D. van Laak u.a. (Hrsg.): Schreibtischtäter

Cover
Titel
Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie


Herausgeber
van Laak, Dirk; Rose, Dirk
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Becker, Institut für Geschichte, Universität Wien

Wer sich von Christoph Jahrs Beitrag zur Begriffsgeschichte des „Schreibtischtäters“ dazu animieren lässt, im Internet die unter diesem Stichwort verlinkten Bilder zu betrachten, wird eine überraschende Ausweitung des semantischen Feldes feststellen. Eine Personal-Coaching-Website zeigt etwa unter der Überschrift „Sind Sie ein Schreibtischtäter?“ eine junge Frau, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Schreibtisch abstützt und sich mit der anderen Hand verzweifelt an die Lendenwirbelsäule greift. Die Erklärung wird mitgeliefert: „Durch die jahrelange Schreibtischtäterschaft und zu wenig Bewegung kann sich die Struktur der Muskeln verändern.“1

Das Bild der „Schreibtischtäterin“ von heute steht in einem Spannungsverhältnis zum Umschlagbild des Sammelbandes von Dirk van Laak und Dirk Rose, das bei der Internetrecherche ebenfalls an prominenter Stelle auftaucht. Auf dem Cover findet sich Adolf Eichmann als Schreibtischtäter par excellence. Diese Identifikation wird visuell durch seine Position am Schreibtisch der israelischen Gefängniszelle unterstützt. Rose löst in seiner programmatischen Einleitung den „Schreibtischtäter“ jedoch aus seiner exklusiven Assoziation mit Eichmann und dem Holocaust. Er charakterisiert diese Figur als „ein Phänomen der Moderne, das bestimmte schriftkommunikative Infrastrukturen voraussetzt“ (S. 13). Diese Öffnung wird durch die semantische Breite des Begriffs gefördert. Sie ist letztlich dadurch bedingt, wie Annette Weinke in ihrer Spurensuche nach der Figur des Schreibtischtäters zeigt, dass er als politische Metapher auf sprachlicher Ebene „logisch nicht kompatible Bereiche wie ‚Täter‘, ‚Mord‘ und ‚Schreibtisch‘“ miteinander verknüpft (S. 224).

Rose verweist gleichzeitig auf die spezifische Form von Täterschaft, bei der „Planung und Ausführung voneinander getrennt sind“ (S. 13f.). Wenn man die 15 Hauptbeiträge des Bandes Revue passieren lässt, zeigt sich ein breites Spektrum von Tätern, die hier diskutiert werden: Es reicht von der publizistischen Heimatfront im Ersten Weltkrieg und den NS-Massenverbrechen über die DDR-Mauerschützen bis hin zu britischen Entdeckungsreisen, den Bauprojekten der Kriegs- und Nachkriegszeit, dem verwaltungstechnischen Umgang mit deutschen Vermögenswerten in der Schweiz und der ironischen Selbstbezeichnung von Elfriede Jelinek als Schreibtischtäterin. Diese Bandbreite analytischer Bezüge führt zu einer Aufweichung der Begrifflichkeit, die zwar noch nicht die Schreibtischtäterin aus der Werbung mit umfasst, allerdings den Weg dorthin ebnet. Denn nicht jeder Teilnehmer an komplexen administrativen und wissenschaftlichen Abläufen, der Entscheidungen über Handlungen und Unterlassungen disloziert und vom Schreibtisch aus trifft, kann aus meiner Sicht mit dem Begriff des „Schreibtischtäters“ bezeichnet werden. Es fehlt nämlich der Bezug zu Gewaltakten als zusätzliches Kriterium, das auch Dirk Rose in seiner Einleitung hervorhebt (S. 13f.).

Dem Untertitel des Buches gemäß – „Begriff – Geschichte – Typologie“ – hat die begriffs- und diskursgeschichtliche Spurensuche einen hohen Stellenwert. Die erste von vier Sektionsüberschriften lautet daher auch „Begriff“. Nach der Lektüre erschien mir die Zuordnung der einzelnen Aufsätze nicht mehr ganz plausibel. So findet sich im Abschnitt „Begriff“ neben den beiden im engeren Sinne begriffsgeschichtlichen Beiträgen von Gustav Seibt und Christoph Jahr auch noch der gelungene Beitrag von Kerstin Hofmann über die Zentrale Stelle in Ludwigsburg, der aber eher zum Themenfeld „Bürokratie“ gehört, also in die zweite Sektion. Jan Schlössers „strafjuristische[r] Blick auf den Schreibtischtäter“, ebenfalls dem Oberthema „Begriff“ zugeordnet, diskutiert sehr kompetent die strafrechtliche Frage von Schuld und Verantwortung (wie eine Reihe anderer Beiträge auch), setzt sich aber nicht mit dem Begriff selbst auseinander. Dagegen steht Annette Weinkes Beitrag, der sich für die Ausgestaltung der Figur des Schreibtischtäters „in den gewaltkritischen Diskursen der Nachkriegszeit“ interessiert, ebensowenig im Abschnitt „Begriff“ wie René Schlotts Reflexionen zum „Typus des Schreibtischtäters“ im Werk von Raul Hilberg, obwohl sich diese beiden Texte systematisch mit diskursgeschichtlichen Fragen befassen und damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der diskursiven Felder leisten, in dem der Begriff „Schreibtischtäter“ entstanden ist und seine Wirksamkeit entfalten konnte. Zusammen mit weiteren Aufsätzen gehören diese Texte zum Abschnitt „Rekonstruktionen“.

Die begriffsgeschichtliche Spurensuche führt Christoph Jahr zur deutschsprachigen Publizistik der 1960er-Jahre und dabei vor allem auf die Presseberichterstattung über den Eichmann-Prozess. Er betont jedoch, dass bereits vor der begrifflichen Verdichtung das Phänomen von Intellektuellen im amerikanischen Exil diskutiert wurde. Die in diesen Diskussionen greifbare Figur des Schreibtischtäters steht wie erwähnt im Mittelpunkt von Weinkes Beitrag, der leider weder durch einen Sachindex noch durch Querverweise auf Jahrs Überlegungen bezogen ist. Weinke findet erste, klar artikulierte Spuren in den Nuremberg Military Tribunals und deren materiell-rechtlichen Innovationen, die Beihilfe, Anstiftung und Zustimmung zu den Massenverbrechen unter Strafe stellten; so schließt sie an Schlössers Überlegungen zur Verantwortlichkeit im Rahmen der Organisationsherrschaft an. Auch diese Bezüge werden von den Herausgebern nicht leicht nachvollziehbar gemacht. Der von Weinke angesprochene „Quantensprung in der internationalen Rechtsentwicklung“, der „Gestaltungsspielräume von Organisationstätern in arbeitsteiligen Machtapparaten in den Blickpunkt“ rückte (S. 226), war ein wichtiges Element des diskursiven Feldes, in dem der Begriff des Schreibtischtäters schließlich geprägt wurde. Zu diesem Feld zählten auch Hilbergs Überlegungen, der diesem Tätertypus bereits in seinen frühen Arbeiten einen zentralen Stellenwert einräumte, ohne ihn als solchen zu benennen: „Geradezu apodiktisch lautet sein Urteil, dass ohne den Bürokraten der Vernichtungsprozess kaum in Gang gekommen wäre. […] Die Partei lieferte die Ideologie, die Staatsverwaltung bot die Mechanismen zu ihrer Umsetzung.“ (Schlott, S. 269)

Es zeichnet diesen Band aus, dass die Herausgeber wie auch die Autorinnen und Autoren sich der Schwierigkeit bewusst sind, eine interdisziplinäre Genealogie des Schreibtischtäters zu erarbeiten, die seiner Komplexität gerecht wird. Wie Rose betont, sind die wirtschaftlichen, bürokratischen und politischen Abläufe der modernen Welt insgesamt durch „zerdehnte Kommunikation“ bestimmt. Mit diesem Begriff des Linguisten Konrad Ehlich nähern sich die Herausgeber der Frage, wie planende und administrierende Tätigkeit am Schreibtisch mit der Tat in Verbindung steht und wie die Verantwortung für Handlungen bestimmt werden kann, die innerhalb eines Kommunikationsaktes „durch den Eintritt eines Mediums in je eigenständige Teile zerfällt“ (S. 21). Der Missbrauch von Staatsgewalt innerhalb derartiger Strukturen wird in diesem Band nicht nur im Blick auf die NS-Herrschaft diskutiert. Anhand der zeitgleichen Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus und vor allem mit dem Algerienkrieg argumentiert Weinke, dass die Aufarbeitung des Holocaust eine „Sensibilisierung für das demokratiegefährdende Potential von Staatsverbrechen“ erreicht und eine transnationale Diskussion zu „Themen wie Verantwortung, Gerechtigkeit und Formen (genozidaler) Täterschaft“ initiiert habe (S. 238f.).

Schuld und Verantwortung sind offensichtlich zentrale Themen dieses Bandes. Sie werden in unterschiedlichen literarischen Genres ebenso verfolgt wie auf juristischer und zeithistorischer Ebene. Im schon genannten Beitrag von Kerstin Hofmann über die Einrichtung einer Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen werden die Herausforderungen an die Sicherstellung von Evidenzen durch umfangreiche Archivrecherchen untersucht. Die Autorin weist dabei auf einen Vorteil der „zerdehnten Kommunikation“ hin: die schriftlichen Spuren, die im bürokratischen Schriftverkehr hinterlassen werden und zum Nachweis von Handlungsspielräumen dienen können. Eine solche detektivische Spurensuche bleibt nicht auf die Gerichte und Historischen Seminare beschränkt. Sie findet sich auch in der Jugendliteratur. Der österreichische Autor Erich Hackl nutzte in seiner Erzählung „Abschied von Sidonie“ (1989) Zitate aus Verwaltungsakten, um die gängige Argumentationsfigur des Befehlsnotstandes „als schäbigen Versuch der Selbstentlastung“ zu entlarven, wie Kerstin Gittinger überzeugend darlegt (S. 201).

Die Frage nach Schuld und Verantwortung wird in einer noch allgemeineren Form gestellt: Unter welchen Umständen können Worte zu Taten werden? Sarah Mohi-von Känel und Norman Domeier diskutieren in diesem Zusammenhang die Rolle von Literaten und Journalisten im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Bereits während des Ersten Weltkriegs äußerte Karl Kraus bissige Kritik an „Schreibtischkämpfern“ (ein Begriff der Autorin), die sich als solche stilisierten. Mohi-von Känel zitiert Kraus’ niemals erfüllte Forderung, „nach Friedensschluss die Kriegsliteraten einzufangen und vor den Invaliden auszupeitschen“ (S. 168). Mit Bezug auf den Holocaust erläutert unter anderem Gustav Seibt die Bedeutung des journalistischen, juristischen und wissenschaftlichen Schreibens: „Den Tätern in den Planungsbüros, den ministeriellen Stäben, bei Polizei und Heer sind intellektuelle Täter vorausgegangen, gefolgt vom Fußvolk der Journalisten und Propagandisten. Sie teilten die Menschen in lebenswertes und lebensunwertes Leben ein […].“ (S. 30)

Wie ging die deutsche Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der strukturellen wie persönlichen Verantwortlichkeit von Behörden und Beamten um? Darauf gibt der exzellente Beitrag von Johannes Platz Auskunft. Er untersucht die alltagskulturelle Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit dem Phänomen des Schreibtischtäters anhand von Meinungsumfragen und nicht ausgewerteten Gruppendiskussionen, die das Frankfurter Institut für Sozialforschung 1961/1962 zum Eichmann-Prozess durchgeführt hat. Dabei zeigt sich zusätzlich zur Entschuldigung mit dem Hinweis auf einen angeblichen Befehlsnotstand eine weit verbreitete Strategie von „Abwehr, Relativierungen, Schuldumkehr und wildeste[n] antisemitische[n] Projektionen“ (S. 260).

In seinem Schlusswort, einer „vorläufige[n] Bilanz“, greift Dirk van Laak das Konzept der Organisationsherrschaft nochmals auf, das die Verantwortung des mittelbaren Täters betont. Als analytischen und zugleich historischen Begriff sieht van Laak den „Schreibtischtäter“ auch weiterhin als ein geeignetes Instrument, um zweckrationale Verfahrenslogiken daraufhin zu befragen, ob damit Menschenrechte ausgehebelt, radikale Ausgrenzung betrieben und Menschenleben gefährdet werden. Die aktuelle politische Debatte und die darauf bezogenen bürokratischen Verfahren zum Umgang mit Flüchtlingen sind hochaktuelle Bezugspunkte für einen so verstandenen Begriff.

„Schreibtischtäter“ ist ein facettenreicher Band, der den Begriff bzw. die Figur des Schreibtischtäters als roten Faden verwendet, um wesentliche völker- und strafrechtliche, politische und künstlerische Debatten der europäischen Nachkriegszeit auf eine neue Art zu analysieren. Die Beiträge sind allesamt von höchster Qualität und bieten wichtige Anregungen für künftige wissenschaftliche Diskussionen.

Anmerkung:
1http://zehnminutenerfolg.de/gesundheitstips/sind-sie-ein-schreibtischtater (10.09.2018).