Institutionengeschichten weisen sowohl in der bildungs- als auch in der psychiatriehistorischen Forschung eine lange Tradition auf. Beide hier besprochenen Bücher schließen, auf unterschiedliche Weise, an diese Tradition an. Kevin Heinigers Studie, welche die Entwicklung der 1893 gegründeten „Zwangserziehungsanstalt“ im schweizerischen Aarburg über einen Zeitraum von rund 100 Jahren verfolgt, ist insofern eine klassische Institutionengeschichte, als hier eine Institution im Zentrum steht. Heiniger fokussiert ausschließlich auf diese eine Anstalt respektive auf die Lebenswelt, die sich den Insassen innerhalb ihrer Mauern eröffnete. Demgegenüber dient Wolfgang Rose, Petra Fuchs und Thomas Beddies zwar ebenfalls eine Institution, die 1921 gegründete psychiatrische Kinderbeobachtungsstation der Berliner Charité, als Ausgangspunkt für ihre Untersuchung, sie nutzen diese Ausgangslage jedoch nicht nur für eine Beschäftigung mit den Vorgängen innerhalb dieser Station, sondern auch für eine vielschichtige Beschäftigung mit dem Phänomen des „schwierigen“ Kindes und dem Netzwerk der deutschen „Psychopathenfürsorge“.
Heiniger will die Geschichte der Anstalt Aarburg „mit ihren Kontinuitäten und Brüchen“ (S. 21) aufzeigen, wobei der Fokus klar auf den Brüchen, verstanden als „krisenhafte Erscheinungen und Ereignisse“ (ebd.), liegt. Die Krisen, welche die Anstalt im Laufe der Zeit durchlief, und die damit verbundene Kritik – beide Stichworte finden sich prominent im Titel – bestimmen weitgehend die Kapitelstruktur des Buches. Im Anschluss an die Einleitung (1.) und ein Kapitel (2.), das einen kurzen Überblick über die Entstehung verschiedener Anstaltsformen seit dem Mittelalter und die Anfänge der Anstalt Aarburg gibt, richtet Heiniger den Blick auf mehrere krisenhafte Ereignisse, die er in insgesamt fünf Kapiteln (3.–7.) beleuchtet. Bei diesen Ereignissen handelt es sich um Kompetenzkonflikte kurze Zeit nach der Anstaltseröffnung, Misshandlungsvorwürfe und die Suizide zweier Jugendlicher in den Jahren 1914 und 1916, die „Anstaltskritik“ von 1935/36, die ein großes mediales Echo auslöste, und die sogenannte Heimkampagne um 1970. Die Ausführungen zu diesen Krisen machen zusammen den umfangreicheren ersten Teil der Studie aus. Bereits hier ist der Autor bestrebt, „die Lebenswelt der internierten Jugendlichen […] herauszuarbeiten“ (S. 22). Stärker noch als im ersten Teil der Arbeit soll dies im zweiten Teil geschehen, indem „ein für die jugendliche Lebenswelt prägender Aspekt herausgegriffen“ (S. 23) wird: die Sexualität – oder, um das dritte titelgebende Stichwort zu verwenden, die „Sexualnot“ – der männlichen Anstaltszöglinge. Der zweite Teil des Buches besteht aus einem einzigen, längeren Kapitel (8.). Den Abschluss bildet ein Résumé (9.), in dem die „wichtigsten Ergebnisse“ der Studie zusammengefasst werden (S. 385).
Um über den Rahmen einer „einfachen Institutionsgeschichte“ (Buchrückentext) hinauszugehen, wählt der Autor den lebensweltlichen Ansatz. Mit Hilfe dieses Ansatzes will er „das Individuum, den Akteur, in den Mittelpunkt der Untersuchung“ stellen, und auf diese Weise den „Mikrokosmos Erziehungsanstalt“ erschließen (S. 29), wobei er insbesondere auf die Anstaltszöglinge, den Umgang mit ihnen und ihre „Weltsicht“ (S. 25) fokussiert. Es soll also eine Perspektive beleuchtet werden, die bis anhin in der historischen Forschung zum Fürsorgewesen wenig Beachtung gefunden hat. Heiniger gelingt es, Einblicke in den Anstaltsalltag der Jugendlichen zu geben (wobei klar der Aspekt der Sexualität im Vordergrund steht), und er verbindet diese Einblicke mit Ausführungen zu wichtigen kontextuellen Faktoren wie der Sittlichkeitsbewegung oder reformpädagogischen Bestrebungen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie schwierig es ist, die „Sicht von ‚unten‘“ (S. 13) aufzuzeigen. Da nur wenige, für die Frühphase der Erziehungsanstalt gar keine, sogenannte Ego-Dokumente (Tagebucheinträge, persönliche Briefe und Notizen) überliefert sind, dient eine dünne Quellengrundlage als Ausgangspunkt für verallgemeinernde Aussagen. Aus dem Tagebuch eines Jugendlichen und seinem Briefwechsel mit einem Mitzögling rekonstruiert Heiniger Elemente, „die für das Sexualverhalten männlicher jugendlicher Anstaltsinsassen als exemplarisch gelten können“ (S. 305). An anderer Stelle ist im Zusammenhang mit Dokumenten, die lediglich vier Jugendliche betreffen, vom „lebensweltliche[n] Zöglingsnetzwerk“ (S. 159) und „gruppendynamische[n] Prozesse[n]“ (S. 160) die Rede.
Befremdend wirkt aus Sicht der Rezensentin, dass der Autor wiederholt bestrebt ist, seine Untersuchungsgegenstände „aus heutiger Sicht“ zu analysieren. Bezugnehmend auf die Berichte und Gutachten, die nach den beiden Suiziden von 1916 erstellt wurden, kommt Heiniger beispielsweise zum Schluss: „Aus heutiger Sicht weisen die damaligen Symptombeschreibungen darauf hin, dass ein Mensch aufgrund eines möglicherweise noch unbekannten oder falsch interpretierten Leidens das Stigma der Schwererziehbarkeit erhalten konnte.“ (S. 150) Eine solche Einschätzung, die der Autor auf das Urteil eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie abstützt, ist wenig gewinnbringend. Die damalige Psychiatrie arbeitete mit Krankheitskonzepten, die an der Wende zum 20. Jahrhundert anerkannt waren und die es folglich in ihrem zeitgenössischen Kontext zu verstehen und analysieren gilt. Genau dies tun die Autor/innen der zweiten hier besprochenen Studie.
Auch im Buch von Rose, Fuchs und Beddies soll, wie bei Heiniger, der Einbezug eines bestimmten Ansatzes eine neue Perspektive eröffnen. Das Autorenkollektiv greift, wie in der Einleitung (1.) beschrieben, auf „raumwissenschaftliche Theorien“ zurück und versteht die Kinderbeobachtungsstation „als eine topographische Schwelle […], die den Übergang von der Außenwelt in eine psychiatrische Einrichtung und zurück in die ‚normale Umwelt‘ markierte“ (S. 14). Bevor die Station selbst in den Blick genommen wird, widmen sich die Autor/innen zuerst der Entstehung des „Psychopathiekonzepts“ (2.) und den Anfängen der Berliner „Psychopathenfürsorge“ (3.). Bereits in diesen beiden Kapiteln kommen die Stärken des Buches deutlich zum Ausdruck: Die Autor/innen stellen vielfältige Verknüpfungen her und zeigen – oftmals in wenigen, präzisen Sätzen – zentrale Entwicklungslinien auf. Sie stellen hier auch die für die Thematik wichtigen Personen und deren Netzwerk sowie bedeutsame Einrichtungen vor. Von besonderem Interesse sind dabei einerseits die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen und der Psychiater Franz Kramer und andererseits der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen. Von der Leyen und Kramer arbeiteten mehr als zwei Jahrzehnte (1913–1935) zusammen und entwickelten gemeinsam einen eigenständigen theoretischen Ansatz für die wissenschaftliche Erforschung der jugendlichen „psychopathischen Konstitution“ und die Fürsorge für jugendliche „Psychopathen“. Sie waren 1918 maßgeblich an der Gründung des Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen beteiligt. Dieser Verein baute rasch eine Reihe von Einrichtungen auf, zu denen ab 1921 auch die Kinderbeobachtungsstation der Charité zählte, die schließlich zu dem „lokalen Knotenpunkt“ eines Netzwerkes werden sollte, „das sich die wissenschaftliche Erforschung und therapeutische Beeinflussung der psychopatischen Konstitution des Kindes- und Jugendalters zum Ziel gesetzt hatte“ (S. 300). Der Kinderbeobachtungsstation ist das nächste Kapitel (4.) gewidmet, in dem diese Einrichtung „unter soziologischer und unter erziehungswissenschaftlicher Raumperspektive“ analysiert wird (S. 15). Rose, Fuchs und Beddies unterscheiden hier sowohl verschiedene Räume als auch verschiedene Raumpraxen, was stellenweise verwirrend ist. Eingehendere Erläuterungen zum Raum- und Praxisverständnis der Autor/innen und auch explizite Bezüge zu den einleitend skizzierten „raumwissenschaftlichen Theorien“ wären wünschenswert. In den folgenden beiden Kapiteln (5. und 6.) wird die weitere Entwicklung und das Ende des institutionellen Netzwerkes der Psychopathenfürsorge aufgezeigt (das Netzwerk wurde Mitte der 1930er-Jahre durch die nationalsozialistische Diktatur gewaltsam zerstört). Während raumtheoretische Überlegungen hier, wie auch im zweiten und dritten Kapitel, kaum eine Rolle spielen, nehmen die Autor/innen im Epilog für eine abschließende, facettenreiche Analyse explizit nochmals auf diese Perspektive Bezug. Sie schlagen außerdem einen Bogen zum Prolog, der in die – äußerst lesenswert geschriebene – Fallgeschichte von Erich Köbler einführt. Die Geschichte dieses Knaben, der 1926 in die Kinderbeobachtungsstation eingewiesen wurde, zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch und macht das Phänomen des „schwierigen“ Kindes anschaulich.
Beide hier besprochenen Arbeiten lassen sich im Kontext der bildungs- und psychiatriehistorischen Forschung verorten und beide lassen sich im engeren (Heiniger) oder weiteren (Rose, Fuchs und Beddies) Sinn als Institutionengeschichten verstehen. Was die Arbeiten überdies verbindet, ist, dass sie je einen bestimmten theoretischen Ansatz ins Zentrum rücken. Und auch wenn die Verwendung dieser theoretischen Konstrukte die angesprochene Kritik nach sich zieht, eröffnet dieses Vorgehen doch in beiden Fällen einen neuen Blick auf bekannte Themen.