gesellschaften, der wiederum Distanz zum eigenen Lebenskontext schafft und damit auch die Erforschung von historischen Identitäten erleichtert. Außerdem gewährleistet der Vergleich eine Art freiwilliger Selbstkontrolle der Geschichtswissenschaft, da er dazu beiträgt, irrtümliche Erklärungen zu revidieren. Trotz aller Vorzüge weist Kaelble auch auf die Probleme des historischen Vergleichs hin, der nicht überall als Wunderwaffe eingesetzt werden kann. Er gesteht freimütig ein: "Viele historische Fragestellungen kommen ohne ihn aus."(10)

Mit Blick auf die gängige Forschungspraxis stellt Kaelble fest, daß die vergleichende Ursachenanalyse in der Regel, wenn auch nicht zwingend, quantitativ ausfällt. Überwiegend werden Gesellschaften derselben Epoche verglichen. Die meisten Vergleiche orientieren sich immer noch an geographischen Einheiten, seien sie regional, national oder global. Kaelble bemängelt diese einseitige Wahl von Epochen und Ländern, aber seine Kritik an der Forschungspraxis greift zu kurz und klingt leicht widersprüchlich. Einerseits ruft er zum Abschied von der reinen Nationalgeschichte auf; andererseits hält er am Gesellschaftsvergleich fest. Akzeptiert die Gesellschaftsgeschichte nicht ein und dieselben geographischen Einheiten wie die nationale Geschichtsschreibung? Vielleicht ist es wieder einmal Zeit, Geschichte neu zu erzählen und die gängigen analytischen Kategorien zu überdenken, was den Abschied von Nation, Klasse oder Geschlecht bedeuten könnte. Des weiteren ließe sich auch die synchrone Ausrichtung der vorherrschenden historischen Vergleichsperspektive erweitern. Wenn die Aufgabe eines Historikers wirklich darin besteht, sozialen Wandel zu erklären, müßte jede Geschichtsschreibung zum diachronen Vergleich werden - und Kaelbles Einführung damit um so nützlicher.

Anmerkung:
1 Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hgg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main und New York: Campus Verlag 1996.

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