Was geht Historikerinnen und Historiker ein Buch über Bücher an? Ist das nicht ein Gegenstand für Buchwissenschaftler oder Bibliomane? Erstens: Historiker lesen und publizieren selber Bücher. Damit könnte es eines Tages vorbei sein, lautet eine Prognose. Zweitens ist der enorme Umbruch des Buchmarktes hin zur Digitalisierung ein Indikator für den „nach dem Boom“ einsetzenden Trend zur Kommerzialisierung von Wissenschaft und Kultur im Zeichen des (bisher oft nicht näher bestimmten) Neoliberalismus, wie ihn Zeithistoriker zu untersuchen beginnen.1 Von beiden Seiten her kann das Thema Historiker und Zeitgenossen also nicht kalt lassen.
Szenarien über den Untergang der Buchkultur klingen nach Kulturkritik, und tatsächlich betont der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seinem langen Essay, dass sowohl Buchkritiker wie auch Netzkritiker den Gestus der Kulturkritik pflegen. Letztere werfen den bibliophoben Netzapologeten ein Suhlen im intellektuellen Elend kurzlebiger Blogs vor, erstere den bibliophilen Internetkritikern rückwärtsgewandte Maschinenstürmerei. Wie Hagner hervorhebt, ist es jedoch ein Irrtum, zu meinen, die Digitalisierung sei schuld am Aussterben von Großwerken, an rückläufigen Buchauflagen, schwindenden Leserzahlen und vor allem an einer offensiven Buchfeindschaft. Das Buch wurde kritisiert, seit es existiert, etwa von Erasmus von Rotterdam oder von René Descartes (S. 172). Wenn jedermann lesen lernen dürfe, verdürbe dies das Schreiben und Denken, mahnte Friedrich Nietzsche 1883. Unter den Vorläufern der Bibliophobie konzentriert sich Hagner auf Theodor Lessings Artikel (1932) vom „Untergang des Buches“. Bekannter ist Marshall McLuhans Diagnose (1962) vom „Ende des Buchzeitalters“ – die „Gutenberg-Galaxis“ werde durch die elektronische Welt ersetzt.2
In verblüffender Weise steht die heutige Buchkritik in dieser Tradition. Drei Argumente werden notorisch gegen das gedruckte Buch vorgebracht: Es sei zu schwerfällig und könne mit dem Tempo heutiger Wissenszirkulation nicht mithalten; es manifestiere rückwärtsgewandtes, hierarchisches und elitär-exklusives, viele Teilnehmende exkludierendes Denken; es gebe menschengerechtere Wege der Wissensdissemination (S. 39). Mögliche Auswege bieten Open Access sowie der Traum Googles, alle Bücher zu digitalisieren und damit ein letztes großes Buch für alle zu schaffen. Hagner bezweifelt nicht, dass im Netz trotz aller entfesselten Emotionen kluge Texte zu finden sind. Aber wissenschaftliche Blogs wie hypotheses.org3 seien eher „digitale Kaffeeküchen“ (S. 50). Sie eignen sich ihm zufolge für Werkstattberichte, für den Gedankenfluss des medialen Gesprächs, während Bücher diesen für einen Moment unterbrechen und zu nachhaltiger Auseinandersetzung einladen (S. 48f.). Beide Medien hätten ihre Berechtigung. Abzuwehren sei jedoch die epistemische Priorisierung des Internets durch aggressive Netzapologeten, die besonders den Geisteswissenschaftlern Netzresistenz vorwürfen.
Gerade Open Access (OA) stellt für die auf Monografien angewiesenen Geisteswissenschaften eine besondere Herausforderung dar und steht daher im Zentrum von Hagners Buch. Infolge der „Budapest Open Access Initiative“ seit 2002 hat sich OA als große Verheißung und als Praxis rasant ausgebreitet. Alle Texte von Wissenschaftlern sollen umsonst für jedermann jederzeit verfügbar sein. Als Autoren sollen sie vom „Faustischen Pakt“ mit den Verlegern befreit werden. Jahrhundertelang zogen beide Seiten ihren Nutzen aus ihm: Selektivität und Prestige für den Wissenschaftler gegen ökonomischen Gewinn für den Verlag. Nun sollen die Zugangshürden für Leser fallen, denn der bisherige Open Access – öffentliche Bibliotheken – war noch zu analog und nicht „open“ genug. Die „digitale[n] Erlösungsphantasien“ (S. 70) wollen die Menschheit im gemeinsamen intellektuellen Gespräch vereinigen. In der Tat bot sich OA scheinbar als Patentlösung der Zeitschriftenkrise an. Seit den 1970er-Jahren stiegen die Preise für STM-Zeitschriften (Science, Technology, Medicine) bei marktbestimmenden Verlagskonzernen wie Reed Elsevier, Springer und Wiley exorbitant, in den USA etwa von durchschnittlich 24 $ Jahrespreis für ein Fachzeitschriften-Abonnement 1973 auf heute rund 1.000 $. Die Expansion und Ökonomisierung der Universitäten (Drittmittel, Ranking, Studenten als „Kunden“, Wissen als Ware) und der Impact-Faktor (von den Konzernen Thomson Reuters und Elsevier erstellt!) verschafften diesen Monopolverlagen und ihren Investoren eine „Lizenz zum Gelddrucken“ (S. 81). Dementsprechend entstand die Hoffnung, OA könne eine Gegenstrategie sein.
Inzwischen ist mehr als die Hälfte aller wissenschaftlichen Artikel auch oder ausschließlich im Netz erschienen. OA ist weltweit auf dem Vormarsch, entweder auf dem „goldenen“ Weg (freier und sofortiger Zugang zur Erstveröffentlichung) oder dem „grünen“ Weg (online mit gewissem Zeitabstand zur Papierpublikation, mitunter allerdings nur in Form von Preprints und nicht in der endgültigen Druckversion). Auch für die seit den 1960er-Jahren zunehmenden Sammelbände – kein „neues Format“ des späten 20. Jahrhunderts (S. 63) – als „Packesel der Überforschung“ (S. 179) kann OA die Chance breiterer Wahrnehmung öffnen. Entscheidend ist nicht, dass die Texte allerorts online abrufbar sind, sondern dass man sie umsonst haben kann. Sobald ein „E-Book“ wiederum etwas kostet, liegt der Verkauf im Vergleich zum „P-Book“ im „homöopathischen Bereich“, wie mir eine Lektorin vorrechnete.
Was viele nicht wissen, aber bei Hagner jetzt detailliert nachlesen können: Auch OA ist nicht umsonst und nicht notwendig ein Zugewinn an Freiheit. Die Autoren, nicht mehr die Leser und die Bibliotheken, müssen nun in der Regel für die Publikation ihres Artikels bezahlen. Dafür sind öffentliche Fördergelder einzuwerben, die letztlich doch wieder auf den Steuerzahlenden zurückfallen. Das Argument, diesen zu entlasten, schlägt ins Gegenteil um. Längst haben sich die genannten Konzerne OA unter den Nagel gerissen und heimsen hier enorme Gewinne ein. OA ist nicht umsonst, nicht einmal billiger, sondern unter Berücksichtigung aller Aufwendungen (auch Server, Umformatierungen bei neuer Software etc.) volkswirtschaftlich vermutlich kostspieliger (S. 117).
Die Freiheit der Publikation wird eingeschränkt, weil Förderinstitutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder der Schweizer Nationalfonds verlangen, dass die Ergebnisse wenigstens auf dem „grünen“ Weg frei im Netz zugänglich gemacht werden. Welcher Verlag läßt sich dann noch auf das Risiko des Verlegens ein? In Großbritannien sollen ab 2016 nur noch unbeschränkt zugängliche Publikationen berücksichtigt werden, wenn die gefürchtete Evaluation durch das Research Excellence Framework darüber entscheidet, welche Fakultät überlebt oder geschlossen wird. In Wien gibt es schon Empfehlungen, bei Berufungsverfahren denjenigen Kandidaten vorzuziehen, der „bei gleicher fachlicher Eignung“ OA publiziert hat (S. 92). Das Grundgesetz (Art. 5) der Bundesrepublik Deutschland garantiert die Wissenschaftsfreiheit, implizit also auch die Publikationsfreiheit. Zugleich aber spielt die Politik den Konzernen, die OA als Markt entdeckt haben, in die Hände. Der Faustische Pakt zwischen symbolischem Reputationskapital und ökonomischem Kapital wurde keineswegs gelöst. Hagner spricht treffend von „neuen Geschäftsmodellen des Informationskapitalismus“ (S. 67).
Paradoxerweise ist die Mehrheit der Wissenschaftler für OA, aber zugleich liest die deutliche Mehrheit lieber gedruckte Bücher (S. 66, S. 208). Open Access ist die neue Umwelt, in der sich gedruckte Bücher behaupten müssen. Für Geisteswissenschaftler ist die mit der neuen Distributionsweise verbundene Kommerzialisierung ebenso gewöhnungsbedürftig wie der Trend, dass das Anklicken von Titeln zur neuen Währung für die Beurteilung von Forschungsqualität wird. Hagner verteidigt die Ziele von OA: die Demokratisierung des Wissens und die politisch-kulturelle Emanzipation. Er dämpft jedoch die hohen Heilserwartungen, die daran geknüpft waren und sind. Naturwissenschaftliche Artikel mit hohem Aktualitätswert und kurzer Halbwertszeit, die im Durchschnitt 30 Minuten Lesezeit beanspruchen, seien etwas anderes als geisteswissenschaftliche Monografien, denen man sich mit mehr Muße, mit Notizen und Randbemerkungen widmen müsse.
Zutreffend klagt Hagner darüber, OA erleichtere zwar die Aufdeckung von Plagiaten, aber auch deren Herstellung (S. 193). Angesichts dessen wirkt es leicht irritierend, wenn auch bei Hagner selber Zusammenhänge als neu auftauchen, die man andernorts schon nachlesen konnte: Mit den zu ihrer Zeit nicht wahrgenommenen Forschungen von Gregor Mendel (1865) sowie den erst in der Suhrkamp-Kultur der 1970er-Jahre wiederentdeckten Ludwik Fleck (1935) und Norbert Elias (1936) bringt er ganz zufällig (S. 184f.) und ohne Nachweis genau dieselben Beispiele (obendrein mit falschen Erstveröffentlichungsdaten), die ein anderer Autor bereits 2006/10 zusammengesucht hatte, um genau dasselbe zu zeigen, nämlich wie wichtig neben den Zeitumständen der richtige Verlag, der angemessene Publikationsort für die Rezeption ein und desselben Inhaltes ist. Überhaupt tauchen viele von Hagners Argumenten pro und contra OA sowie gedruckter Bücher bereits andernorts auf.4
Stellenweise schlägt Hagner einen etwas polemischen Ton an. Um Ausgeglichenheit bemüht, trifft es gleichwohl eher die bibliophoben „Netzapologeten“, kaum die klassischen Buchleser. Unverkennbar zieht der Autor das gedruckte Buch dem Bildschirm vor, auch wenn er sich natürlich vieler Informationen des Internets bedient. Am Ende aber gehe es darum, „das Netz zu nutzen, um bessere Texte für das Papier zu schreiben“ (S. 247). Auch die Studierenden bekommen Hagners latenten Kulturpessimismus zu spüren. Die Generation Facebook habe die Kulturtechnik des Lesens verlernt. „More scanning than reading“ und die Favorisierung von Kurz- gegenüber Langtexten bestimme die Tendenz. Das Internet biete mehr Wissen als je zuvor, aber auch mehr Zerstreuung und permanent neue Reize. Wenn sich dadurch bestimmte neuronale Schaltkreise von Kindesbeinen an verfestigten, werde Dauerlektüre und konzentriertes Lesen „unmöglich“ (S. 222f.). Hier stützt sich Hagner auf Nicholas Carr und distanziert sich dann wieder von ihm, weil empirische Langzeitstudien fehlten und die Rede von der „digitalen Demenz“ zu pauschal sei.5
Hagner hat ein erfrischend engagiertes und lesenswertes Buch geschrieben. Es ist ein flammendes Plädoyer, das gedruckte Buch nicht dem Untergang anheimfallen zu lassen, gleichzeitig aber das Potential von Open Access zu fördern. Viele Sammelbände und Qualifikationsschriften seien auf Servern und universitären Repositorien besser aufgehoben, vorausgesetzt, die Autorinnen und Autoren wollten das selber und würden nicht dazu gezwungen. Hier könne Open Access wahrhaft Entlastung schaffen und die bislang von ordentlichen, oft mittelständischen Verlagen gesteuerten Selektionsmechanismen für Qualität ergänzen – aber eben nicht ersetzen: „Die Geisteswissenschaften stünden ohne eigenständige, profilierte Verlage so armselig da wie die Teilchenphysik ohne ihre Beschleuniger.“ (S. 205) Es ist schon hundertmal gesagt worden, aber noch nicht von jedem: Das Buch wird bleiben, auch in seiner gedruckten, haptisch wertschätzbaren Form.
Anmerkungen:
1 Zum Kontext (Neoliberalismus, Monetarismus, Kommerzialisierung, Digitalisierung, Beschleunigung) hätte sich die Lektüre von Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3. Aufl. 2012, und die Rezeption der Diskussion darüber angeboten.
2 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, London 1962, deutsche Übersetzung: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968.
3 <http://hypotheses.org> (14.10.2015)
4 Vgl. die Artikel zu OA, zu digitalen Editionen und zum gedruckten Buch in Martin Gasteiner / Peter Haber (Hrsg.), Digitale Arbeitstechniken für die Geistes- und Kulturwissenschaften, Wien 2010; dort (S. 180) auch nochmals zu Mendel, Elias und Fleck.
5 Vgl. Nicholas Carr, The Shallows. What the Internet is Doing to Our Brains, New York 2010.