Was für ein originelles Buch! Auf den ersten Blick ein second book, ist „Die Erfindung der Leistung“ eine Monographie, mit der Nina Verheyen Überlegungen und offenbar erste Ergebnisse ihrer an der Universität zu Köln entstehenden Habilitation zur sozialen Konstruktion von Leistung im Deutschland des 20. Jahrhunderts präsentiert, und das dabei sich ausdrücklich auf „populärem Terrain“ (S. 209) versucht. Ein solcher Hybrid zwischen Fach- und Sachbuch, der sowohl wissenschaftlich-differenzierend arbeitet als auch Leserschichten jenseits der scientific community anspricht, bedarf eines Themas mit Aufmerksamkeitsgarantie. Mit einer historischen Spurensuche nach der Idee des Leistungsgedankens als „Fundamentalnorm der Gegenwart“1 haben Verheyen und der Hanser Verlag offenbar ins Schwarze getroffen, wie diverse Rezensionen in überregionalen deutschen Tageszeitungen belegen.2
Verheyen geht in der Einleitung von einer einleuchtenden Grundprämisse aus: Leistung als Kategorie sei an sich nicht zu fassen, sondern entfalte nur im jeweiligen Kontext und je nach Perspektive Deutungskraft, was aber in der Debatte zwischen Leistungskritikern und -befürwortern häufig übersehen werde. Entsprechend lehnt Verheyen eine Positionierung explizit ab und will herausarbeiten, „wie sich das Leistungsparadigma im Laufe der Zeit verfestigt hat“ (S. 15), wobei Stabilisierungen und Widerstände, Modifizierungen von Leistungsvorstellungen und Praktiken mitbedacht werden. Die Studie ist damit diskursanalytisch angelegt, nutzt einen breiten Quellenkorpus aus Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Vorträgen, wissenschaftlicher wie klassischer Literatur und einigem mehr. Die Geschichte der Leistung schreibt Verheyen als „die Geschichte einer Unschärfeformel“ (S. 22), womit sie ihre These der Offenheit und Wandelbarkeit des Leistungsbegriffs elegant fasst.
Der erste Teil des Buches thematisiert die menschlichen Empfindungen von Leistung sowie die hinter ihnen liegenden sozialen Praktiken. Das Kapitel „Leistungsgefühle“ beschreibt, wie Leistung literarisch, biographisch, öffentlich und wissenschaftlich mit Freude und Leid verknüpft wurde und sich im immerwährenden Selbstzweifel der Sozialistin Lily Braun (1865–1916) genauso manifestierte wie im Freitod von deutschen Abiturienten. Unsicherheit, falsch verstandener Ehrgeiz, Leistungshybris – sie alle liefern die Psyche bereits der Ausbeutung aus, die damit nicht erst dem Neoliberalismus der Gegenwart zum Opfer fällt.3
All dies hat mit „Leistungspraktiken“ zu tun, Thema des herausragenden dritten Kapitels. Anhand der Deutungsmacht von Techniken der Leistungsmessung wie Schulnoten, des staatlichen Berechtigungswesens, des IQ-Tests und des Leistungswettbewerbs in Sport und Wissenschaft zeigt Verheyen überzeugend, wie problematisch dies werden kann, weil demnach „Leistung ist, was sie zur Leistung machen“ (S. 57). Schulnoten etwa suggerieren ein Leistungsniveau, das den Prozess des Lernfortschritts eines Schülers überhaupt nicht wiedergeben kann. Der IQ-Test, der in den 1920er- und 1930er-Jahren in den USA verwendet wurde, um die Bevölkerung „demokratisch und transparent“ (S. 77) auf Bildungsinstitutionen und Arbeitsplätze zu verteilen (was übrigens mit Demokratie ebenfalls nicht viel zu tun hat), entpuppte sich später als „Kulturtest“ (S. 79), als Stabilisator sozialer wie rassischer Segregation, da er maßgeblich von Übung abhing – die weißen Eliten weitaus eher möglich war als anderen. Individuelle Leistung wurde so zur realen Größe objektiviert, mit der Menschen unterschieden und hierarchisiert wurden – die beschriebenen Empfindungen des ersten Kapitels zeigen die Wechselwirkung und Wirkmächtigkeit dieser Techniken bis in das Individuum hinein.
Auf diesem Fundament baut Verheyen anhand von vier Kapiteln mit den Beispielen Leistungsarten, Leistungsbegriff, Leistungssteigerung und Leistungskritik den zweiten Teil des Buches auf. Hier veranschaulicht sie mit teilweise überraschenden Befunden die Wandelbarkeit und Ausprägung des Leistungsverständnisses vom frühen 19. bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts. In Kapitel 4 hält Verheyen dem „bürgerlichen Leistungsethos“ als narrativer Grundlage der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft quellennah die Geschichte von Ferdinand Beneke (1774–1848) entgegen. Der Jurist aus dem frühen 19. Jahrhundert habe zwar auch gearbeitet, und zwar mit großer Regelmäßigkeit. Aber mindestens genauso wichtig scheinen ihm die Kindererziehung, die Rolle des Ehemanns und die gesellschaftliche Aktivität gewesen zu sein. Zwar waren dies Selbststilisierungen, sie stützen jedoch Verheyens Argument, weil Beneke sich als idealer bürgerlicher Mann darstellte. Eigentlich, so zeigen es weitere Quellen, habe Beneke sogar als jemand gegolten, der eher zu viel als zu wenig gearbeitet habe. Leistung habe daher im bürgerlichen Wertehimmel vor allem als Selbstvervollkommnung gegolten und das Verb „Leisten“, so Verheyen in einem kleinen begriffsgeschichtlichen Exkurs, habe lange eher die Pflichten gegenüber anderen Menschen gemeint, nämlich im weitesten Sinne ‚Gesellschaft zu leisten‘, anstatt die eigene, individuelle Kraft hervorzuheben. Hier kann man nachfragen, ob nicht gerade die Geselligkeit eines Beneke, von Verheyen zu Recht als zusätzliche Anstrengung charakterisiert, nicht auch ganz wesentlich zum gesellschaftlich geforderten Leistungsrepertoire gehörte. Ähnliches könnte für die Kontrolle der ‚korrekten‘ Kindererziehung und die Präsentation des ‚funktionierenden‘ Familienlebens gelten. Auch der Hinweis, dass dieser exklusive Lebensstil überhaupt erst durch andere Menschen, beispielsweise als Dienstpersonal tätige, ermöglicht wurde, die ganz anderen Arbeits- und Leistungsanforderungen unterworfen waren, und darüber hinaus doch wohl ‚Leistungen‘ in Form von Finanzkraft voraussetzte, wird zwar genannt, kommt aber fast zu spät – eine frühere Relativierung hätte dem zunächst recht einseitigen Bild gutgetan.
Kapitel 5 thematisiert die keinesfalls einheitliche „Entstehung des modernen Leistungsbegriffs“ (S. 127) anhand der Teilbereiche (Arbeits-)Wissenschaft, Rechtslogik und Wohlfahrtsstaatlichkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Verheyen zeichnet nach, wie „Leistung“ mit dem Oberthema Arbeit verbunden wurde, zunächst als physikalisch-technische Größe, die die optimale Ausnutzung von Kraft maß. Durch die junge Physiologie und den Neuentwurf des menschlichen Körpers wanderte die Kategorie diskursiv vom Sozialen ins Physikalische – und wurde quantitativ vergleichbar. Mit der Gegenüberstellung von Leistung als „Schlüsselkategorie“ (S. 140) des Bürgerlichen Gesetzbuches und der damit einhergehenden Generalisierung von Leistung in vertraglich geregelten Arbeitsverhältnissen war sie aber nicht einseitig kapitalistisch auslegbar, sondern stand in einem ökonomisch-rechtlichen Wechselverhältnis. Verheyen kommt hier zu dem interessanten Befund, dass Leistung als „Grundbegriff der staatlichen Regulierung“ (S. 152) zu sehen sei, der die Marktlogiken abzufedern und einzuhegen half.
Mit Kapitel 6 und 7 springt Verheyen dann über das Fin de Siècle hinweg ins 20. Jahrhundert, in dem sich die Leistungsmessung zur Leistungssteigerung transformierte, was an der Ausbreitung des Sozialdarwinismus und dem Werk Francis Galtons (1822–1911) zur Vervollkommnung der ‚Menschenklasse‘ gezeigt wird. Ergänzt wird dies um die Entdeckung der körpereigenen Hormone und den daraus resultierenden Gedanken zur gezielten Leistungssteigerung in dieser „Epoche des Enhancement“ (S. 171). In Verbindung mit der Rationalisierung der Arbeit zeigt Verheyen nachvollziehbar – eindrücklich demonstriert am Kontroll- und Konkurrenzsystem des Warenhauses (S. 180f.) – wie neben dem Leistungsvergleich auch Leistungssteigerung zur menschlichen Alltagserfahrung wurden. Eine Erfahrung, die der Nationalsozialismus noch einmal pervertierte, die grundsätzlich aber gerade kein NS-Spezifikum darstellt, wie Verheyen zu Recht betont, sondern eine tiefere und längere Geschichte besitzt. Für die Zeit nach 1945 fasst sie die Debatten um die Leistungskritik von links und den durch Pierre Bourdieu und Michael Hartmann infrage gestellten Nimbus von Leistung als Generator sozialer Gerechtigkeit zusammen. Daraus folgt, dass individuelle Leistung schwerer auszumachen ist als zuvor, dies andererseits aber immer mehr zum Erfolgsmerkmal wird, womit Verheyens beeindruckende Geschichte in die aktuell ausgemachte „Gesellschaft der Singularitäten“4 mündet.
Nina Verheyen erzählt in ihrer schlanken, wunderbar leicht geschriebenen Studie die Geschichte der Leistung und kommt zu einem Ergebnis, das man sich immer wieder bewusstmachen sollte: Leistung ist keine gesetzte Kategorie, sondern historisch gewachsen und damit „genuin sozial“ (S. 206f.). Abwägend und differenzierend einerseits, mit gegenwartsbezogenen Pointen versehen andererseits, bietet dieses Buch Erkenntnisgewinn und Freude in einem. Mehr kann man einem Buch nicht wünschen – außer vielleicht eine bessere Nachweispolitik: Warum versieht man einen Endnotenapparat mit Textverweisen, wenn der Leser im Text selbst leider nur selten erahnen kann, dass überhaupt auf weitere Informationen verwiesen wird? Nicht nur deswegen darf man sich auf die Habilitationsschrift freuen, für die Verheyen schon Fußnoten versprochen hat.
Anmerkungen:
1 Kai Dröge/Kira Marrs/Wolfgang Menz (Hrsg.), Rückkehr der Leistungsfrage. Leistung in Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft, Berlin 2008, S. 7.
2 Vgl. die Übersicht auf Perlentaucher, https://www.perlentaucher.de/buch/nina-verheyen/die-erfindung-der-leistung.html (10.09.2018).
3 Vgl. Byung-Chul Han, Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt am Main 2014, insb. S. 43–46.
4 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel in der Moderne, Berlin 2017.