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Titel
Friedrich Gogarten (1887–1967). Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege


Autor(en)
Goering, Daniel Timothy
Reihe
Ordnungssysteme 51
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
XI, 513 S., 5 Abb.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Brunner, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Die nun als Buch vorliegende Bochumer Dissertation D. Timothy Goerings über Friedrich Gogarten schließt eine bislang schmerzende biografische Lücke in der Protestantismusforschung des 20. Jahrhunderts, die sich noch gar nicht so lange in methodisch überzeugender Weise ihren „Köpfen“ widmet.1 Gogarten schrieb sich als führender Vertreter der „Dialektischen Theologie“ in die Kirchen- und Theologiegeschichte ein und wird heutzutage vor allem mit den hiermit verbundenen theologiegeschichtlichen Aufbrüchen der Zwischenkriegszeit verknüpft. Manch einer kennt ihn noch durch seine Arbeiten zur Säkularisierung, vor allem aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Die vorliegende Studie ist allerdings weit mehr als „nur“ eine Biografie, geschweige denn im engeren Sinne ein Beitrag allein zur Protestantismusgeschichte, obschon auch das eine substanzielle und wichtige Leistung wäre. Goering entwickelt anhand des biografischen Zugriffs vielmehr eine intellectual history des religiösen Feldes zwischen dem späten Deutschen Kaiserreich und der Bundesrepublik der 1960er-Jahre.

In seiner Einleitung problematisiert der Verfasser prononciert Chancen und Risiken der Gattung „Biografie“. Er beabsichtigt, das Leben seines Protagonisten „nicht als durchgreifende Einheit“ (S. 8) zu beschreiben, sondern vielmehr die verschiedenen gesellschaftlichen Rollen Gogartens historisch-kritisch zu erschließen. Die „Identität eines Menschen fällt nicht mit der Selbstverwirklichung des Ichs zusammen, sondern fügt sich gleichsam aus Mosaiksteinen gesellschaftlicher Konstruktion zu einer Person zusammen.“ (S. 9), wie Goering programmatisch konstatiert. Damit möchte er allerdings nicht die agency des historischen Individuums negieren. Vielmehr will er in kritischer Distanz gegenüber den strukturgeschichtlichen ebenso wie den poststrukturalistischen Herangehensweisen daran festhalten, dass die Akteure in spezifischen Konstellationen und Kontexten ihre Biografie „erfinden“. Der Verfasser bietet damit eine weiterführende und zugleich pragmatische Lösung für die Methodenprobleme der Biografik an.

Goerings Studie setzt drei übergeordnete, klug gewählte Schwerpunkte: Zunächst geht es erstens mit Gogartens Kampf gegen die institutionelle Konfessionskirche und seine existenzielle Religiosität um zwei zentrale Aspekte seines Lebens. Zweitens legt Goering einen besonderen Fokus auf die Rolle des Religionsintellektuellen, die sich Gogarten angeeignet habe. Dabei macht er sich auch daran, die Rolle der Pfarrer und Universitätstheologen in die Intellektuellengeschichte einzuschreiben, fehlt dieser Aspekt doch in der bisherigen Forschung weitestgehend. Gogarten erscheint so als eine soziale Figur, als „ein Spezialist im Umgang mit religiösen intellektuellen Symbolen“ (S. 13), der Meinungskämpfe ausgefochten, in der Öffentlichkeit zu überzeugen versucht und Handlungsweisen legitimiert oder auch kritisiert habe. Auf diesem Wege wird sein intellektuelles Netzwerk gleich mit ausgeleuchtet. Drittens wird danach gefragt, wie die philosophisch-theologischen Ideen Gogartens zu „Weichenstellern“ (S. 14) seines Handelns wurden.

Dieses ambitionierte Programm verfolgt Timothy Goering in den vier inhaltlichen Kapiteln, die naheliegenderweise zunächst chronologisch aufgebaut sind. Das erste Kapitel mit dem schönen Titel „Das Erwachen eines Gottsuchers“ behandelt Gogartens Jugend, die Studienzeit sowie seine Erfahrungen im Pfarramt sowie dann im Ersten Weltkrieg. In seinen Predigten zu Kriegsbeginn war auch er um große Worte nicht verlegen und sprach vom „gerechten Krieg“ beziehungsweise vom „Verteidigungskrieg“, den Deutschland nun zu führen habe. Er selbst war vom Militärdienst freigestellt worden und doch beherrschte der Krieg, wie Goering eindrücklich zeigen kann, sein Denken bis 1916. Die hier untersuchten Texte bieten wichtige Einblicke in die Gattung der Kriegspredigten, die weiterer Erforschung harren und Aufschluss geben können über die Kriegsdeutungen und -hoffnungen protestantischer Pfarrer und Theologen dieser Zeit.

Das zweite Kapitel über das „Dialektische Jahrzehnt“ wird zumindest die evangelische Kirchen- und Theologiegeschichte zukünftig beschäftigen müssen. Hier wird das Netzwerk der Dialektischen Theologie in den Jahren 1919 bis 1922 in seinem Entstehen rekonstruiert und die theologische Richtung in ihrem Zenit sowie im Auseinanderbrechen untersucht. Die biografische Methode dient als Sonde, um dieses wichtige Kapitel der deutschen Religionsgeschichte vertiefend zu untersuchen.

Besonders folgenreich für die spätere Wahrnehmung des Theologen Gogarten war seine Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus, welcher sich der dritte Teil ausführlich widmet. Er sympathisierte zunächst mit den Deutschen Christen und versuchte sich daran, die „Einheit von Evangelium und Volkstum“ theologisch zu begründen. Nach der „Sportpalast-Kundgebung“ im November 1933 trennte er sich von den Deutschen Christen; der NSDAP war er nie beigetreten. Dennoch war es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwer für ihn, wieder Fuß zu fassen. Der späte Gogarten beschäftigte sich vor allem mit Fragen der technisch-industriellen Entwicklung sowie der Säkularisierung.

Allerdings war Gogarten, wie das vierte Kapitel zeigt, zu einer vor allem „schriftlichen Existenz“ gezwungen. Damit erging es ihm ähnlich wie beispielsweise Emanuel Hirsch, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, da er weiter an der Universität Göttingen lehren durfte. Seine Lehrtätigkeit war jedoch, wie Goering beschreibt, von einer gewissen Äquidistanz zu Kirche und Universität bestimmt. Weniger bekannt ist indes Gogartens „zweite Karriere“ (S. 364), die er nach seiner Emeritierung 1955 aufnahm. Eine Vorlesungsreihe in Glasgow im April 1956 sowie eine Gastprofessur an der Drew University in New Jersey 1957/58 boten ihm die Chance für neue Wirkungsfelder als Religionsintellektueller in der Öffentlichkeit, die ihm näherlagen und wichtiger waren als theologische Streitgespräche (S. 365f). Spannend ist die Verwandtschaft zur amerikanischen Gott-ist-tot-Theologie dieser Zeit, für deren Vertreter er ein interessanter Gesprächspartner war. Auch die Verbindungen zu Harvey Cox und dessen einschlägigem Buch The Secular City waren bislang wohl nicht bekannt. Als Theologe der Säkularisierung eröffnete sich Gogarten also ein neues Wirkungsfeld in den USA, wo er begeistert aufgenommen wurde. Timothy Goering kann insbesondere in diesen Passagen eindrucksvoll darlegen, wie vielversprechend und ertragreich die biografische Methode für die Religions- und Intellektuellengeschichte sein kann.

Die Schlussbetrachtung hebt nochmals hervor, dass sich anhand von Gogartens Biografie der Kampf gegen die Konfessionskirche und für eine „vagierende Religiosität“, wie sie sich seit dem Kaiserreich entwickelt habe, untersuchen lasse. Das Jahr 1933, in dem Gogarten Hoffnung haben zu können glaubte, dass nun eine „neue religiöse Bewegung“ im Sinne einer avantgardistischen, außerkirchlichen Religiosität entstehen könne, war in Wahrheit der Todesstoß für solche Bestrebungen. Man könnte fragen, ob Gogarten nicht vielleicht mehr ein Kirchenrebell als ein Religionsrebell gewesen sein mag. In jedem Fall war er ein Religionsintellektueller, der über zahlreiche historische Zäsuren hinweg als solcher „eingreifendes“ Denken verkörperte. D. Timothy Goering hat eine Studie vorgelegt, die unser Wissen über die Religions- und Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts erheblich erweitert und zugleich wertvolle methodische Impulse bereithält für künftige Forschungen.

Anmerkung:
1 Vgl. zuletzt Christiane Tietz, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018; als ein frühes Beispiel lässt sich anführen: Harry Oelke, Hanns Lilje. Ein Lutheraner in der Weimarer Republik und im Kirchenkampf, Stuttgart 1999.

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