I. Poczka: Die Regierung der Gesundheit

Cover
Titel
Die Regierung der Gesundheit. Fragmente einer Genealogie liberaler Gouvernementalität


Autor(en)
Poczka, Irene
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Wiegeshoff, Seminar für Neuere Geschichte, Universität Marburg

Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit den Themen „Medizin“, „Krankheit“ und „Gesundheit“ erfreut sich in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Es mag ein Zufall sein, dass der bisher dreimal verliehene Dissertationspreis der AG Internationale Geschichte im VHD bereits zwei Arbeiten ausgezeichnet hat, die sich in diesem Forschungsfeld bewegen.1 Festzuhalten ist aber doch, dass diese Studien exemplarisch ein wachsendes Interesse dokumentieren und die Anschlussfähigkeit medizinhistorischer Untersuchungsgegenstände für ganz unterschiedliche Perspektiven – beispielsweise der Kolonialgeschichte, der Politik- und internationalen Geschichte wie auch der Kultur-, Sozial- oder Wissensgeschichte – illustrieren.2 Derartige Entwicklungen lassen sich durchaus auch in anderen Disziplinen beobachten, wie die politikwissenschaftliche Studie von Irene Poczka belegt, die 2013 als Dissertation eingereicht wurde und nun in überarbeiteter Fassung im transcript Verlag erschienen ist.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Gesundheit als ein historisch wandelbarer Gegenstand, der im langen 19. Jahrhundert nachhaltig als Objekt von Regierungshandeln erschlossen wurde. Das Erkenntnisinteresse speist sich zunächst einmal aus der Gegenwart, nämlich aus dem Anliegen, nach „der historischen Entstehung von Rationalitäten und Universalien zu fragen, die uns heute in der Gesundheitspolitik, aber auch in unserem persönlichen Umgang mit Gesundheit selbstverständlich, veraltet oder völlig neu erscheinen“ (S. 10). In expliziter Kritik an der fehlenden historischen Tiefenschärfe gegenwärtiger politikwissenschaftlicher Forschung geht es Poczka also um längerfristige Prozesse, deren Erforschung zum Verständnis der Gegenwart beitragen kann. Im Rahmen einer „Diskursgeschichte der Gouvernementalität von Gesundheit“ (S. 24) werden Entwicklungen in Frankreich, Großbritannien und den deutschen Staaten bzw. dem Deutschen Reich in einem Untersuchungszeitraum vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum späten 19./frühen 20. Jahrhundert verfolgt. Poczka analysiert vergleichend, wie spezifische Formen der Regierung von Gesundheit verhandelt, welche Handlungs- und Interventionsbereiche darunter jeweils gefasst und welche Wissensbestände hierbei Bezugspunkte wurden. Der breitere Kontext, in den die Befunde gestellt werden, ist die Herausbildung einer liberalen Gouvernementalität als historischer Form des Regierens, wie sie Michel Foucault für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert konstatiert.

Methodisch-theoretischer Ideengeber des Unterfangens ist also – wie auch schon der Titel des Buches verrät – Foucault. Gouvernementalität meint in seinem Verständnis die „aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“.3 Im Anschluss an dieses weite Verständnis von Regierung und Machtausübung befragt Poczka ihre Quellen nach sich wandelnden „Rationalitäten der Regierung von Gesundheit“ (S. 20). Quellengrundlage der Arbeit sind dabei vor allem wissenschaftliche Veröffentlichungen, Gesetzestexte, Regierungspublikationen sowie die Protokolle der internationalen Gesundheitskonferenzen des 19. Jahrhunderts. Methodisch grenzt sich Poczka von der „traditionellen Geschichtswissenschaft“ (S. 26) ab, was insofern eher unnötig erscheint, als dass ein Großteil an Historikerinnen und Historikern der Grundannahme wohl zustimmen würde, dass Quellen nicht einfach als Abbildungen einer historischen Wirklichkeit zu verstehen sind. Die Studie begibt sich in ein Forschungsfeld, das durchaus gut bestellt ist, wie auch in einem knappen einleitenden Überblick konstatiert wird. Nicht zuletzt eine ganze Reihe geschichtswissenschaftlicher Arbeiten behandeln Fragen nach dem Zusammenhang von Medizin und Gesundheitsfürsorge auf der einen und Prozessen gesellschaftlicher Machtverteilung, sozialer Kontrolle und Ausweitung staatlicher Kompetenzen auf der anderen Seite.4 Die Ergänzung derartiger Forschung durch eine Analyse der Regierung von Gesundheit gelingt unterschiedlich gut. Während eine ganze Reihe der Befunde und Thesen doch sehr vertraut erscheinen, werden durchaus auch anregende neue Perspektiven eröffnet.

Die Studie, der im Übrigen etwas mehr Straffung und ein gründlicheres Lektorat gut getan hätten, ist in drei Großkapitel unterteilt, die in Zeiträumen besonderer Verdichtungen im Diskurs historische Tiefenbohrungen vornehmen. Jedes Kapitel umfasst dabei drei Unterkapitel zu den ausgewählten Untersuchungsräumen. Der erste Abschnitt bietet eine detaillierte Analyse der Auseinandersetzung mit der Regierung von Gesundheit in einem Zeitraum von circa 1770 bis 1850. Ziel ist es, aufzuzeigen, wie die Gesundheit der Bevölkerung überhaupt in den Fokus von Regierungshandeln rückte. Dabei wird das von jeweils länderspezifischen Besonderheiten geprägte Spannungsfeld zwischen Ärzten, Bürgertum und Staat ausgeleuchtet, in dem um Verteilung von Regierungskompetenzen gekämpft wurde. Spannend und aufschlussreich ist besonders das in akribischer Quellenarbeit herauspräparierte Ringen der deutschen, französischen und britischen Ärzteschaft um Einfluss und Mitspracherecht, um berufliches Ansehen und die Festigung ihres Status. Sich als nützlicher Teil der Regierung zu präsentieren, war nicht zuletzt angesichts eines verbreiteten ärztekritischen Diskurses nicht einfach.

Das zweite Kapitel nimmt den Zeitraum um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick und setzt sich intensiv mit den Choleraepidemien in Europa auseinander, die in Übereinstimmung mit Untersuchungen zu den Folgen dieser Seuche als zentraler Einschnitt und als Katalysator im Diskurs um die Regierung von Gesundheit verstanden werden. Interessant ist hier insbesondere, dass gerade in der deutschsprachigen Fachliteratur die Überzeugung, die Cholera sei nicht ansteckend, als Problem der Begrenzung von Regierungsmacht diskutiert wurde. Wenn Maßnahmen wie Grenzkontrollen und Quarantäne unnütz waren, was blieb dann noch zu tun? Um derartige Sorgen zu entkräften, bemühte sich die Ärzteschaft zu verdeutlichen, wie weitreichend Regelungs- und Regierungshandeln sein müsse, wenn Epidemien als Probleme sanitärer Verhältnisse oder gar als soziale Probleme verstanden würden.

Das dritte Kapitel widmet sich schließlich der internationalen Dimension des Diskurses. Die Überzeugung, Epidemien seien ein Problem, das in zwischenstaatlicher Kooperation anzugehen sei, führte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu unregelmäßigen Zusammenkünften vor allem europäischer Staaten in den sogenannten internationalen Gesundheitskonferenzen. In dezidierter Abgrenzung von gängigen Einschätzungen, die die Konferenzen allerdings auch unter anderen Fragestellungen betrachten, konstatiert Poczka, dass gerade die ersten Zusammenkünfte ein Erfolg gewesen seien. Die frühen Debatten zeigten ihr zufolge deutlich eine Vereinheitlichung, ja Übereinkunft über Rationalitäten der Seuchenbekämpfung. Auch auf internationaler Ebene wurde die Ausweitung des zu regierenden Bereichs und der zur Verfügung stehenden Regierungstechniken verhandelt, wurden doch unterschiedlichste Formen der Überwachung, Regulierung und Kontrolle debattiert. Diese Aufmerksamkeit für Momente der Ausweitung bzw. Entgrenzung von Regierung zieht sich durch die gesamte Darstellung und zielt darauf, Foucaults These von der liberalen Gouvernementalität als besonders weitreichender Form der Machtausübung zu unterstreichen. Die ausgiebigen Bezugnahmen auf Foucault im Fußnotenapparat machen deutlich, dass im Mittelpunkt der Arbeit das Bemühen steht, die „Herausbildung und Durchsetzung einer spezifisch liberalen Form moderner Gouvernementalität von Gesundheit im 18. und 19. Jahrhundert“ (S. 421) im direkten Anschluss an Foucaults Thesen und Theorien nachzuweisen. Trotz dieses ambitionierten Anspruchs, der sich nicht zuletzt auch in geographischer, zeitlicher und thematischer Breite niederschlägt, strebt Poczka ausdrücklich keine umfassende Darstellung an, sondern vielmehr die Zusammenstellung von „Fragmenten“. Für Informationen zum breiteren Kontext werden Leserinnen und Leser in der Einleitung auf die existierende Forschungsliteratur verwiesen. Dass in den Ausführungen selbst dann aber häufig auf eine Bezugnahme auf eben diese Forschung verzichtet wird und damit eine breitere Einbettung der Ergebnisse recht kurz kommt, ist bedauerlich. Leserinnen und Leser, die mit der einschlägigen Literatur nicht vertraut sind, werden es möglicherweise schwer haben, die anregenden Thesen der Studie einzuordnen.

Anmerkungen:
1 2016 wurde unter anderem die Arbeit von Thomas Zimmer (Welt ohne Krankheit. Geschichte der Internationalen Gesundheitspolitik 1940–1970, Göttingen 2017) und 2017 die Arbeit von Sarah Ehlers (Ärzte ohne Grenzen. Koloniale Schlafkrankheitsbekämpfung, europäische Identitäten und moderne Medizin, 1890–1914, Diss. HU Berlin.) prämiert. Siehe http://www.historikerverband.de/arbeitsgruppen/ag-internationale-geschichte.html (21.11.2017).
2 Zum Potential von medizinhistorischen Themen in der historischen Forschung vgl. zum Beispiel Frank Huisman / John Harley Warner (Hrsg.), Locating Medical History. Their Stories and Their Meanings, Baltimore 2004; Malte Thießen, Medizingeschichte in der Erweiterung. Perspektiven für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Moderne, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 535–599.
3 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt 2006, S. 162.
4 Vgl. zum Beispiel Alison Bashford, Imperial Hygiene. A Critical History of Colonialism, Nationalism and Public Health, Basingstoke 2003; Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge 1999; Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984; Mark Harrison, Disease and the Modern World, Cambridge 2004; Sheldon Watts, Epidemics and History. Disease, Power, and Imperialism, New Haven 1999.