Die westliche Geschichtswissenschaft rückt seit einigen Jahren zunehmend von einer eurozentrischen Perspektive ab. Selbst nationalstaatliche Geschichte wird als Weltgeschichte geschrieben.1 „Provincializing Europe“2 mag, wenn es um die Entstehung der modernen Welt geht, ein letztlich die entscheidenden Entwicklungen nicht immer erhellendes Projekt sein. Im Kontext der Erforschung des ersten nachchristlichen Jahrtausends in welthistorischer Perspektive ist die „Provinzialisierung Europas“ ohne Zweifel von zentraler Bedeutung. Die Ursachen der Marginalisierung der westlichen Peripherie der Alten Welt haben Wickham und Ward-Perkins vor einigen Jahren ausgesprochen überzeugend dargelegt.3 Der Frage, warum es im muslimischen Orient zu einer derartigen Entwicklung nicht gekommen ist, ist erst jüngst wieder behandelt worden.4 Auch im hier zu besprechenden Werk von Johannes Preiser-Kapeller wird gleich zu Beginn auf die Unfähigkeit Karls des Großen verwiesen, wasserbauliche Projekte voranzutreiben, wie sie in Großreichen der Zeit üblich waren. Beispielhaft wird so der sozioökonomische Rückstand des nichtbyzantinischen Europa im frühen Mittelalter deutlich gemacht (S. 8ff.).
Es ist jedoch nicht dieser Rückstand, der im Mittelpunkt des Interesses von Preiser-Kapeller steht. Vielmehr geht es ihm um die globalen Verflechtungen der Alten Welt. Diesen geht er auf sechs unterschiedlichen Feldern nach.
Zunächst untersucht er die „Rhythmen imperialer Formationen“ in einer Art Synopse der Geschichte der großen Reiche zwischen Atlantik und Pazifik. Die Geschichte der Römer, Sassaniden, der muslimischen Araber, der Guptas und Hephtaliten, der Han und Tang wird in aller Kürze, aber doch gut lesbar vor dem Auge des Lesers ausgebreitet. Immer wieder werden auch Ursachen für Wandlungsprozesse im globalen Mächtegefüge angesprochen (katastrophale Kriege, Verlegung von Handelsrouten, Klimaveränderungen etc.). Der Leser erfährt anhand zahlreicher Bespiele, wie die hier untersuchten Großreiche miteinander interagierten, wie die Herrscher innerhalb der agrarischen Reiche Eliten und außerhalb der Reiche lebende periphere Einheiten (Steppenreiche, vorstaatliche Gesellschaften) an sich banden und unter welchen Umständen derartige Strategien in die Krise geraten konnten. Ausgehend von systematischen Überlegungen zum „Aufstieg und Fall der großen Mächte“, wie sie etwa für das Abbasidenreich durchaus vorliegen5 und die dann anhand anderer Reichsbildungen6 überprüft werden können, hätte hier ein Versuch vergleichender politischer Strukturgeschichte der Imperien der Zeit unternommen werden können. Stattdessen wird das Auf und Ab der Geschichte der Großreiche als das Ergebnis einer immer wieder ganz unterschiedlichen Summe von Einzelphänomenen geschildert. Das muss nicht falsch sein. Die mangelnden Vorhersagefähigkeiten der Sozialwissenschaften legen sogar nahe, dass die These, Reichsgründung und -verfall folge keinen allgemeinen Gesetzen, zutrifft. Die Frage bleibt letztlich aber ungestellt.
Im darauffolgenden Kapitel geht es vor allem um die kulturelle Vermittlung und Repräsentation der Macht in der Interaktion von Herrschern und zwischen Herrschern und Eliten. Preiser-Kapeller zeigt auf dem Weg zahlreicher Beispiele, wie in den von ihm untersuchten Reichen Macht und Herrschaft mit jeweils ähnlichen Codes zelebriert und repräsentiert wurden, sodass Kommunikation über eben doch nicht so eindeutige kulturelle Grenzen jederzeit gewährleistet war. Zu dieser Durchlässigkeit kultureller Grenzen gehört auch, dass Herrscher als gatekeepers es immer wieder verstanden, kampfkräftige oder durch andere wichtige Eigenschaften ausgezeichnete Zuwanderer für sich nutzbar zu machen, und versuchten, deren Separation von oder Integration in die Eliten ihrer Reiche zu steuern.7
Kapitel drei widmet sich der „Verbreitung religiöser Ideen und Gemeinschaften“ und macht die vielfältigen Wege deutlich, auf denen religiöse Ideen und Institutionen von einer Weltgegend in die andere wandern konnten, und wie sie sich dabei den jeweils neuen Umweltbedingungen anpassten. Der Verfasser betont dabei insbesondere das Zusammenspiel von Religion und Handelsverkehr sowie von (monotheistischer) Religion und imperialer Herrschaft. Dieses Thema hat die Forschung zu Westasien und der Mittelmeerwelt seit Fowdens fruchtbarer Untersuchung immer wieder interessiert.8 Preiser-Kapeller macht auf diesen Zusammenhang aufmerksam und verweist auf dieses Motiv im Zusammenhang mit der Bekehrung der uighurischen Herrschaftselite zum Manichäismus oder der chasarischen zum Judentum. In China lagen die Dinge anders. Die Rolle des Buddhismus in China und die wechselhaften Versuche, diesen zu nostrifizieren und in ein imperiales politisches System zu integrieren, genauso aber auch die Reaktionen darauf werden von Preiser-Kapeller eingehend dargestellt. Spannend wäre es, noch systematischer zu vergleichen, was es heißt, dass bis zum Ende der Tang-Zeit in China anders als weiter westlich letztlich doch keine klare Verknüpfung von imperialer Herrschaft und dominanter Religion (das hätten ja auch Daoismus oder Konfuzianismus sein können) zustande gekommen ist.
Kapitel vier handelt von Mobilität jenseits der Eliten. Es ist einerseits den Dynamiken des Fernhandels und der Entstehung von Diasporagemeinschaften und Netzwerken, anderseits aber Formen der Zwangsmigration wie Deportation und Sklavenhandel gewidmet. Austausch fand nicht allein auf dem Wege des Handels statt. Auch Nutzpflanzen und teils schädliche Tiere und Krankheitserreger verbreiteten sich entlang der Handelswege. Darum geht es ausführlich in Kapitel fünf. Preiser-Kapeller bietet hier nützliche Zusammenfassungen des aktuellen Forschungsstandes sowohl zu Seuchen wie der „justinianischen“ Pest als auch zu Watsons These einer durch die muslimischen Eroberungen induzierten Agrarrevolution.9 Letztere erscheint Preiser-Kapeller zwar als übertrieben, insofern als die Prozesse der Verbreitung von Nutzpflanzen, die Watson schildert, letztlich nur Teil eines schon längst vor dem Islam in Gang gekommenen Prozesses der Globalisierung sind. Andererseits meint er, mit der muslimischen Großreichsbildung doch eine gewisse Dynamisierung dieser Prozesse beobachten zu können.
Schließlich wird noch die Rolle staatlicher Strukturen für die Entstehung und Versorgung von – nach damaligen Maßstäben – riesigen Hauptstädten in den Blick genommen, bevor abschließend die Klimageschichte zu ihrem Recht kommt. Klimatische Wandlungsprozesse haben je nach Region unterschiedliche Auswirkungen, oft recht kurzfristiger Art. Das umfassende Panorama von – meist katastrophalen und daher überlieferten – Klimaphänomenen, das der Autor bietet, und die beschriebenen langfristigen Trends regt dazu an, darüber nachzudenken, ob sich Regeln definieren lassen, nach denen Klimaphänomene bestimmte Typen von Reichsbildung und -fall begünstigen oder behindern, und ob nicht womöglich doch die Klimageschichte in ihrem heuristischen Wert für die Imperiengeschichte in jüngerer Zeit aus naheliegenden Gründen überschätzt wird.
Globalisierung ist in gewisser Weise so alt wie die Menschheit selbst und ein unablässiger Prozess, der jedoch Konjunkturen unterworfen ist und unterschiedliche geographische Schwerpunkte aufweist.10 Die Frage, ob wir es im ersten Jahrtausend mit einer Boomphase der Globalisierung zu tun haben oder eher mit einer solchen der Rezession und was die Gründe dafür wären, bleibt auch nach der Lektüre dieses anregenden Werkes weiter offen.
Gute Bücher werfen bei der Lektüre Fragen auf, die weiter zu erforschen sind. Das vorliegende Werk und die darin vorgelegte ungeheuer dichte Materialsammlung leisten genau das. Der Weltgeschichtsschreibung bleibt viel zu tun.
Anmerkungen:
1 Patrick Boucheron, Histoire mondiale de la France, Paris 2017; Andrea Giardina (Hrsg.), Storia mondiale dell’Italia, Bari 2017.
2 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe, Princeton 2000.
3 Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages, Oxford 2005; Bryan Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005.
4 Lutz Berger, Die Entstehung des Islam, München 2016.
5 Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers, New York 1989; Hugh Kennedy, The Decline and Fall of the First Muslim Empire, in: Der Islam 81 (2004), S. 3–30.
6 Das funktioniert selbst bei bedeutenden Reichen aufgrund der Quellenlage nicht immer, etwa im Fall des Gupta-Reiches, zuletzt: Cédric Ferrier, L’Inde des Gupta, Paris 2015.
7 Unter Umständen können derartige Experimente der Herrscher auch misslingen. Das gilt nicht zuletzt für den Westen des römischen Reiches, aber oft auch für muslimische Herrschaften, und die Zuwanderer übernehmen die Macht. Zur Rolle der Peripherien der Weltreiche und ihrer Menschen bei der Entstehung von Imperien vgl. den anregenden Essay von Gabriel Martinez-Gros, Brève Histoire des Empires. Comment ils surgissent, comment ils s’effondrent, Paris 2014.
8 Garth Fowden, Empire to Commonwealth, Princeton 1993; zuletzt auch Berger, Entstehung des Islam und Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Frankfurt am Main 2015.
9 Andrew M. Watson, Agricultural Innovation in the Early Islamic World, Cambridge 1983.
10 Suzanne Berger, Notre première Mondialisation, Paris 2003; zur Mongolenzeit vgl. Janet Abu Lughod, Before European Hegemony. The World System AD 1250-1350, Oxford 1991; über den indischen Ozean als Raum der Globalisierung von frühster vorislamischer Zeit bis zum Eintreffen der Europäer das massive, hier leider nicht berücksichtigte Werk von Philippe Beaujard, Les Mondes de l’Océan, 2 Bde., Paris 2012 und Kirti N. Chaudhuri, Asia before Europe, Cambridge 1990.