In seinem 1888 veröffentlichten utopischen Roman „Looking Backward“ beschreibt der amerikanische Autor Edward Bellamy die Zeitreise eines jungen Amerikaners, der 1887 in tiefen Schlaf fällt und im Jahr 2000 wieder aufwacht. Die Welt, die der Protagonist 113 Jahre später vorfindet, ist eine andere geworden. In den USA herrscht ein demokratischer Sozialismus, der keine Wirtschaftskrisen, keine Ungleichheit und keine gewalttätigen Konflikte zwischen Arbeitern und Industriellen mehr kennt. Die paradiesischen Zustände des Jahres 2000 kontrastieren aufs Schärfste mit den Erfahrungen des Gilded Age. Wie der junge Mann sich später erinnert, seien damals alle von einem „specter of Uncertainty“ verfolgt worden. Angesichts schwerer Wirtschaftskrisen, Ernteschwankungen und unsicherer Arbeitsbedingungen sei kein Vermögen sicher und kein Erfolg von Dauer gewesen. 130 Jahre nach dem Erscheinen von Bellamys Roman geht die amerikanische Historikerin Jamie Pietruska den Versuchen von Bellamys Zeitgenossen nach, das Gespenst der Unsicherheit zu bannen. „Looking Forward“, das auf Pietruskas 2009 am Massachusetts Institute of Technology eingereichter Dissertation beruht, erzählt die Geschichte der Prognostik in den USA von 1860 bis 1920.
Pietruska interessiert sich für verschiedene Felder der Prognostik: Ernte-, Wetter- und Preisprognosen untersucht sie ebenso wie die utopischen Romane von Bellamy und die vor allem von Einwanderinnen praktizierte Wahrsagerei. Ausdrücklich möchte die Autorin nicht mit dem Blick der Nachgeborenen zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Prognosepraktiken unterscheiden. Schließlich seien die Grenzen umkämpft gewesen und hätten sich im Lauf des Untersuchungszeitraums mehrfach verschoben. Pietruskas Ziel ist es, „die erste Synthese“ (S. 5) der Geschichte verschiedener Prognosefelder zu liefern, da diese, so ihre Annahme, gleichermaßen zur Entstehung einer „culture of prediction“ (S. 11) in den USA beigetragen hätten. Diese Kultur habe sich in den 1860er-Jahren entwickelt, als Prognosen einen immer größeren Stellenwert im Leben der meisten Amerikanerinnen und Amerikaner bekommen hätten, und sei bis heute prägend. Kennzeichen der Kultur sei nicht nur die starke Präsenz von Zukunftswissen, sondern auch eine anhaltende öffentliche Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen prognostischer Methoden.
In fünf Kapiteln untersucht Pietruska anhand ausgewählter Episoden, wie sich die Semantiken, Praktiken, Infrastrukturen und Ziele der Prognostik gewandelt haben. Während ihr erstes Kapitel die Konflikte beleuchtet, die sich an den Prognosen von Baumwollernteerträgen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entzündeten, setzen sich ihr zweites und drittes Kapitel mit der Geschichte der Wetterprognostik in den USA seit den 1870er-Jahren auseinander. Anhand von Berichten der Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gegenden untersucht Pietruska zum einen die Herausforderungen, die sich beim Aufbau eines nationalen Wetterdienstes stellten (Kapitel 2), und zum anderen die Diskussionen, die staatliche und private Wetterprognostikerinnen und -prognostiker über die Wissenschaftlichkeit der eigenen Vorhersagen führten (Kapitel 3). Mit dem Preisprognostiker Samuel Benner, dem Schriftsteller Edward Bellamy und dem Meteorologen Henry Helm Clayton nimmt das vierte Kapitel drei Männer in den Blick, die keinen akademischen Hintergrund besaßen, mit ihren ökonomischen Prognosen am Ende des 19. Jahrhunderts aber dennoch eine breite Leserschaft erreichten. Im fünften Kapitel zeichnet die Autorin die juristischen Auseinandersetzungen nach, welche die Wahrsagerei im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert begleiteten.
„Looking Forward“ überzeugt am meisten, wo es Pietruska gelingt, die zeitgenössischen Debatten um die Definitionen von Glaubwürdigkeit und Wissenschaftlichkeit, die zugleich epistemische Konflikte über die Möglichkeiten und Grenzen der Prognostik darstellten, anhand ihres reichen Quellenmaterials zu rekonstruieren und zu veranschaulichen. Es gehört zu den Ironien der Geschichte der Prognostik, dass die historischen Akteurinnen und Akteure die eigenen Grenzziehungen mitunter torpedierten und sich die Methoden der zuvor als unwissenschaftlich bekämpften Gegenseite zu Eigen machten. Meist geschah dies stillschweigend wie im Fall der Mitarbeiter des Nationalen Wetterdienstes, welche die langfristigen Prognosen kommerzieller Wetterpropheten lang als unwissenschaftlich diskreditiert hatten, bevor sie schließlich selbst langfristige Wetterprognosen abgaben. Da derartige Episoden belegen, dass die Praktiken von Prognostikerinnen und Prognostikern mit und ohne akademischen Hintergrund einander beeinflusst und verändert haben, überzeugt hier Pietruskas breiter Zugriff.
Eine von Pietruskas zentralen Beobachtungen ist, dass die Prognostik im Laufe ihres Untersuchungszeitraums paradoxerweise zu einer Akzeptanz der Zukunftsunsicherheit geführt habe. Ihre Studie bestätigt damit die verbreitete These, dass der im 19. Jahrhundert vorherrschende Positivismus um die Jahrhundertwende durch ein probabilistisches Denken abgelöst worden sei, fügt dieser Erzählung aber eine neue Dimension hinzu. Denn während sich Untersuchungen der „probabilistischen Revolution“ bislang weitgehend auf die Theorien wissenschaftlicher Eliten und ihre Verbreitung beschränkt haben1, wendet sich Pietruska Prognostikerinnen und Prognostikern zu, die zum großen Teil keinen akademischen Hintergrund besaßen. Damit kann sie zeigen, wie andere Berufsgruppen mit dem Gefühl wachsender Unsicherheit umgingen und sich an der Herstellung von Zukunftswissen beteiligten. Warum sich Felder wie die Ökonomie der probabilistischen Revolution entzogen, vermag Pietruska nicht zu beantworten. Zwar bezeichnet sie die drei in ihrem Buch vorgestellten Wirtschaftsprognostiker als „counterrevolutionaires in the probabilistic revolution“ (S. 158), führt jedoch keine Gründe für die Sonderstellung an. Gerade um die These einer wachsenden Akzeptanz der Offenheit der Zukunft zu stärken, wäre hier eine ausführlichere Diskussion wünschenswert gewesen.
Auch andere Aspekte hätten stärker beleuchtet werden können. Beispielsweise wirken die in der Einleitung gestreuten Verweise auf die „new history of capitalism“ halbherzig und wie nachträglich angefügt. Pietruska behauptet, dass „the entanglement of technoscience and capitalism” ein zentrales Thema ihres Buches sei (S. 7), kommt im Lauf ihrer Untersuchung aber nicht mehr darauf zurück. Auch wenn die Autorin schreibt, dass „[t]he epistemic dimensions of forecasting belong to what Jeffrey Sklansky has characterized as ‚the history of disciplines, genres, paradigms, and other frames of representation, in which capitalism appears as a way of seeing, a mode of organizing and conveying knowledge’“ (S. 7), wäre eine Erklärung und Präzisierung wünschenswert gewesen. Doch während dieses „Begriffsdropping“ zu den vernachlässigbaren Begleiterscheinungen einer um Relevanz und Aufmerksamkeit bemühten Einleitung gehört, sind andere Lücken bedauerlicher. Das gilt insbesondere für die Prognosepraktiken selbst, die in der gesamten Darstellung recht kurz kommen. Während Pietruska untersucht, in welchen Infrastrukturen die unterschiedlichen Prognosen entstanden sind, hätte ein stärkerer Fokus auf die Praktiken zu zeigen erlaubt, inwiefern Prognosepraktiken selbst neue Infrastrukturen geschaffen haben.2 Das hätte den Begriff der „culture of prediction“ schärfen und letztlich überzeugender machen können.
Das aber sind die Kosten eines breiten Zugriffs, der auf der anderen Seite große Vorteile mit sich bringt. So betrachtet Pietruska mit dem späten 19. Jahrhundert einen Untersuchungszeitraum, der in der Geschichte der Prognostik bisher wenig Aufmerksamkeit fand. Damit gelingt es ihr, gleich zwei gängige Periodisierungen zu hinterfragen. Zum einen belegt ihre Studie, dass die professionelle Prognostik nicht erst in der Nachkriegszeit im Kontext von Kaltem Krieg und Zukunftsforschung entstand, wie zuletzt des Öfteren behauptet wurde.3 Zum anderen zeigt sie, dass „the Search for Order“, die laut Robert Wiebe und nachfolgenden Historikergenerationen das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert charakterisiert habe, komplexer war als bislang angenommen, da die Suche nach Ordnung, von der auch die Prognostik zeugt, letztlich auch eine größere Akzeptanz von Unsicherheit mit sich bringen konnte.
„[T]he ‚specter of Uncertainty’ haunts us still, evident in the very extent to which we are beholden to the routinized forecasts of everyday life“, stellt Jamie Pietruska in ihrem Schlusskapitel fest (S. 264). Aber verfolgt uns das Gespenst der Unsicherheit tatsächlich noch wie zu Bellamys Zeiten? Belegt Pietruskas Studie nicht vielmehr, dass die Herstellung von Zukunftswissen auch ein Mittel war, mit der eigenen Zukunftsunsicherheit umzugehen und ihr dadurch womöglich auch ihren Schrecken zu nehmen? Dass man das Fazit der Autorin durch diesen Gedanken ergänzen möchte, ist ein Verdienst ihrer Untersuchung.
Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Ian Hacking, Nineteenth Century Cracks in the Concept of Determinism, in: Journal of the History of Ideas 44 (1983), 3, S. 455–475; Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990; Lorenz Krüger / Lorraine Daston / Michael Heidelberger (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, Bd.: 1, Cambridge, MA 1987; Lorenz Krüger / Mary S. Morgan / Gerd Gigerenzer (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, Bd.: 2, Cambridge, MA 1990.
2 Zur generierenden und gestaltenden Wirkung von Vorhersagen siehe zum Beispiel Grégoire Mallard / Andrew Lakoff, How Claims to Know the Future are Used to Understand the Present. Techniques of Prospection in the Field of National Security, in Charles Camic / Neil Gross / Michèle Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making, Chicago u.a. 2011, S. 339–377. Zu wirtschaftswissenschaftlichen Instrumenten als „mediating instruments” siehe Peter Miller / Ted O’Leary, Mediating Instruments and Making Markets. Capital Budgeting, Science and the Economy, in: Accounting, Organizations and Society 32 (2007), S. 701–734.
3 Vgl. Jenny Andersson, The Great Future Debate and the Struggle for the World, in: The American Historical Review 117 (2012), 5, S. 1411–1430; Matthew Connelly u. a., „General, I Have Fought Just as Many Nuclear Wars as You Have“. Forecasts, Future Scenarios, and the Politics of Armageddon, in: The American Historical Review 117 (2012), 5, S. 1431–1460.