C.D. Hollings: Scientific Communication Across the Iron Curtain

Cover
Titel
Scientific Communication Across the Iron Curtain.


Autor(en)
Hollings, Christopher D.
Reihe
SpringerBriefs in History of Science and Technology
Erschienen
Cham 2016: Springer Wien
Anzahl Seiten
105 S.
Preis
$ 54.99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Barbara E. Hof, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

In jüngster Zeit häufen sich Untersuchungen, welche die Interaktion, Kooperation und gemeinsame Geschichte von Ost und West während des Kalten Krieges thematisieren und so auf die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs verweisen. Dass sich, wie Bernd Greiner festhält, in den Cold War Studies der historische Blick aufgefächert und einer transnationalen Historiographie verpflichtet hat1, verdeutlichen etwa Studien zur „geteilten Geschichte“ Deutschlands oder zur Parallelentwicklung der Sicherheitstechnik, des Weiteren zu Netzwerken, die sich durch Heirat oder professionelles Interesse zwischen Ost und West spannten, sowie zur gegenseitigen Beurteilung von Schulsystemen.2 Auch in der historischen Bildungsforschung wandelt sich die oftmals an der Entwicklung der Vereinigten Staaten orientierte, westliche Perspektive auf die Vergangenheit.3 Die transnational orientierte Forschung gewann in ihr ebenso an Bedeutung wie die Doppelbetrachtung der Schulgeschichte während der west-östlichen Blockkonfrontation.4 Die Tragfähigkeit dieser Herangehensweise ist jedoch vor dem Hintergrund noch zu leistender Einzelstudien weiter zu beurteilen.

Auch der britische Mathematiker Christopher Hollings folgt dem Impuls, die gemeinsame Geschichte von Ost und West aufzuarbeiten, in dem er in „Scientific Communication Across the Iron Curtain“ der Frage nachgeht, wie sich Forschende vor dem Hintergrund dieses politisch und ideologisch vielschichtigen Konstrukts miteinander austauschten.5 Hollings geht auf die Kommunikation der Forschenden und die Übersetzung ihrer Texte ein, arbeitet den Verlauf der Häufigkeit von Kongressreisen heraus, thematisiert aber auch die bürokratischen Hürden, die dem Austausch der Forschenden zwischen Ost und West im Wege standen und ihren Handlungsspielraum beschnitten. Er verdeutlicht dies zwar an verschiedenen Disziplinen. Dass sich seine Untersuchung aber stark an der Mathematik ausrichtet, lässt den Schluss zu, dass Hollings den Argumentationsstrang aus der Vorgängerschrift „Mathematics Across the Iron Curtain“6 aufnimmt und weiterentwickelt.

Auch wenn sich Hollings den Eisernen Vorhang als historisches Beispiel nimmt, liegt hier aus zwei Gründen keine historische Studie vor. Erstens räumt Hollings selbst ein, dass er den Ausdruck „Eisernen Vorhang“ weit fasst: Er bezieht sich weniger auf die politische Teilung Europas in einen westlichen und einen sowjetischen Block, vielmehr stellt er den Austausch russischer und englischer Wissenschaftsliteratur sowie das Publizieren dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs ins Zentrum. Der Schwerpunkt liegt auf den beiden Epizentren Sowjetunion und Vereinigte Staaten, am Rande einbezogen werden Großbritannien und die Ukraine. Zweitens greift Hollings zeitlich weit vor: Seine Literaturrecherche setzt zu Beginn des 20. Jahrhundert ein und nicht 1945, als die Rote Armee vor den Toren Berlins stand. Hollings geht quantitativ und exemplarisch vor und gliedert die Studie chronologisch. Da aber der historische Kontext höchst unscharf skizziert und die Quellenauswahl nicht begründet wird, ist die Studie anregend zu lesen, methodisch jedoch wenig überzeugend.

Die Ergebnisse lassen sich in fünf Phasen zwischen 1900 bis 1970 gliedern: Erstens in eine Zeit des nicht beschränkten Austausches nach der Jahrhundertwende und während der Machtübernahme durch die Bolschewiki. Forschende im Osten kooperierten und korrespondierten mit Forschenden im Westen, nahmen an internationalen Konferenzen teil und waren in denselben übergeordneten Netzwerken und Gremien organisiert. Der Informationsfluss zwischen Ost und West erholte sich rasch von der Russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg, so dass etwa die amerikanische Forschungsförderung ihren Weg auch in die Sowjetunion fand. Eine zweite Phase war geprägt von zunehmenden Einschränkungen im Osten, wie Hollings an der sinkenden Publikationsmenge aufzeigt, die in den 1930er-Jahren im Westen veröffentlicht wurde. Das Drohszenario, Konterrevolutionär zu sein oder zu den Kapitalisten überzulaufen, baute sich vor den sowjetischen Forschenden auf, wenn sie Kontakte zum Westen suchten und unterhielten. Dem folgte eine dritte Phase, in der die Kommunikation fast gänzlich versiegte. Der Zweite Weltkrieg erschwerte den Austausch zwischen Großbritannien und der Sowjetunion, doch hatte man ein gutes Bild von der verbündeten Kriegsmacht. Zu Beginn des Kalten Krieges war die Kommunikation stark eingeschränkt. So verabschiedete die Sowjetunion 1947 ein Gesetz, welches Individuen und Organisationen untersagte, Kontakt ins Ausland aufzunehmen. In den frühen 1950er-Jahren waren internationale Konferenzen durch Reisesperren in die Sowjetunion einerseits sowie die restriktive Visapolitik der Vereinigten Staaten anderseits stark beeinträchtigt. Der Besuch vom Westen in den Osten war zwar einfacher zu arrangieren als umgekehrt, wurde aber im Nachklang des Atomspionageskandals von 1950 nicht gern gesehen. In einer vierten Phase war die Anwendung der staatlichen Ideologie auf den Wissenschaftskomplex weniger von offenen Restriktionen denn von indirekten Maßnahmen und dem Versuch, den Schein zu wahren, gekennzeichnet. So kaschierten Höflichkeitsfloskeln Tagungsabsagen, die sowieso nicht hätten angenommen werden dürfen oder es erschienen Beamte der Staatsicherheit anstelle der geladenen Forschenden, um deren Ergebnisse gegenüber der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu vertreten. Im selben Zeitraum ignorierte der Westen die sowjetische Forschung jahrelang. Hier argumentiert Hollings, dass vor dem sogenannten Sputnikschock 1957 der Glaube verbreitet war, dass die sowjetische Technologie weit hinter der westlichen zurückliege. Man hielt es deshalb nicht für notwendig, die Forschung der anderen Seite systematisch zu verfolgen. In einer fünften Phase wurde der Informationsaustauch erleichtert: Nachdem 1959 erste Besuche zwischen Ost und West organisiert worden waren, besuchten sich in der Folgedekade einige Hundert Forschende gegenseitig.

Einen lesenswerten Exkurs macht Hollings zu Übersetzungen, dem Bündeln von Forschungsergebnissen zu Abstracts, zur Zentralisierung des Publikationswesens im Osten sowie zu Sprachkompetenzen und -regelung. Westliche Forschende verloren aufgrund der Präferenz und Förderung des Russischen eher den Überblick über die sowjetische Forschung als umgekehrt, denn russische Forschende beherrschten häufig eine europäische Fremdsprache. Während sich im Westen das Englische gegenüber dem Deutschen und Französischen als Kommunikationsgrundlage zu etablieren begann, waren Forschende im Osten angehalten, auf Russisch zu publizieren. Das Ende des Kalten Krieges markiert demnach auch einen Etappensieg des Englischen als lingua franca der Wissenschaften – zumindest in Europa, wo sich der imaginäre Eiserne Vorhang und die reale Mauer überlagert hatten.

„Scientific Communication Across the Iron Curtain“ gibt einen gut illustrierten Einblick in den Informationsaustausch von Forschenden während ideologisch und politisch belasteten Zeiten. Der Eiserne Vorhang ist zwar ein anschlussfähiges Beispiel, um zu verdeutlichen, dass wissenschaftlicher Kommunikationswille und vorherrschende Staatsideologie nicht zwingend harmonieren. Bedauerlich ist, dass Hollings die politische Binarität von Ost und West nie explizit hinterfragt. Vielmehr ist der Fokus an Zäsuren in der Geschichte der Sowjetunion orientiert, mit denen die Geschichte des Westens nur stellenweise kontrastiert wird. So markieren die Leitfiguren Lenin, Stalin und Chruschtschow Epochen in Hollings Darstellung, welche Relevanz aber beispielsweise die „Eisenhower-Administration“ oder die „McCarthy-Ära“ auf das Kommunikationsverhalten der Forschenden hatten, wird wenig bedacht, sondern lediglich stellenweise angedeutet. Aufgrund dieser einseitigen Gewichtung greift Hollings' These, dass die größten politisch motivierten und bürokratischen Einschränkungen von der Sowjetunion ausgingen (S. 2), viel zu kurz.

Welcher Gewinn lässt sich dennoch aus der Lektüre ziehen? Vielleicht, dass das quantifizierende Verfahren, das Hollings gewählt hat, Aufschluss gibt über die Häufigkeit des wissenschaftlichen Austausches, der trotz verschiedenster Restriktionen während des Kalten Krieges nie gänzlich abbrach. Dass sich Hollings nicht in der Beschreibung einzelner Zirkulationsphänomene und Wissenszirkel7 verliert, sondern zu dem von ihm gewählten Sachverhalt, der Kommunikation zwischen Ost und West, eine Vielzahl aussagekräftiger Belege aufführt und sich auf die Mechanismen hinter der Zirkulation konzentriert, könnte auch die transnationale Forschung der historischen Bildungsforschung methodisch sinnvoll ergänzen.

Anmerkungen:
1 Bernd Greiner, Kalter Krieg und „Cold War Studies“, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, S. 1. Verfügbar unter: http://docupedia.de/zg/Cold_War_Studies (26.10.2016).
2 Vgl. Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015; Parallel History Project on Cooperative Security, http://www.php.isn.ethz.ch/ (26.10.2016); Mark Walker (Hrsg.), Science and Ideology. A comparative history, New York 2003; Simo Mikkonen / Pia Koivunen (Hrsg.), Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe, Oxford 2015; Alexander Friedman, (Hoch-)Schulsysteme der Beneluxländer nach dem Zweiten Weltkrieg. Wahrnehmung und Bewertung aus sowjetischer Sicht, in: IHJE Bildungsgeschichte 1 (2016), S. 57–74.
3 Siehe etwa die Kritik in T. Popkewitz (Hrsg.), Rethinking the History of Education. Transnational Perspectives on Its Questions, Methods, and Knowledge, New York 2013.
4 Vgl. Transnationalizing the History of Education, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und Vergleichende Gesellschaftsforschung 22 (2012) 1, S. 7–14; Marcelo Caruso / Thomas Koinzer / Christine Mayer / Karin Priem (Hrsg.), Zirkulation und Transformation. Pädagogische Grenzüberschreitungen in historischer Perspektive, Köln 2014; Anne Rohstock, Antikörper zur Atombombe. Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers im Kalten Krieg, in: Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hrsg), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte, Essen 2014, S. 259–284.
5 Die Monographie „Scientific Communication Across the Iron Curtain“ kann bezogen werden unter http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-25346-6 (26.10.2016).
6 Christopher Hollings, Mathematics across the Iron Curtain. A History of the Algebraic Theory of Semigroups, Rhode Island 2014.
7 Siehe etwa die Rezension von Eliza Grezicki zu: Marcelo Caruso u.a. (Hrsg.), Zirkulation und Transformation, in: H-Soz-Kult, 24.10.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21019 (28.11.2016).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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