Hans Büchenbacher (1887–1977) muss man nicht kennen: einen jüdischen Anthroposophen, der die NS-Zeit erlitt – und überlebte. Aber an seinem Leben lässt sich exemplarisch zeigen, mit welchen Ambivalenzen zu rechnen ist, wenn man eine verfolgte Gemeinschaft, die Anthroposophische Gesellschaft, auf ihr Verhältnis von Nähe und Distanz zum Nationalsozialismus untersucht. Diesen Spannungen ist Ansgar Martins, studentischer Mitarbeiter an der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie der Universität Frankfurt am Main, in seiner lesenswerten Edition der Biographie Büchenbachers nachgegangen, deren 70-seitigen Text er mit weiteren 350 Seiten Kommentar kontextualisiert hat.
Büchenbacher, der sein Leben als Funktionär der Anthroposophischen Gesellschaft widmete, war vor dem Ersten Weltkrieg zur Theosophischen (seit 1912: Anthroposophischen) Gesellschaft gestoßen und in den Vorstand der deutschen Landesgesellschaft aufgerückt. Er gehörte damit einer Vereinigung an, die sich den Vorstellungen Rudolf Steiners (1861–1925) verpflichtet fühlte, der gegen den damaligen Materialismus die Erkenntnis „höherer“, „geistiger“ Welten propagiert und die Umsetzung seiner Weltanschauung in Praxisfeldern (Waldorfschulen, Biodynamische Landwirtschaft, anthroposophische Medizin) auf den Weg gebracht hatte.
Die Anthroposophische Gesellschaft kam 1933 unter Druck und wurde 1935 verboten. Ihre Selbstwahrnehmung als Opfer hat über Jahrzehnte die Historiographie von Anthroposophen über ihre Rolle in der NS-Zeit geprägt – und an dem erlittenen Unrecht ist nicht zu rütteln. Doch beim Blick auf die Details werden die Eindeutigkeiten unscharf, wie Büchenbachers Lebensweg zeigt. Er war in der NS-Terminologie „Halbjude“, und hier beginnen die Probleme: nicht nur, weil er damit für Nationalsozialisten als untragbar galt, sondern auch, weil viele Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft antijüdische oder antisemitische Vorstellungen der Nationalsozialisten teilten und die jüdischen Mitglieder aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausdrängten. Es hat den Anschein, dass diese Gruppe keine Minderheit im Vorstand war, sondern eine unter Anthroposophen weitverbreitete Position repräsentierte, wenn sie nicht gar Mainstream war. Mit solchen Auffassungen konnten sich Anthroposophen von Steiner gedeckt fühlen, hatte dieser doch markante deutschnationale Positionen und in seiner Evolutionsgeschichte des Geistigen antijudaistische Ansichten vertreten.
Martins nimmt diese Praxis der verfolgten Verfolger zum Ausgangspunkt, dem zwiespältigen Verhältnis von Anthroposophie und Nationalsozialismus nachzugehen. So fanden jüdische Anthroposophen in Dornach (bei Basel), wo sich das Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft befand, Zuflucht, aber zugleich wurden sie dort aufgrund antisemitischer Vorurteile ausgegrenzt. Beispielsweise trafen sie auf den Vorstandsvorsitzenden Albert Steffen, einen Schweizer, der deutschtümelnd, antijüdisch und zugleich hitlerkritisch eingestellt war. Oder auf vergleichbare Auffassungen bei der Deutschbaltin Marie Steiner, geborene von Sivers, Rudolf Steiners Witwe, die die Verwalterin seines Nachlasses und eine der mächtigsten Personen in der Anthroposophischen Gesellschaft war. Die Biographie dieser Frau, das wird bei Martins sehr schnell klar, ist eine der großen Forschungslücken für die Anthroposophiegeschichte im Allgemeinen und für die Zeit des Nationalsozialismus im Besonderen: deutschnational und antijüdisch eingestellt, war sie von der „Mission“ des „Deutschtums“ beseelt – und setzte sich zugleich für eine jüdische Familie ein. Sie war „pronazistisch“ gesinnt, wie Büchenbacher solche Menschen nannte, und am Ende wohl doch desillusioniert von der nationalsozialistischen Praxis. Steffen und Marie Steiner bildeten mit weiteren Mitgliedern des Dornacher Vorstandes (Günther Wachsmuth und im Umfeld Roman Boos) eine tonangebende Gruppe, die den Nationalsozialismus hoffnungsfroh begrüßt hatte. In diesem weltanschaulichen Horizont, den tiefsitzende Autoritätsstrukturen stützten, wurden Büchenbacher, aber auch andere jüdische Mitglieder preisgegeben und zum Rücktritt von Ämtern oder zum Austritt gedrängt, in der Hoffnung, die Anthroposophische Gesellschaft zu retten.
Dass all dies nur die Spitze eines Eisbergs war, kann man ebenfalls bei Martins nachlesen. Da gab es Anthroposophen, die Mitglieder der SS waren wie Sigmund Rascher, der gute Beziehungen in höchste NS-Kreise besaß und als Mittelsmann fungierte, wenn Anthroposophen Probleme mit dem NS-Staat hatten. Weitere Interferenzen finden sich in den Praxisfeldern, wo man, wie in der Dresdener Waldorfschule, diese durch eine Kooperation mit dem Nationalsozialismus zu retten versuchte. Das wichtigste Segment NS-naher Positionen war vermutlich die Landwirtschaft, die, von NS-Größen protegiert, bis zum Kriegsende blühte (von Vorzeigegütern in Bad Saarow über einen Heilkräutergarten in Dachau bis zur biodynamischen Bewirtschaftung auf Hitlers Obersalzberg) und über die wir jetzt die magistrale Studie von Peter Staudenmaier besitzen.1 Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht hier nicht um eine „Leyenda negra“ der Anthroposophie, aber um einen Blick auf die osmotischen Dimensionen von Distanz und Nähe, die dazu führten, dass die verfolgten Anthroposophen ihre eigenen Opfer produzierten. Darüber sollte man nicht leichtfertig den Stab brechen, wohl aber über die Verdrängung dieser Geschichte, die in weiten Teilen der Anthroposophie bis heute andauert.
Per saldo erweist sich Martins als exzellenter Kenner der sehr verstreut publizierten Materialien zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Dies zeigt sich insbesondere in den Anhängen, deren Materialien aber nicht allzu streng sortiert sind (Informationen etwa zu Marie Steiner sucht man an verschiedensten Stellen – aber hier hilft das sorgfältig erstellte Register). Im Umgang mit Büchenbachers Erinnerungen, die nachträglich überarbeitet wurden, erweist sich Martins den quellentechnischen Problemen gewachsen, hingegen sind weiterreichende Kontexte und methodische Fragen der NS-Forschung nur implizit präsent. Dieses Buch ist neben Staudenmaiers Arbeit eine gut recherchierte, unverzichtbare Grundlage für die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Anthroposophie und Nationalsozialismus.
Martins’ Studie gehört in einen weiteren historiographischen Kontext zum Verhalten von verfolgten kleinen religiösen Gruppen im Nationalsozialismus (wie den Zeugen Jehovas oder der Neuapostolischen Kirche). Dabei ist in den letzten Jahren klargeworden, und Martins bestätigt diese Ergebnisse, dass die schlussendlich erlittene Opferrolle nicht ausschloss, über kurze oder auch längere Zeit die Hoffnung zu hegen, mit dem Nationalsozialismus kooperieren und so überleben zu können – eine mögliche inhaltliche Nähe nicht ausgeschlossen. Dass dabei die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwammen, ist in politischer Perspektive vielleicht die bitterste Einsicht dieser Forschungen. Sie nimmt den Verbrechen des Nationalsozialismus nichts von ihrer Monstrosität, dokumentiert aber, wie schwer es auch für Opfer war, unschuldig dieser Geschichte zu entfliehen.
Zugleich ist Martins’ Buch ein Indikator für die sich seit einigen Jahren in einigen Segmenten der Anthroposophie vollziehende Öffnung gegenüber ihrer Geschichte. Dieses Buch erschien im Verlag Info3, in dem diskussionsoffene Anthroposophen seit Jahren bereit sind, auch auf die dunklen Seiten der anthroposophischen Geschichte zu schauen. Es dokumentiert darüber hinaus die Bereitschaft der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, ihr Archiv zugänglich zu machen – Martins hat beispielsweise den Nachlass Marie Steiners einsehen können. Dies hat entscheidend mit David Marc Hoffmann zu tun, ehemals Leiter des renommierten Baseler Schwabe-Verlages, der seit Oktober 2012 die Verantwortung für das Archiv trägt. Diese Öffnung ist, wenn es dabei bleibt, ein tiefer, fast epochaler Einschnitt für die Anthroposophische Gesellschaft und für die historische Forschung zu nichthegemonialen Gruppen um 1900, birgt doch dieses Archiv höchst spannende Quellenbestände für die theosophische und anthroposophische Bewegung sowie für die alternativreligiösen und lebensreformerischen Strömungen im frühen 20. Jahrhundert.
Anmerkung:
1 Peter Staudenmaier, Between Occultism and Nazism. Anthroposophy and the Politics of Race in the Fascist Era, Leiden 2014.