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Titel
Verortungen in der Jerusalemer Altstadt. Lebensgeschichten und Alltag in einem engen urbanen Raum


Autor(en)
Becker, Johannes
Reihe
Urban Studies
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Evelyn Runge, Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences, The Hebrew University of Jerusalem

Jerusalem – der Name dieser Stadt ruft Assoziationen hervor: religiöse, politische, kulturelle, historische; egal, ob man selbst schon mal vor Ort war oder nicht. Besonders die Altstadt mit Stätten der Weltreligionen wie der Klagemauer, der Al-Aqsa-Moschee und der Grabeskirche sind im Zentrum der Vorstellungen über diese Stadt. Touristen passieren auf dem Weg dorthin enge Gassen mit Händlern, die Olivenholzschnitzereien, Keramik, Kippas und Kaschmirschals, Kebab, Falafel und Hummus feilbieten. Nach 19 Uhr legt sich Ruhe in die Altstadt und die Bewohner sind unter sich: 40.000 Menschen auf einem Quadratkilometer innerhalb der Altstadtmauern. Über das Leben dieser Menschen, ihre Beziehungen untereinander und ihr Verhältnis zum Raum, in dem sie leben, ist wenig bekannt.

Der Göttinger Sozialwissenschaftler Johannes Becker hat sich deshalb in seiner Dissertation mit dem Titel „Verortungen in der Jerusalemer Altstadt. Lebensgeschichten und Alltag in einem engen urbanen Raum“ auf intensive Recherche in die Altstadt begeben. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient zeichnete die Arbeit im Jahr 2017 als hervorragende Dissertation aus. In zehn Kapiteln verknüpft Becker Biografieforschung mit Raumsoziologie, fasst die Geschichte Ostjerusalems seit der Gründung Israels 1948 und die gegenwärtige Situation zusammen und widmet sich ausgiebig seinen Forschungsräumen innerhalb der Altstadt. Diese sind die Menschen in der „Kleine[n] Nachbarschaft“, „Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel“ und „Mönche in der Jerusalemer Altstadt“ (S. 5ff.). Als Methode nutzt der Autor biografisch-narrative Interviews (S. 69), die er mit 35 Personen führte (S. 15, 81), sowie teilnehmende Beobachtungen als Helfer in einem Lebensmittelladen, die zwischen 2010 und 2015 in Jerusalem stattfanden (S. 14ff., 59, 75, 81). Besonders herausfordernd gestaltete sich, Gesprächspartner/-innen zu finden und diese später zu anonymisieren. Denn obwohl in der Altstadt etwa 40.000 Menschen leben, sind seine Forschungsräume zum Teil sehr klein gewesen: „Nur ca. 500 Palästinenser/-innen wohnen im erweiterten Jüdischen Viertel und nur eine dreistellige Zahl an Mönchen sind in Jerusalem. Im dritten Forschungsraum, der kleinen Nachbarschaft, ist es besonders die das Feld bestimmende Großfamilie, die eine Anonymisierung erschwert. Drittens sind durch die medialen polit-aktivistischen Repräsentationen der Altstadt einige meiner Interviewpartner/-innen auch in anderen Kontexten recherchierbar – das trifft besonders auf die Mönche, aber auch auf die Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel zu.“ (S. 84) Becker beschreibt seinen Eindruck, dass ihm als Forscher „bestimmte Informationen über das Zusammenleben in der kleinen Nachbarschaft bewusst“ vorenthalten wurden (S. 171) und dass Interviews mit muslimischen Frauen „systematisch verunmöglicht“ (S. 199) wurden.

Beckers ursprüngliche Idee, möglichst viele unterschiedliche Menschen in der Altstadt zu interviewen, ließ sich nicht umsetzen: Die Rekonstruktion der vielfältigen und komplexen „Figurationen verschiedener Gruppierungen in der eigentlich recht kleinen Altstadt“ (S. 59) sei nicht zu leisten. „Zudem wurde klarer, dass die Bewohner/-innen verschiedene räumliche und soziale Unterteilungen und Kategorisierungen in der Altstadt vornahmen.“ (S. 59) Becker fokussierte sich somit auf drei Forschungsräume (S. 62ff.). Als „kleine Nachbarschaft“ definierte er die Umgebung des Lebensmittelladens, der Zentrum seiner teilnehmenden Beobachtung war. Christliche und muslimische Palästinenserinnen und Palästinenser, die im erweiterten Jüdischen Viertel leben, bildeten Beckers zweiten Forschungsraum: „Die numerische Minderheitenposition der zurückbleibenden Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel ist auch wegen ihrer geringen Machtchancen mit einer Außenseiterposition in der Figuration mit den im Viertel wohnenden Jüdinnen und Juden und den israelischen Institutionen (Stadtverwaltung, israelischer Staat) verknüpft. […] Auf der anderen Seite stehen von der palästinensischen Gesellschaft herangetragene Forderungen, als Form nationalen Widerstands den palästinensischen Besitz mit aller Kraft zu halten.“ (S. 65) Als dritten Forschungsraum interessierte sich Becker für die Mönche in der Altstadt, die teils freiwillig, teils unfreiwillig durch Entsendung ihrer jeweiligen Kirche in Jerusalem leben: „Die Rekonstruktionen der Interviews mit den Mönchen können zur Diskussion beitragen, was es heißt zu lernen, Teil eines Ortes zu werden, wie man sich selbst dort verortet und inwieweit man gezwungen ist, die vorherrschenden Interpretationsmuster zu übernehmen.“ (S. 66; vgl. auch S. 333ff., 378f., 381f.)

Becker versteht Orte als „die primäre, ‚naheliegende‘ Ebene des Erlebens. Im Ort fallen ‚Raum und Zeit‘ zusammen. […] Dadurch, dass Orte durch Interaktionen mitkonstituiert werden und gleichzeitig die Fähigkeit haben anzusammeln [Materialien, Erinnerungen, Geschichten; E.R.], können sie nicht als statisch betrachtet werden.“ (S. 388) Von ihren Bewohnern wird die Altstadt Jerusalems personalisiert, was Becker als Ausdruck starker emotionaler Verbundenheit interpretiert (S. 241) oder gar als Schicksalsmacht dargestellt: „Der Stadt Jerusalem wird – wie in anderen Fällen in meinem Sample – eine schicksalsbestimmende Rolle zugeschrieben, die auch als Erklärung für belastende Lebensverläufe herhalten muss.“ (S. 247).

Interessant ist zudem, dass das Leben für die palästinensische Bevölkerung in der Jerusalemer Altstadt nicht allein durch die Herrschaft Israels erschwert wird: Becker verdeutlicht durch seine Interviews, dass es gesellschaftliche Probleme innerhalb der untersuchten Forschungsräume gibt. Eine Gesprächspartnerin berichtete, nachdem ihr Ehemann die Interviewsituation verlassen hatte und sie allein mit ihren Kindern und Becker war, dass sie unter Gewalt ihre Ehe leide (S. 259). Eine andere weibliche Gesprächspartnerin berichtete, wie sie sich selbst ihren Weg ins Studium gegen den Willen ihrer Familie erstritten hat; aber auch von physischer Gewalt ihres Bruders ihr gegenüber (S. 285ff.). Auch männliche Gesprächspartner erzählten Becker über den Druck, den ihre Familien auf sie ausüben, etwa in der Partnerinnenwahl und in der Wahl ihres Lebensmittelpunkts. So berichtet Karim (S. 242ff.) von seinen Jahren in Deutschland und seiner dortigen Liebesbeziehung zu einer Syrerin. Seine Familie war gegen die Beziehung und forderte Karims Rückkehr in die Jerusalemer Altstadt. Immer wieder berichten Beckers Gesprächspartner von Familiengeheimnissen, zum Beispiel, „weil sie nicht den dominanten Vorstellungen dort entsprechen: religiöse Konversion, Sympathien für den israelischen ‚Feind‘, ‚unmoralisches‘ Leben und die Annahme der israelischen Staatsbürgerschaft. Muhammads Mutter und sein zwei Jahre jüngerer Bruder sind wie seine Tante heimlich zum Christentum konvertiert, und er ist in der Familie der einzige Mitwissende.“ (S. 250) Dazu gehört auch, dass Muhammad in israelische Clubs geht und in der Jerusalemer Stadtverwaltung arbeitet: „An einer Stelle während unserer Unterhaltung ruft er aus, dass er doch viel lieber Israeli sei als Palästinenser.“ (S. 255)

Becker bietet eine reichhaltige Untersuchung des Lebens in der Altstadt von Jerusalem. Es gelingt ihm aufzuzeigen, dass seine Protagonisten ihr Leben zwischen Einengung und Erweiterung gestalten. Auch in historischer Hinsicht schreibt Becker gegen Stereotypisierungen an, so rekonstruiert er beispielsweise, wie die heute bekannte Aufteilung der Altstadt in vier ethno-religiöse Viertel entstanden ist und zum vorherrschenden Narrativ wurde (S. 114ff.). Mitunter ermüdend zu lesen sind allerdings die oft paraphrasierten Lebensgeschichten seiner Protagonisten, die Dutzende von Seiten füllen. Es ist verständlich, dass zu Dokumentationszwecken diese Art der Darstellung gewählt worden ist; für einen konzentrierteren Spannungsbogen zu Gunsten der Leserin hätte dem Text eine straffende Überarbeitung jedoch gutgetan. Wer nach der Lektüre nochmals die Altstadt Jerusalems besucht, wird ihre Einwohnerinnen und Einwohner jedenfalls neu betrachten – und sich vielleicht auch in Gassen wagen, die abseits der Touristenwege liegen: in die Wohnviertel.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/