In den vergangenen zehn Jahren hat die historische Sexualitätsforschung einen enormen Schub erfahren, wobei die Jahre um und nach 1968 im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Denn hier hatte eine „Sexuelle Revolution“ stattgefunden, die bis dahin bestehende Tabus hinweggefegt habe – so eine verbreitete Annahme, die der vorliegende Sammelband allerdings in Frage stellt. Die Herausgeber gehen davon aus, dass Sexualität „auch und vor allem ein Modus der Herstellung von Körpern und Subjekten ist“ (S. 9). Den Wandel hin zur Partnerschaftlichkeit und zu einer Ethik des Aushandelns verorten sie „im breiteren Kontext einer Normalisierung der Sexualität und der Umgestaltung von Fremd- und Selbstführungspraktiken speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 15). Gefolgt wird also den Thesen Michel Foucaults, die den interpretativen Rahmen der meisten Einzelaufsätze bilden. Ob nun dessen Theoreme einleuchten mögen oder nicht, die Anhäufung dieser und anderer formelhafter Begriffe wie „Selbstführung“, „Arbeit am Selbst“, „Selbstnormalisierung“, mitunter auch im Plural „Selbste“, natürlich „Subjektivierung“ und „Sexualitätsdispositiv“, wirkt ermüdend. Man kann hoffen, dass sich diese im Terminologischen sichtbare Abhängigkeit irgendwann verlieren wird – insbesondere weil die inhaltlichen Ergebnisse dieses Bandes es in sich haben.
Nicht alle der fünfzehn, durchgängig auf hohem Niveau argumentierenden Beiträge können hier vorgestellt werden, ich beschränke mich auf einige Texte, die mir besonders weiterführend erscheinen. In seinem faktenreichen Überblick zur „langen Geschichte der ‚Sexuellen Revolution’“ in der Bundesrepublik von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren zeigt Franz X. Eder überzeugend, dass von einem abrupten Bruch, wie ihn der Begriff der Revolution annonciert, nicht die Rede sein kann. Eder kritisiert diesen Terminus aber auch, weil er eine Polarität von „Unterdrückung“ und „Befreiung“ suggeriere, die für das Verständnis der tatsächlichen Verhältnisse „wenig hilfreich“ (S. 26) sei. Denn die vermeintliche Befreiung sei mit „neuen Regeln und Zwängen“ (S. 48) verbunden gewesen.
Pascal Eitler beschreibt die Entstehung eines pornographischen Massenmarktes als zentralen Aspekt der sexuellen Revolution. Es werden Spezifika pornografischer Darstellungen seit den 1950er-Jahren herausgearbeitet – vom „Herrenmagazin“ zum „Sexblättchen“, dem der Autor aufgrund seiner Ratgeberrubriken eine „therapeutische“ Funktion zuschreibt. Die explizite bildliche Darstellung in der seit Ende der 1960er-Jahre marktprägenden Hardcore-Pornografie, so Eitlers weiterführender Befund, wurde von Information und Debatte begleitet, so dass Aufklärung und Erregung miteinander verschwammen und sexuelle Lust „als Ausdruck eines sich sukzessive verändernden sexuellen Wissens“ (S. 98) zu verstehen sei, deren Handlungsanweisungen als „Lehrpläne des Lustgewinns“ wirkten.
Elizabeth Heineman analysiert am Beispiel der Verbreitung sexueller Hilfsmittel die Verschiebung von Bedürfnissen und Akzeptanzgrenzen in der Bundesrepublik. „Natürliche“ Artefakte waren erlaubt, „künstliche“, die auf eine „anormale geschlechtliche Reizwirkung“ zielten (so ein Gerichtsurteil), verboten. Ergo: einfache Kondome okay, Noppenkondome no way. Es gab Ausnahmen: Medizinische Gutachten argumentierten mit der therapeutischen Notwendigkeit von Dildos oder Penisringen etwa im Falle einer Kriegsverletzung oder von „Frigidität“ – also dort, wo ein „natürlicher“ Weg zum Orgasmus eingeschränkt war. Erst nach dem Fanny-Hill-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1969, das das Verständnis dessen, was als „unzüchtig“ zu beurteilen sei, als historisch wandelbar interpretierte, wurde das Verkaufsverbot aufgehoben. Dennoch, so rundet Heineman ihre lehrreiche Miniatur ab, fanden Hilfsmittel, nun unter der niedlichen Bezeichnung „Sexspielzeug“, erst in den 1980er-Jahren Einlass in die Nachtschränke.
Effekte der Sexualisierung in konservativen Milieus rekonstruiert Eva-Maria Silies. Weil die Pille die Möglichkeit eines vielgestaltigen Sexuallebens eröffnete, stellte sich für Katholiken nachdrücklicher die Frage, ob sie dem Verhütungsverbot folgen wollten. Das Dogma von der Zeugung als einzig legitimen Zweck der Sexualität in der Ehe geriet ins Wanken, nachdem eine Mehrheit des Zweiten Vatikanischen Konzils sich 1965 für eine Revision ausgesprochen hatte. Als Papst Paul VI. es 1968 mit seiner Enzyklika „Humanae Vitae“ wieder stabilisierte, erhob sich eine Protestwelle deutscher Katholiken, die in einer Resolution des Essener Katholikentags 1968 gipfelte und eine Revision der päpstlichen Haltung forderte. Ganz zu Recht wertet Silies diesen Fall als Indikator dafür, dass die verbreitete Diagnose vom Bedeutungsverlust von Kirche und Religion als moralischen Leitinstanzen zu differenzieren ist. Stärker als zuvor wurden sie zum Ort von Selbstverständigungsdebatten, an denen nun auch Laien beteiligt waren. Nicht Niedergang, sondern „Pluralisierung des Katholizismus“ (S. 174) war das Ergebnis.
Die homosexuelle Szene der 1970er-Jahre, so Benno Gammerls Befund, überwand ein Gefühl der Ausgrenzung, indem sie bestimmte „normalisierende“ Standards entwickelte: allem voran den Ausschluss von Effeminiertheit, Prostitution und Pädophilie aus dem Bereich der „normalen“ Homosexualität. In diesem Zusammenhang betrachtet der Autor die Aufwertung der festen Partnerschaft als Teil einer „normalisierenden Einbindung der Homosexualität“, während Promiskuität zum „Kampfbegriff“ (S. 236) gegen Protagonisten der „sexuellen Revolution“ avancierte. Aufschlussreich ist Gammerls Interpretation der Berichte zweier Zeitzeugen, deren einer das Leben in fester Partnerschaft als neue Normalität empfindet, während der andere die Möglichkeit, offen promiskuitiv zu leben, als ebenso normal betrachtet. „Beide Erzählungen“, so der Autor, „verweisen mithin auf Selbstnormalisierungen in dem Sinn, dass sich die Erzählpersonen konform verhielten, gerade weil sie sich ihren je besonderen Selbstbildern sowie ihrem Wollen und Können entsprechend frei entfalteten.“ (S. 237) Freie Entfaltung gleich Konformismus gleich Normalisierung? Hier werden die analytischen Grenzen des Begriffs sichtbar. Was nichts daran ändert, dass Gammerls Einsicht in die Ambivalenzen des homosexuellen Aufbruchs ebenso spannend ist wie sein Schluss sympathisch: Der Forschung sollte daran gelegen sein, „Befreiungsnarrativ und Normalisierungserzählung auf intelligente Art miteinander zu verknüpfen, anstatt einfach ersteres durch letzteres zu ersetzen“ (S. 240).
Zu den besonders erhellenden Texten gehört Jens Elberfelds Abriss zum westdeutschen Diskurs über kindliche Sexualität zwischen 1960 und 1990. Elberfeld liefert einen ebenso luziden wie nüchternen und urteilssicheren Durchgang zu diesem Thema, das in jüngster Zeit einmal mehr die Gemüter erhitzt hat. Im Hinblick auf Kinderläden und Kommunen lässt er keinen Zweifel, dass es bei deren oft skandalisierten Erziehungspraktiken eben nicht darum ging, pädophile Absichten Erwachsener zu bedienen. Vielmehr sollte Kindern zur Entdeckung ihrer Sexualität verholfen werden, um sie zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten werden zu lassen. Dass unter dem Stichwort des „sexuellen Missbrauchs“ dann seit den 1980er-Jahren das Sexualverhalten erneut mit dem Repertoire von Verbot und Strafe gesteuert werden sollte, gehört zu den vielen Grenzen, an die das Ideal der Liberalisierung stieß. Im Unterschied zu „1968“ wurde kindliche Sexualität nicht mehr als „Befreiung von jeglichen Einschränkungen konzipiert, sondern als Ort voller Gefahren und Risiken“, so dass es hier, so Elberfelds These, um „Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Mädchen und Jungen“ ging (S. 272).
Das Aufkommen von Aids betrachtet Magdalena Beljan als zentrale Zäsur der Debatte über Sexualität seit 1968. Ihr überzeugendes Resümee: Seit Mitte der 1980er-Jahre verschob sich der Fokus von „Risikogruppen“, deren Sexualverhalten an den Pranger gestellt wurde, auf „Risikopraktiken“ aller sexuell aktiven Menschen. Denn nun wurde Aids „immer stärker als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen“ (S. 329). Kondom und partnerschaftliches Gespräch über sexuelle Vorgeschichten wurden zu Zentralelementen eines verantwortungsbewussten Verhaltens erhoben, so dass der Einzelne auf ein auch der Gemeinschaft gegenüber gedeihliches Selbstmanagement verpflichtet wurde. Ein Vorgang, den Beljan treffend als „Privatisierung des Risikos“ (S. 331) beschreibt. Die Frage, welche Auswirkungen diese Kampagnen auf die Praxis der Bevölkerung hatten, ist von ihrer Diskursgeschichte nicht zu beantworten, dieser Begrenzung unterliegen derartige Ansätze immer. Um auch etwas über die Wirkungstiefe des Richtungswechsels zu erfahren, bleibt die Beantwortung dieser Frage allerdings auf der Tagesordnung.
Dieser in seiner Vielfalt und Komplexität überaus anregende Sammelband markiert den State of the art in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, und er schließt passend mit einem wunderschönen Aufsatz Dagmar Herzogs, die noch einmal die Ambivalenzen der „sexuellen Revolution“ in einer europäischen Perspektive Revue passieren lässt und persönliche wie politische Hoffnungen und Enttäuschungen beschreibt, die sich mit ihr verbanden. Natürlich kann von einer stetigen Liberalisierung über all die Jahre hinweg keine Rede sein. Aber Herzogs Skepsis ruht auf einem melancholischen Grundgefühl, das signalisiert: Bei aller Einsicht in die Begrenztheit der Liberalisierung ist die Glut in der Asche der „sexuellen Revolution“ nicht vollständig erloschen. Einfach ist es, so Herzog unter Bezug auf antireformerische Gegenwartstendenzen, „die sexuelle Liberalisierung als Problem zu interpretieren – statt als kostbares moralisches Ziel, das es immer wieder leidenschaftlich und hartnäckig zu verteidigen gilt“ (S. 364).