Cover
Titel
State and Society in Communist Czechoslovakia. Transforming the Everyday from WWII to the Fall of the Berlin Wall


Autor(en)
Krakovsky, Roman
Erschienen
London 2018: I.B. Tauris
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
$ 85.97; £ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dušan Segeš, Historisches Institut, Slowakische Akademie der Wissenschaften

Die historische Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei wurde lange von zwei Ansätzen beherrscht: totalitarismus-theoretisch inspirierter Politik- und Repressionsgeschichte sowie der soziologisch ausgerichteten „revisionistischen“ Forschung. Mittlerweile kann man zwar auf umfangreiches Wissen über die Anatomie der kommunistischen Machtstrukturen und die Formen der Repression zurückgreifen. Rein politikgeschichtliche Zugänge zur Geschichte des Kommunismus in Ostmitteleuropa stoßen jedoch an ihre Grenzen, wenn es um die Erklärung der relativen Langlebigkeit und Stabilität der kommunistischen Regime geht. Diesen Fragen widmet sich auch das hier anzuzeigende Buch von Roman Krakovský.

Es handelt sich um eine Übersetzung der französischen Originalausgabe, die auf Krakovskýs Dissertation an der Pariser Sorbonne zurückgeht.1 Der Autor geht darin der zentralen Frage nach, was das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei jenseits von Repression am Leben hielt. Seine historisch-anthropologische Analyse der kommunistischen Herrschaft in der ČS(S)R knüpft an Zugänge von Forscher/innen wie Stephen Kotkin und Sheila Fitzpatrick an und fokussiert auf die Gestaltung temporärer und räumlicher Strukturen in der stalinistischen Aufbauphase von 1945 bis ungefähr 1960.2

Krakovský versteht das kommunistische Projekt als Schaffung einer neuen Ordnung, die jedoch nicht allein von der kommunistischen Ideologie, sondern ebenso von räumlichen und zeitlichen Ordnungsmustern bestimmt gewesen sei. Da Zeit und Raum als soziale Konstrukte wiederum durch individuelle und kollektive Handlungen hervorgebracht würden, stellt sich für ihn die grundsätzliche Frage, wie temporäre und räumliche Wahrnehmungsstrukturen in die Schaffung einer sozialistischen Gemeinschaft einflossen. Folgt man den Ausführungen Krakovskýs, oblag es dem kommunistischen Staat, durch die Aufrechterhaltung und Reproduktion der sozialen Kategorien der Zeit und des Raums eine Balance zu schaffen, die den Erhalt der stets prekären und in sich widersprüchlichen sozialistischen Vergemeinschaftung ermöglichte. Auf welche Weise dieser Balanceakt gelang, stellt für Krakovský den Schlüssel zum Verständnis des kommunistischen Projekts dar. Diese Perspektive ermögliche es zugleich, die Erfahrung des Kommunismus in einen breiteren Kontext der Reorganisierung europäischer Gesellschaften in der Nachkriegszeit einzuordnen und im Sinne Kotkins über den „Stalinismus als Zivilisation“ nachzudenken.

Um die Umgestaltung und Neudefinition von Vergemeinschaftung durch das kommunistische Regime zu analysieren, greift Krakovský auf soziologische und anthropologische Konzepte zu den Kategorien Raum, Zeit und Öffentlichkeit unter anderem von Max Weber, Émile Durkheim, Fernand Braudel und Norbert Elias zurück. Im Sinne einer historischen Anthropologie des Kommunismus geht es ihm darum, den räumlichen und temporären Horizonts des Einzelnen in der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung zu erfassen. Dieser umfasste Strukturen wie Familie, Freunde, Arbeit ebenso wie die politische Kultur. Ein solcher raumtemporärer Ansatz ist zwar neu für die Geschichte der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit, wurde für Ostmitteleuropa allerdings bereits erprobt.3 Für die Umsetzung dieses Forschungsprogramms bedient sich Krakovský mehrerer Stichproben aus verschiedenen Lebensbereichen. Dabei stützt er sich auf zahlreiche bis dato kaum genutzte Archivmaterialien.

Im ersten Kapitel „In the Land Where Tomorrow Was Already Yesterday“ befasst sich Krakovský mit dem Phänomen der linearen Zeit, die infolge der Implementierung der sozialistischen Planwirtschaft beschleunigt worden sei. Die ständige Anpassung der Produktionsnormen habe ein Gefühl der Unsicherheit bei den Arbeitern nach sich gezogen. Die Einführung des ersten Fünfjahresplanes (1949–1953) und die damit verbundene Beschleunigung des Produktionstempos und „Rationalisierung“ der Zeit wird am Beispiel des Großbetriebs „Českomoravská Kolben Daněk“ (ČKD) untersucht. In diesem Kontext plädiert Krakovský für eine neue Chronologie des tschechoslowakischen Kommunismus, indem er dessen Anfänge nicht wie üblich in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern in den späten 1920er-Jahren verortet. So habe schon die Wirtschaftskrise von 1929 in dieser Region einen Bruch verursacht, der durch den Zweiten Weltkrieg nur weiter verschärft worden sei. Die Verstaatlichung der Wirtschaft nach 1945 folgte demnach der Logik des Vermögenstransfers seit den 1930er-Jahren und schloss an frühere Enteignungen im Zuge von Arisierung und Germanisierung an (S. 5–7).

Im zweiten Kapitel „The Lord's Day, the Worker's Day” befasst sich Krakovský mit dem staatlichen Versuch, den traditionellen Wochenrhythmus neu zu definieren. Dieses Bemühen war eng verbunden mit der Einführung neuer kollektiver Praktiken. Anstatt sich auszuruhen oder Sonntagsmessen zu besuchen, sollten sich die tschechoslowakischen Bürger/innen am Wochenende zum Wohle der Gemeinschaft betätigen. Für diese Fallstudie wählt Krakovský mit der slowakischen Stadt Žilina eine stark katholisch geprägte Region. Wie er hier zeigen kann, verlief die Einführung der neuen temporalen Kultur insbesondere in der Provinz alles andere als reibungslos, da selbst Parteimitglieder häufig die Sonntagsmessen besuchten. Durch die Verkürzung der Arbeitszeit 1965 und die Einführung des arbeitsfreien Samstags 1967 wandelte sich der Wochenrhythmus zwar tatsächlich, allerdings nicht im ursprünglich von den Kommunisten anvisierten Sinne.

Obwohl die Anwendbarkeit des Habermas‘schen Konzepts der Öffentlichkeit4 auf die politischen Regime des sowjetischen Typs wegen des dort fehlenden politischen und ökonomischen Pluralismus bezweifelt wird, gab es in diesen Gesellschaften sehr wohl Diskussionen über das Gemeinwohl. Dies arbeitet Krakovský in seinem dritten Kapitel „Constructing the Idea of the Common Good“ heraus, in dem er sich anhand einer Fallstudie über die Gemeinde Ruzyně (ab 1960 Stadtteil von Prag) mit den Definitionen von Privatsphäre und den Mechanismen öffentlicher Debatten auf lokaler Ebene auseinandersetzt. Gesellschaftliche Partizipation habe sich in einer „kollektiven sozialistischen Sphäre“ (S. 142) artikuliert, die die hergebrachte bürgerliche Trennung von öffentlichem und privatem Raum unterlaufen habe.

Im vierten Kapitel „Complaining, Talking about Yourself“ führt Krakovský diesen Gedanken weiter aus, indem er die Verflechtung von Öffentlichem und Privatem am Ende der 1950er-Jahre anhand von Briefen der Prager Bevölkerung an die höchsten Partei- und Staatsfunktionäre in den Blick nimmt. In dieser „Kultur der Bittschriften“ mit unterschiedlichsten, nicht selten intimen Anliegen erblickt Krakovský eine Neugestaltung der räumlichen Struktur: Die private Sphäre sei zugunsten einer neuen Raumkategorie – des „gemeinschaftlichen Raumes“ (S. 245) – eingeengt worden.

Im fünften und letzten Kapitel befasst sich Krakovský eingehend mit der Symbolpolitik des kommunistischen Regimes am Beispiel der parteistaatlich inszenierten Feierlichkeiten anlässlich des 1. Mai, die die Hierarchien des kommunistischen Regimes verdeutlichten. Zu diesem Thema veröffentlichte er bereits früher eine selbstständige Monographie.5

Mit Ausnahme des fünften Kapitels und des Schlusswortes richtet Krakovský sein Augenmerk ausschließlich auf die „Gründerzeit“ der kommunistischen Herrschaft in den späten 1940er- und den 1950er-Jahren. Obwohl der Untertitel des Buchs eine historische Auseinandersetzung mit der Epoche von 1945/1948 bis zum Berliner Mauerfall verspricht, bleiben die Entwicklungen der poststalinistischen Dekaden weitgehend unbeachtet. Dies ist umso bedauerlicher, als erst eine Erweiterung des Untersuchungszeitraums bis in die späten 1980er-Jahre ein tieferes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen der veränderten Wirtschaftspolitik seit Ende der 1950er-Jahre, der Gewährleistung eines Rechts auf Freizeit und dem schrittweisen Verzicht des Parteistaates, die Bürger einer totalen Kontrolle zu unterziehen, ermöglicht.

Anders als Krakovský offenbar annimmt, bilden Studien zum kommunistischen Machtzentrum und Repressionsapparat, die hauptsächlich auf Archivmaterialien des tschechoslowakischen Innenministeriums basieren, auch längst nicht mehr den alleinigen Kanon der tschechischen Geschichtsschreibung zur kommunistischen Tschechoslowakei. Ähnlich wie in Polen oder Ungarn fand auch in der Tschechischen Republik eine Verlagerung der Forschungsschwerpunkte statt. Neuere Forschungen rücken etwa den technokratischen Sozialismus, der Freizeit, des Tourismus oder des Sports in den Fokus – um nur diejenigen Themenbereiche zu nennen, die eine Ergänzung zu Krakovskýs Analyse bilden.

Bei der Lektüre von Krakovskýs Buch gewinnt man zudem stellenweise den Eindruck, dass er mit seinem Anliegen, das Politische durch das Prisma des Sozialen zu analysieren und so soziale und kulturelle Alltagswahrnehmungen in die politische Geschichte zu integrieren, etwas über das Ziel hinausschießt. Zwar scheut Krakovský einerseits nicht vor den Begriffen „Totalitarismus“ und „totalitäres Regime“ zurück, andererseits erweckt sein konsequentes Gegennarrativ den Eindruck, dass Unterdrückung und Repression seitens des Parteistaats keine bzw. eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Trotz seiner teilweise berechtigten Kritik an der von einigen Autoren geradezu fetischisierten Bedeutung der Geheimdienstdokumente lässt sich doch nicht darüber hinwegsehen, dass Repressionen einen wichtigen Bestandteil der kommunistischen Herrschaftsausübung darstellten. Dies gilt insbesondere für die späten 1940er- und den Anfang der 1950er-Jahre, also jenen Zeitraum, den Krakovský als Ausgangspunkt seiner Überlegungen wählt. So ist der im zweiten Kapitel dargestellte Konflikt zwischen religiöser Tradition und kommunistischer Innovation ohne die großangelegte Repression des Regimes gegen die Kirche, die Orden und Klöster (Aktion „K“) schlicht nicht zu erklären. Auch dass das System der Überwachung maßgeblich zur Nivellierung der klassischen Trennung von öffentlichem und privatem Raumbeigetragen hat, findet bei Krakovský keine Erwähnung.

Durch den unkonventionellen, von methodologischer Vielfalt geprägten Zugang zum Thema Kommunismus ist es Krakovský gelungen, die Mechanismen der Machtausübung im Alltag auf verschiedenen Ebenen zu rekonstruieren. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern sich die Ergebnisse seiner regionalen Fallstudien auf die gesamte Tschechoslowakei übertragen lassen. Die fünf Kapitel erinnern an eine Art Puzzle, das jedoch allzu viele Elemente vermissen lässt, um ein aussagekräftiges Gesamtbild zu ergeben. Auch kommen die regionalen und nationalen Unterschiede innerhalb der Tschechoslowakei, die nicht zuletzt durch den tschechisch-slowakischen Dualismus geprägt war, wenig zum Vorschein. Nichtsdestoweniger bietet Krakovskýs Studie eine solide Grundlage für weitere Forschungen zur Aufarbeitung des realen Sozialismus. Eine tschechische Ausgabe ist vom Verlag Academia für dieses Jahr angekündigt.

Anmerkungen:
1 Roman Krakovský, Réinventer le monde. Le temps et l'espace en Tchécoslovaquie communiste, Paris 2014.
2 Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995, und Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York 1999.
3 Siehe etwa Teile aus folgenden Arbeiten zu Rumänien, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR: Katherine Verdery, What Was Socialism and What Comes Next?, Princeton 1996; Małgorzata Mazurek, Socjalistyczny zakład pracy. Porównanie fabrycznej codzienności w PRL i NRD u progu lat sześćdziesiątych, Warszawa 2005; Pavel Kolář, Der Poststalinismus. Ideologie und Utopie einer Epoche, Köln 2016.
4 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt 1962.
5 Roman Krakovský, Rituel du 1er mai en Tchécoslovaquie 1948–1989, Paris 2004.

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