N. Grabe: Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen

Cover
Titel
Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945–1975.


Autor(en)
Grabe, Nina
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beihefte 61
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
425 S., 43 SW-Abb.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Kreutzer, Fachbereich Gesundheit, Fachhochschule Münster

Während zur Geschichte der Krankenpflege mittlerweile etliche Studien vorliegen, ist die Geschichte der Altenpflege vergleichsweise schlecht erforscht. Vor diesem Hintergrund ist Nina Grabes Dissertation zur stationären Versorgung alter Menschen in Niedersachsen zwischen 1945 und 1975 in hohem Maße zu begrüßen. Die Arbeit entstand am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (Stuttgart). Am Beispiel Niedersachsens (mit Schwerpunkt auf Hannover, Hildesheim und Göttingen) rekonstruiert die Autorin in einer sozial- und alltagsgeschichtlich angelegten Studie akribisch sowohl die institutionellen Strukturen als auch die Pflege der Heimbewohner und informiert über das in der Altenpflege tätige Personal. Damit beleuchtet sie eine stark protestantisch geprägte Region, die mit der Stadt Hannover eine Vorreiterrolle in der Entwicklung der bundesdeutschen Altersversorgung einnahm. Die Studie setzt in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein und reicht bis zur Verabschiedung des Heimgesetzes 1974, mit dem erstmals trägerübergreifende Standards in der Heimbetreuung festgelegt wurden. Die Ausführungen basieren auf einer breiten Quellenbasis kommunaler, evangelischer und katholischer Alters- und Pflegeheime, Alterskrankenhäuser sowie Geriatrischer Kliniken Niedersachsens, ergänzt um zeitgenössische Fachzeitschriften, wissenschaftliche Studien aus den 1960er- und 1970er-Jahren sowie einzelne Interviews.

Grabe gibt zunächst einen Überblick zu den Altersbildern der Nachkriegszeit und skizziert die Situation hochaltriger Flüchtlinge sowie den eklatanten Mangel altersgerechter Unterkünfte, der zum Motor der – zunächst vor allem von freien Wohlfahrtsverbänden vorangetriebenen – Initiativen zur Verbesserung der stationären Altersversorgung wurde. Anschließend wendet sie sich den Trägern der Altersfürsorge bzw. Altenhilfe in Niedersachsen zu und zeichnet die strukturellen Verschiebungen nach, die vor allem eine Folge der Zunahme privater Träger im Laufe der 1960er-Jahre waren.

Die folgenden Kapitel richten den Blick genauer auf die Einrichtungen selbst. Deutlich wird die enorme Vielfalt von Institutionen, die nach 1945 die Versorgung alter Menschen übernahmen – sie reichten von kleinen christlich getragenen Altenheimen über lagerähnliche Baracken der Nachkriegszeit, DP-Altersheime, Pflegeheime bis hin zu Alterskrankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen. Grabe zeigt, wie prekär die Versorgungssituation alter und pflegebedürftiger Menschen in vielerlei Hinsicht war: Die meisten Altersheime waren in den 1950er-Jahren nicht auf Langzeitpflegefälle ausgerichtet, und es mangelte an Pflegeheimen. Alte Menschen verblieben deshalb häufig als Langzeitpflegefälle in Krankenhäusern, oder sie kamen in Altersheimen unter, die nicht auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen ausgerichtet waren. Besondere Probleme bereitete die Betreuung demenziell veränderter Menschen, die in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht wurden, welche in der Regel weder über eigene Stationen für alte Menschen noch über entsprechend ausgebildetes Personal verfügten.

Grabe untersucht, wie diese Strukturen ab Ende der 1950er-Jahre sukzessive umgebaut wurden und Altersheime neuen Typs entstanden, die die Funktionen von Alters-, Pflege- und Wohnheimen vereinten und den Bewohnern statt der bis dahin üblichen Mehrbettzimmer die Unterbringung in Ein- bis Zweibettzimmern anboten. Auch der Versorgungsalltag und das Pflegeverständnis wandelten sich grundlegend. Detailreich legt Grabe die Umbrüche im Alltagsleben der Einrichtungen dar, die sie vorwiegend unter dem Begriff der Medikalisierung diskutiert. Gleichwohl wird im Laufe der Arbeit deutlich, dass es sich hier um einen komplexen Prozess der Verwissenschaftlichung und beginnenden Technisierung des Handlungsfeldes handelte. Nicht nur die Medizin, sondern auch die Psychologie, die Pädagogik und die Arbeitswissenschaft entwickelten sich zu neuen handlungsleitenden Disziplinen der Altenpflege. Hier wäre eine etwas systematischere Diskussion hilfreich gewesen, weil es bei der sehr detailreichen Darstellung schwierig ist, die großen Entwicklungslinien und deren gesellschaftsgeschichtliche Verortung zu überblicken. Mitunter fragt man sich auch, ob die beschriebenen Prozesse – etwa die Ausstattung der Einrichtungen mit sicheren Haltegriffen und rutschfesten Unterlagen in Bädern (S. 166) – unter dem Begriff der Medikalisierung tatsächlich angemessen zu erfassen sind. Die zunehmende Gestaltung der Einrichtungen nach funktionalen Kriterien in den 1960er-Jahren (S. 172) dürfte ebenfalls mehr im Kontext der zeitgenössischen Bestrebungen zur Reorganisation der Arbeitsabläufe nach zeitökonomischen Effizienzkriterien zu sehen sein. Abgesehen davon bietet Grabe jedoch eine ergiebige Darstellung des Versorgungsalltags, die an vielen Beispielen nicht nur den Einzug neuer wissenschaftlicher Leitdisziplinen aufzeigt, sondern auch deren eher zögerliche Umsetzung im Heimalltag.

Im letzten Teil des Buches wendet sich die Autorin dem Personal in der Altenpflege zu. Sie skizziert die Herausforderungen und Belastungen in dem Tätigkeitsfeld und betont, dass trotz des negativen Images und den als nicht mehr zeitgemäß angesehenen Arbeitsbedingungen das Personal seine Tätigkeit in der Regel als sehr befriedigend beschrieb. Im Unterschied zur Krankenpflege war in der Altenpflege zunächst kein spezifisch fachlich ausgebildetes Personal erforderlich. Bis Anfang der 1960er-Jahre handelte es sich beim Altenpflegepersonal vor allem um konfessionell gebundene Krankenschwestern und Hilfskräfte. Bevorzugt wurden ältere Pflegerinnen, denen ein besseres Verständnis für die Belange der alten Menschen zugeschrieben wurde. Grabe zeigt, dass Mitte der 1950er-Jahre ein langsamer Professionalisierungsprozess einsetzte, indem erste Schulungen für das Führungspersonal von Altersheimen angeboten wurden. Spezialisierte Altenpflegeausbildungen entstanden ab Ende der 1950er-Jahre und wurden in den folgenden Jahrzehnten ausgebaut. In den Altersheimen entstand damit ein neues Konfliktfeld zwischen den älteren Krankenschwestern und den neu ausgebildeten Altenpflegerinnen, die anfänglich oft nur als Hilfskräfte eingesetzt wurden und um ihre Anerkennung ringen mussten. Ende der 1960er-Jahre entschieden sich auch erstmals Männer für die Ausbildung als Altenpfleger, und in den 1970er-Jahren stieg der Anteil von Männern in der Altenpflege – nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Anzahl Zivildienstleistender.

Nina Grabe hat eine akribisch recherchierte Studie vorgelegt, deren Verdienst vor allem in der genauen Rekonstruktion der Alltags- und Sozialgeschichte der stationären Altersversorgung in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten liegt. Eindrucksvoll gelingt es ihr, die große Heterogenität der Versorgungsstrukturen und des Versorgungsalltags aufzuzeigen. Der enorme Detailreichtum der Darstellung, der ausufernde Fußnotenapparat und die unübersichtliche Gliederung (mit gelegentlich etwas kurios anmutenden Unterkapiteln wie „9.11.1 Die Verpflegung im jüdischen Altersheim Hannover“) erschweren jedoch mitunter die Übersicht. Die vielen Zwischenfazits wirken vor allem bei den ersten, sehr kurzen Kapiteln redundant, und auch das Schlusskapitel beschränkt sich auf eine reine Zusammenfassung. Damit vergibt sich Grabe nicht zuletzt die Chance, die Bedeutung ihrer Forschung stärker herauszustellen und in einen größeren gesellschaftsgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Dieser Einwand soll die beachtliche Leistung und die umfangreiche Quellenarbeit der Autorin jedoch nicht mindern. Das Buch sei allen empfohlen, die sich für die Geschichte der Altersfürsorge und der Altenpflege interessieren.