H. Schmiedebach: Medizin und öffentliche Gesundheit

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Titel
Medizin und öffentliche Gesundheit. Konzepte, Akteure, Perspektiven


Herausgeber
Schmiedebach, Heinz-Peter
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 98
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 245 S.
Preis
€ 74,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Der Zusammenhang von Medizin und öffentlicher Gesundheit ist einer, über den sowohl in der Medizin- als auch in der Gesellschaftsgeschichte schon oft nachgedacht wurde.1 Von daher wirkt der von Heinz-Peter Schmiedebach herausgegebene und auf eine Veranstaltung des Historischen Kollegs München zurückgehende Sammelband „Medizin und öffentliche Gesundheit“ auf den ersten Blick wenig innovativ. Beim näheren Betrachten des Bandes wird man aber eines Besseren belehrt.

Die größte Stärke des Sammelbandes ist der starke Gegenwartsbezug, der ihn auch von anderen Arbeiten zur Gesundheitsgeschichte unterscheidet. So zeichnet Schmiedebach in seiner Einleitung ausführlich die langanhaltenden Diskussionen um das Präventionsgesetz nach, welches letztendlich im Jahr 2015 verabschiedet wurde, und kann anhand dessen zeigen, welche Bedeutung Prävention im öffentlichen Diskurs in den letzten Jahren einnimmt. Ausgehend von aktuellen Debatten, wie der um die Rolle der Digitalisierung im Gesundheitswesen, wird nach historischen Vorläufern und Entwicklungen gefragt. Insbesondere die Herausbildung neuer Akteure – wie der IT-Branche oder Versicherungsgesellschaften – kann als Zeichen des gegenwärtigen Wandels gedeutet werden. Mit Rückgriff auf Ilona Kickbuschs Modell der Gesundheitsgesellschaft gelingt es Schmiedebach zudem, die gegenwärtigen Entwicklungen nicht nur zu beschreiben, sondern auch konzeptionell gut zu fassen.

Die Bedeutung, die Schmiedebach den gegenwärtigen Entwicklungen beimisst, lässt sich auch an der Struktur des Bandes erkennen. Im Gegensatz zu dem sonst üblichen Vorgehen, chronologisch die Gegenwart ans Ende zu setzen, beginnt der Sammelband mit drei Aufsätzen zu aktuellen Fragen und ethischen Debatten. Alfons Labisch erörtert, ob es gegenwärtig die richtige Zeit sei, eine „neue Ära öffentlicher Gesundheitssicherung“ (S. 29) einzuleiten. In großen Linien werden dabei die langfristigen Spannungsverhältnisse zwischen individueller und öffentlicher Medizin herausgearbeitet. Diese Verknappung geht natürlich auf Kosten der historischen Genauigkeit. Rainer Müller, Karl-Heinz Wehkamp und Joachim Larisch werfen einen Blick in die Zukunft und fragen, welchen Herausforderungen Public Health in der gegenwärtigen Situation ausgesetzt ist. Aufgrund der Ausrichtung des Beitrages müssen die Ausführungen thesenhaft und wenig historisch fundiert bleiben. Daran anschließend analysiert Georg Marckmann aus ethischer Perspektive Fragen der öffentlichen Gesundheit und entwickelt ein Gerüst mit zentralen Kriterien für die Bewertung von Handlungsfeldern auf dem Gebiet von Public Health, welches er am Beispiel der Grippeschutzimpfung erprobt.

Im konzeptionellen zweiten Teil stehen Infektionskrankheiten und die damit einhergehende Frage nach der Hygiene im Zentrum. Friedrich Lenger arbeitet dabei die Bedeutung der Stadt als einen zentralen Akteur in Hygienefragen heraus. So veranschaulicht er am Beispiel von Paris, wie die Trinkwasserzufuhr und die Verlagerung von Schlachthäusern in städtische Vororte massiv zu einer Verbesserung der Hygiene beitrugen. Christoph Gradmann zeigt in seinem Beitrag, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit Infektionskrankheiten geändert hat. So ging mit dem Aufstieg der Bakteriologie der Glaube einher, Infektionskrankheiten ganz unproblematisch bekämpfen zu können. Mit dem Aufkommen der ersten Antibiotikaresistenzen in den 1950er-Jahren erhielt dieser Fortschrittsglaube jedoch erste Risse, die sich nach und nach vergrößerten.

Der mit „Das Ideal der Prävention und Zielgruppen“ überschriebene dritte Teil des Bandes wird mit einem für den gesamten Band grundlegenden Aufsatz von Martin Lengwiler eingeleitet. Lengwiler reflektiert das Spannungsverhältnis von Staat und Subjekt als den zentralen Akteuren auf dem Feld der öffentlichen Gesundheit. Daran anschließend zeigt er anhand der Herausbildung der Sozialmedizin und der sozialen Medizin, wie der Präventionsdiskurs seit den 1970er-Jahren verstärkt in die Medizin einfloss. Im Beitrag von Martin Dinges wird die geschlechterspezifische Ausrichtung der Arbeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes untersucht. Dabei kann er mit Rückgriff auf den sozialhygienischen Diskurs der 1920er-Jahre zeigen, dass Männer als Zielgruppe – und das obwohl beispielsweise ihre kürzere Lebenserwartung durchaus erkannt wurde – nie adressiert wurden. Auch in späterer Zeit blieb Gesundheit ein vor allem mit Frauen assoziiertes Thema. Monika Ankele widmet sich präventiven Aspekten der Arbeit mit psychisch Kranken und damit zwar einer sehr spezifischen Zielgruppe, jedoch wird das Gesundheitsverständnis des Bandes hierdurch über das Körperliche hinaus wesentlich erweitert. Sie zeigt anhand der Arbeitstherapie, wie in der Weimarer Republik Arbeitsfähigkeit als zentrales Kriterium zur Beurteilung des Gesundheitszustandes verstanden wurde.

Im letzten Gliederungsteil geht es um „Formen und Medien der Gesundheitsaufklärung“ und damit um ein spezifisches Feld öffentlicher Gesundheit, welches von der Medizin lediglich beeinflusst aber nicht dominiert wurde. Auch Eva Brinkschultes Beitrag erweitert den Sammelband mit dem Blick auf die DDR um einen wichtigen Aspekt. Sie stellt die filmische Aufklärungsreihe „Medizinischer Sonntag“ vor und fragt darüber hinausgehend, wie erfolgreiche Gesundheitsaufklärung gestaltet sein müsse. Philip Osten betrachtet in seinem Beitrag neben Filmproduktionen auch Ausstellungen und Plakate und damit die zentralen Medien der Gesundheitsaufklärung. Seine Analyse in der Longue durée ermöglicht es, unterschiedliche Phasen der Thematisierung von Gesundheitsaufklärung herauszuarbeiten. Wurde bis in die 1880er-Jahre noch Gesundheitsaufklärung von medizinischen Experten für ebensolche betrieben, so sollten danach mithilfe von Ausstellungen und Zeitschriftenartikeln weitere Kreise erreicht werden. Spätestens ab den 1920er-Jahren begann dann eine Phase staatlich koordinierter Volksbelehrung.

Am Ende des Bandes findet sich ein Kommentar von Flurin Condrau, in welchem er in grundsätzlicher Art die Frage nach der Historizität von Kategorien wie Gesundheit, Krankheit und Medizin stellt. Condrau greift die gegenwartsbezogene Analyse aus Schmiedebachs Einleitung auf und leitet daraus eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Medizingeschichte und Gesundheitswissenschaft als wünschenswert ab. Insgesamt fasst der Kommentar die Beiträge klug zusammen und regt zum Weiterdenken an.

Direkt zu Beginn nennt Condrau aber auch das Hauptproblem des Bandes: Aufgrund der schieren Größe des Themenfeldes, des langen Untersuchungszeitraums und der unterschiedlichen Herangehensweisen bleibt bis zuletzt unklar, worauf der Band genau abzielt. Die umfassende Einleitung Schmiedebachs gibt lediglich eine grobe Richtung vor. Der weitläufige Untertitel „Konzepte, Akteure, Perspektiven“ kann hier auch kaum weiterhelfen. Dies führt immer wieder auch zu kleineren historischen Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten. So ist in den Beiträgen von Rainer Müller, Georg Marckmann und Flurin Condrau immer wieder von Public Health als Untersuchungsgegenstand die Rede, obwohl Schmiedebach in der Einleitung plausibel darlegt, warum es nicht um Public Health, sondern um öffentliche Gesundheit gehen soll. Public Health ist eben nicht nur die Übersetzung von „öffentlicher Gesundheit“, sondern auch die Bezeichnung einer konkreten Wissenschaft, die sich mit Prävention befasst. Oder wenn der Herausgeber selbst die Begriffe Prävention und Gesundheitsförderung fast synonym verwendet, obwohl sich doch das mit der Ottawa-Charta 1986 eingeführte Konzept der Gesundheitsförderung ausschließlich auf die Stärkung gesundheitlicher Ressourcen bezieht, während Prävention viel stärker auf die Vermeidung von Krankheiten abzielt.

Dies sind aber nur kleine Wermutstropfen. Insgesamt betrachtet, verdeutlicht der Band an vielen Beispielen sehr gut, wie nutzbringend eine Geschichte der öffentlichen Gesundheit nicht nur für die historische Forschung, sondern auch für aktuelle Debatten sein kann.

Anmerkung:
1 Martin Lengwiler / Jeanette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010; Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017; Sigrid Stöckel / Ulla Walter (Hrsg.), Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Weinheim 2002.

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