Man spürt förmlich den Genius loci in den hier versammelten Beiträgen einer Tagung, die Ende 2015 im Studienzentrum in Venedig, also direkt am Canal Grande stattfand. Die 13 Autoren gehen bei ihrer Darstellung der Herrscherbesuche nämlich durchweg von den konkreten Gegebenheiten der Inselstadt aus – und man folgt ihnen gerne auf diese prächtige Bühne. In einer instruktiven Einleitung skizzieren die Herausgeber die Herangehensweise in diesem Band, die sie u.a. durch einen Fragenkatalog zu „Organisation, Inszenierung und Wahrnehmung“ der Besuche anzuregen suchten (S. 11). Es sollten die beiden „Themenbereiche des adventus und die Herrscherbegegnung“ im Sinne „einer neuen Kulturgeschichte des Politischen“ behandelt, das heißt besonders „auf symbolische Repräsentation“ geachtet werden (S. 9), was zumeist auch beherzigt wurde.
Nach einigen Bemerkungen Gerd Althoffs zu „Inszenierungen des Besuchs im Mittelalter“ werden für die Zeit vom 9. bis 18. Jahrhundert die Aufenthalte einer Reihe mittelalterlicher römischer und byzantinischer Herrscher, frühneuzeitlicher Fürsten und Adliger sowie eines Papstes behandelt. Während der Tagung waren überdies noch die Visiten des römisch-deutschen Königs Heinrich V. sowie des französischen Königs Heinrich III. vorgestellt worden, die leider nicht den Weg in die Akten fanden.1 Dafür werden hier zwei Phantombesuche des 11. Jahrhunderts als solche entlarvt, nämlich König Heinrichs III. und Papst Leos IX. (S. 78, 121), die ohne stichhaltige Quellenbelege noch bis in die jüngste Zeit durch die Literatur geistern.2
Umgekehrt wird bei der Dekonstruktion des Mythos Venedig, nach dem die Stadt von den Anfängen bis zu Napoleon nie eingenommen wurde, vielleicht etwas übertrieben, wenn einer Stelle der fränkischen Reichsannalen, die von der Eroberung Venedigs durch König Pippin von Italien im Jahre 810 spricht, zu leicht geglaubt wird; ein erster königlicher Aufenthalt bei der Gelegenheit wird von Achim Hack gleichwohl offengelassen (S. 36f. und 47). Zweifelsfrei begannen die Herrscherbesuche erst mit Pippins Neffen, Kaiser Ludwig dem Deutschen, den seine Gattin Angilberga begleitete, die bis zu Eleonore von Portugal im Jahre 1452 die letzte monarchische Herrscherin in der Lagune gewesen sein sollte. Die Datierung für den kaiserlichen Besuch ist unsicher: Während die ältere Forschung vom Jahre 856 ausging, werden hier die frühen 860er-Jahre favorisiert (S. 45).
Der nächste Besuch erscheint zunächst mysteriös, nachdem Kaiser Otto III. im Jahre 1001 bei Dunkelheit ankam und nur heimlich die Stadt betrat. Das ungewöhnliche Verhalten wird von Knut Görich überzeugend mit innervenezianischen Konfliktlinien begründet: Im Interesse einer „Gleichgewichtspolitik“ des Dogen zwischen dem Reich und Byzanz (S. 58) sollte eine einseitige Zuordnung zum westlichen Kaisertum durch ein Empfangszeremoniell vermieden werden.
Im Jahre 1095 kam Kaiser Heinrich IV. auf der Suche nach einem Verbündeten in seinem Ringen um die Krone nach Venedig. Die Venezianer ließen sich die Zusage ihrer Unterstützung mit einem weitreichenden Handelsprivileg entgelten, wie Roman Deutinger ausführt. Während man sich im Fall des gebannten Königs auf dessen Seite stellte, bemühte sich der Doge im Jahre 1177 als Vermittler beim Frieden von Venedig peinlich um Neutralität gegenüber Kaiser Friedrich I. und Papst Alexander III., was Romedio Schmitz-Esser anhand des Zeremoniells detailliert herausarbeitet. Durch eine „Gästeliste“ lässt sich in diesem Falle einmal eine Quantifizierung des riesigen Gefolges vornehmen: 8.420 Besucher sollen es gewesen sein (S. 89–91). Dieser singuläre Aufenthalt eines Papstes verleitet Jochen Johrendt dazu, „Venedig als ‚papstfreie‘ Zone“ zu apostrophieren (S. 99) – wo doch dessen über halbjährige Anwesenheit in der Stadt gerade das Gegenteil belegt. Die Suche nach Gründen für die Abhaltung des Friedenskongresses gerade in der Lagunenstadt bleibt stellenweise recht spekulativ („Das dritte, an der Kurie vorgebrachte, jedoch in den Quellen nicht zu fassende Argument für Venedig, könnte in der Natur Venedigs als einer papstfreien Zone liegen.“ S. 103).
Eine interessante Neubewertung der Quellen zum Besuch Friedrichs II. im März 1232 nimmt Hubert Houben vor, indem er die Annalen von St. Pantaleon und die von Schäftlarn gegenüber den Chroniken aus Piacenza aufwertet. Die Venezianer erhielten für ihre Neutralität in den Auseinandersetzungen des Kaisers mit dem Lombardenbund wieder weitreichende Handelsprivilegien, diesmal für Süditalien. Nur kurz geht Eva Schlotheuber auf den feierlichen adventus des Markgrafen von Mähren und künftigen Königs Karl IV. im Sommer des Jahres 1337 ein. Schon zuvor hatten die Venezianer versucht, ihn zu einem Aufenthalt in der Stadt zu nötigen, offenbar um ihn so symbolisch zum Verbündeten gegen Verona zu machen; nur durch eine List gelang es ihm, sich dem zu entziehen. Umso interessanter wäre es da gewesen, mehr über die Umstände des wenig späteren offiziellen Besuchs zu erfahren.
Um 1400 statteten gleich drei byzantinische Kaiser Venedig einen Besuch ab, als sie auf der Suche nach Hilfe gegen die Osmanen in den Westen reisten, wie Niccolò Zorzi darlegt. Im Frühjahr 1370 wurde Johannes V. zwar ein prachtvoller Empfang bereitet, doch zwangen die Venezianer den hoch verschuldeten Kaiser zu einem fast einjährigen Aufenthalt, bis er die Erklärung abgab, die Insel Tenedo abtreten zu wollen. Sein Sohn musste dabei vermitteln, der dann als Kaiser Manuel II. in den Jahren 1400 und 1403 wiederkehrte. Auch dessen Sohn Johannes VIII. machte 1423/24 und 1438/39 in der Lagune Station.
Gleich dreimal suchte Friedrich III. Venedig auf, einmal noch als Erzherzog (1436), zweimal als Kaiser (1452 und 1469). Claudia Märtl kann detailreich zeigen, dass gerade in dieser Zeit „sich das Prozedere des venezianischen Empfangszeremoniells für hochgestellte Persönlichkeiten zu der gut bezeugten frühneuzeitlichen Form verfestigte“ (S. 185). Dazu gehörten schon bei Friedrich nicht nur das Einholen mit dem goldfarbenen Prachtschiff, dem Bucintoro, trionfi und Empfänge, sondern auch ein ausgefeiltes kirchlich/weltliches Besuchsprogramm, Stierhatzen und Wasserspiele (zu den Prunkregatten in der Frühen Neuzeit handelt Tobias C. Weißmann) – öfter zog Friedrich auch in kleiner Begleitung zum Souvenirkauf aus: con habiti incogniti, wobei er wie ein „guter Kaufmann“ gefeilscht haben soll (S. 191, 199). Ein Teil der Ehren wurde auch Botschaftern gewährt, was Stefanie Cossalter-Dallmann am Beispiel der französischen Diplomaten für das 16.–18. Jahrhundert zeigen kann. Aus dieser Zeit erfahren wir vermehrt von Einkäufen oder Vergnügungen des Hochadels in Verkleidung, was im 18. Jahrhundert zu einer elaborierten Inkognito-Praxis führte, wie Stephan Oswald am Beispiel König Friedrichs IV. von Dänemark und Norwegen, Carl Eugens von Württemberg, Josefs II. und des russischen Thronfolgers Pawel Petrowitsch, des späteren Zars Paul I., veranschaulicht.
Die Neugier, die das Cover des schönen Buches durch den Schlüssellochblick auf ein barockes Gemälde weckt, wird nicht enttäuscht. Mit einer Langzeitperspektive von bald 1000 Jahren werden in großer Anschaulichkeit Höhepunkte im rituellen Leben einer vormodernen Metropole ausgebreitet, die je länger desto mehr wie kaum eine andere gerade für die von ihr perfektionierten Zeremonien stand – immer auch zur Beförderung ihrer politischen und ökonomischen Interessen, versteht sich.
Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu den Tagungsbericht: Venedig als Bühne. Organisation, Inszenierung und Wahrnehmung europäischer Herrscherbesuche, 09.12.2015–11.12.2015 Venedig, in: H-Soz-Kult, 08.04.2016, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6477 (10.10.2017)
2 Vgl. beispielsweise Klaus Bergdolt, Deutsche in Venedig. Von den Kaisern des Mittelalters bis zu Thomas Mann, Darmstadt 2011, S. 18.