A. Jaeger: Auf der Suche nach »Verfassungsfeinden«

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Titel
Auf der Suche nach »Verfassungsfeinden«. Der Radikalenbeschluss in Hamburg 1971–1987


Autor(en)
Jaeger, Alexandra
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
560 S., 25 Abb.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Schulz, Forschungsverbund Sozialrecht und Sozialpolitik, Universität Kassel

Das Problem hat viele Namen: Radikalenerlass, Extremistenbeschluss, Berufsverbote. Gleich zu Beginn ihrer Arbeit räumt die Historikerin Alexandra Jaeger mit dem begrifflichen Durcheinander auf. Es gehe um den „Radikalenbeschluss“, da er formal eine Willensbekundung politisch Verantwortlicher und kein verwaltungsrechtlicher „Erlass“ gewesen sei (vgl. S. 11). Jaeger steht mit ihrer Dissertation in einer Reihe neuerer Forschungen, die die vermeintlichen Gewissheiten über die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik auf den wissenschaftlichen Prüfstand stellen – insbesondere mit Blick auf die Entwicklung des Spannungsverhältnisses von innerer Sicherheit und Demokratie. Hier ist sie auch eine der wenigen Frauen, die dieses Feld bearbeiten, was nicht nur der Vollständigkeit halber erwähnt sei, sondern zu mehr Diversität in der Forschung beitragen kann.

Jaeger hat sich mit dem Radikalenbeschluss und seinen Folgen ein großes Thema vorgenommen, das, obwohl umfangreich debattiert, noch keiner näheren wissenschaftlichen Analyse unterzogen worden ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass selbst die regionale Eingrenzung auf Hamburg ein 560 Seiten starkes Buch entstehen ließ. Jaeger hat einen der Thematik angemessenen juristisch und politikwissenschaftlich informierten Blick. So kann die Lektüre ihres Buches zeigen, dass der Radikalenbeschluss der Ministerpräsidenten und der Landesminister vom Februar 1972 keine Entscheidung aus dem Nichts war, sondern auf einem jahrelangen politischen Aushandlungsprozess basierte.

In einer Vorgeschichte im zweiten Kapitel zeichnet Jaeger die Auseinandersetzungen innerhalb der Hamburger Verwaltung vor allem für 1971/72 nach. Die Regelanfrage beim Landesamt für Verfassungsschutz war in Hamburg schon während der 1960er-Jahre eingeführt worden, obwohl gerade der „Adenauer-Erlass“ – in Jaegers begrifflicher Genauigkeit „Treuepflichtbeschluss“ genannt – dort keinen praktischen Niederschlag fand. Hier standen sich das offensichtlich liberalere Rechtsamt und das am Verfassungsschutz orientierte Senatsamt gegenüber. Verhandelt wurde der politische Konflikt über die Auslegung des Beamtenrechts: Wie weit darf die Loyalitätsforderung gegenüber Staatsbediensteten gehen? Was hat Vorrang: Parteienprivileg oder Treuepflicht, politische Freiheitsrechte oder Staatsräson? Jaeger kann durch ihren interdisziplinär informierten Blick die Wechselwirkungen zwischen Justiz, juristischer Fachliteratur und Verwaltungshandeln herausarbeiten und so zeigen, dass in Hamburg die Exekutive die juristische Auslegung zur Priorität der Treuepflicht drängte. Zugleich wird damit deutlich, dass die Liberalisierung der frühen Bundesrepublik kein geradliniger Prozess war.

Eine besondere Leistung ist die sowohl quantitative Auswertung als auch die qualitative Analyse der Überprüfungspraxis im dritten Kapitel. Erstmals liegt damit eine Studie vor, die die Betroffenen zählt und nach Berufsgruppen sowie politischer Organisierung kategorisieren kann. Da hier Verwaltungshandeln erforscht wird, sind auch die statistischen Angaben bürokratisch geprägt: Von 1971 bis 1982 gab es insgesamt 210 Fälle. Dabei handelt es sich um einzelne Personen, die aber in mehreren Vorgängen betroffen sein konnten. In der Hochphase zwischen 1974 und 1975 wurden monatlich zwischen einem und fünf Verfahren neu eingeleitet. Jaeger zählt einen Vorgang, sobald das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Zweifel anmeldete. In anderen Bundesländern scheint diese Zahl deutlich höher auszufallen. Zwischen 1972 und 1978 standen in Hamburg 90.600 Anfragen beim LfV 225 Fälle gegenüber. In Nordrhein-Westfalen gab es zwischen 1975 und 1977 134.841 Anfragen, bei denen das dortige LfV in 5.207 Fällen Erkenntnisse mitteilte. Jaeger kann sich hier nur auf einzelne Gewerkschaftsstudien berufen, was die Notwendigkeit vertiefender Forschungen für andere Bundesländer aufzeigt.

Zugleich wird der gesamte Ablauf des mehrstufigen Verfahrens dargestellt. Die Regelanfrage bedeutete einen erheblichen Verwaltungsaufwand, an dem Staatsräte und Senatoren (gegenderte Formulierungen erübrigen sich im Angesicht der Realität) mehrerer Behörden sowie eben das LfV beteiligt waren. Obendrein wurde eine doppelte Aktenführung betrieben, die dem Geheimhaltungsbedürfnis des Verfassungsschutzes diente und aus Forschungsperspektive eine besondere Herausforderung darstellt. In ihre Personalakte konnten die Betroffenen Einsicht verlangen, der Einblick in die Sachakte mit weiteren Informationen des LfV blieb ihnen aber mitunter verwehrt. Für dieses Vorgehen gab es keine Verwaltungsanordnungen, sondern nur interne Richtlinien. Bei Ernennungsvorschlägen, Berufungslisten und Vertragsabschlüssen musste zunächst die Einschätzung des Verfassungsschutzes abgewartet werden. Das allein mag die ohnehin teilweise langwierigen Einstellungsprozesse im öffentlichen Dienst zusätzlich verzögert haben und eine Belastung für die Betroffenen gewesen sein. Zugleich stellt Jaeger heraus, dass die Universitätsverwaltungen in etlichen Fällen dem Hamburger LfV Amtshilfe geleistet und Daten über Hochschulmitglieder weitergeleitet haben (vgl. S. 177).

Betroffen waren vor allem die jüngeren „68er“. Der Frauenanteil unter ihnen lag aufgrund des angestrebten Berufsfeldes – Lehrer/innen, Erzieher/innen, Sozialpädagog/innen – über dem Durchschnitt. Dabei war der Radikalenbeschluss zwar antitotalitär formuliert, doch abgelehnt wurden „ausnahmslos“ (S. 263) Mitglieder oder Aktivist/innen linker und kommunistischer Organisationen; es ging vor allem um Mitglieder der DKP und der K-Gruppen. Die Erfolge der NPD bei einigen Landtagswahlen zum Ende der 1960er-Jahre sowie gewalttätige Aktionen von Neonazigruppen hatten keine Auswirkungen auf die exekutive Gefahrenprognose. Die antikommunistische Schlagseite des Beschlusses offenbart sich durch die Analyse des Verwaltungshandelns. So war zum Beispiel der interne Leitfaden für die Anhörungen der Betroffenen nur auf kommunistische Organisationen ausgerichtet (vgl. S. 214). Jaeger zeigt, dass die Informationen des LfV als Fakten behandelt wurden, die Fragen sehr suggestiv waren und dass „es kaum Auswirkungen hatte, wie die Betroffenen sich verhielten“ (S. 263). Es verwundert nicht, dass bei diesem Prozess an unterschiedlichen Stellen in Exekutive und Justiz auch die ehemalige NS-Funktionselite beteiligt war. Jaeger gelingt diesbezüglich eine differenzierte Darstellung, die auf konkrete inhaltliche Kontinuitäten – und in einigen Fällen auf überraschende Diskontinuitäten – verweist.

Durch die Darstellung der Rechtsprechung im vierten Kapitel kann die Autorin zeigen, wie sich die juristischen Argumente im Verwaltungshandeln niederschlugen und – in Hamburg auf Drängen der FDP – die Überprüfungspraxis liberalisiert wurde. Zugleich wird jedoch deutlich, wie stark das exekutive Vorgehen die Abwägung zwischen Parteienprivileg und Treueprinzip verschoben hatte. Eine Rückkehr zum Vorrang des Parteienprivilegs war nicht mehr möglich (vgl. S. 437).

Eine stärker rechts- und politikwissenschaftliche theoretische Rahmung der Arbeit hätte an dieser Stelle noch auf zwei Aspekte abstellen können. So impliziert erstens das juristische Abwägen zwischen Prinzipien selbst schon „begrifflich unscharfe und kaum zu überprüfende Verfahren“.1 Auch wenn es gängige Praxis der Rechtsprechung ist, so ist das Abwägen doch eine juristische Methode, die politischen und moralischen Entscheidungen Tür und Tor öffnet. Wann die nationale Sicherheit schwerer wiegt als die individuelle Berufsfreiheit, ist abhängig von Zeitgeist und Kräfteverhältnissen – und von den Bedrohungsszenarien, die der Logik der Exekutive entspringen. Detailreich aufgezeigt zu haben, wie die Exekutive mittels Verschiebung der Gewichte in der juristischen Abwägung ohne legislative Regelungen selbst Politik machte, ist ein großes Verdienst der Studie.

Zweitens muss es „seltsam berühren, daß eine Befugnis zum Eingriff in eine oder zur Vernichtung einer Organisation für diese ein ‚Privileg’ darstellen könne“.2 Eine ideengeschichtliche Rahmung hätte den Radikalenbeschluss als ein Beispiel für die Eigenheiten der deutschen Rechtsstaats- und Demokratieentwicklung herausstellen können. Mit den Arbeiten von Helmut Ridder und vor allem Ingeborg Maus wurde deutlich, dass Rechtsstaat und Demokratie sich gegenseitig bedingen und nicht widerstreitende Prinzipien sind. Der Radikalenbeschluss ist exemplarisch für einen etatistischen Demokratieschutz, der vergessen hat, dass Demokratie und Rechtsstaat keine Geschenke des Staates an die Bürger/innen waren, sondern politische Forderungen, „für die die Bürger im 18. Jahrhundert auf die Barrikaden gingen“.3

Der allmähliche Kurswechsel ab 1978 in den sozialdemokratisch bzw. sozialliberal regierten Ländern ist Thema des fünften Kapitels. Zwar suchte die CDU im „Deutschen Herbst“ zwischen DKP-Lehrer/innen und der RAF im „Untergrund“ Verbindungen herzustellen; die Überprüfungspraxis liberalisierte sich dennoch. Dies lag vor allem am Umdenken der SPD, die sich durch die Entstehung der GRÜNEN mit einer linken Konkurrenz konfrontiert sah, aber auch am Drängen der SPD-Basis sowie tatsächlich liberalem Wirken der FDP-Mitglieder innerhalb der Hamburger Verwaltung. Erschien die NPD dem Senatssprecher in Hamburg 1971 noch als die diszipliniertere Partei im Vergleich zur DKP (!), wandelte sich die Einschätzung Ende der 1970er-Jahre im Hinblick auf das Gefahrenpotential junger Neonazis und ebenso der NS-Kontinuitäten im öffentlichen Dienst. Auch das Erstarken linker sozialer Bewegungen, insbesondere der Proteste gegen einen drohenden Überwachungsstaat, trug zur Diskursverschiebung bei. Doch die Liberalisierung war in Hamburg nur gegen das Senatsamt durchsetzbar. Die Urteile des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts hatten die Position der Exekutive mit ihrem Hang zur Treuepflicht gestärkt.

Die Autorin bezieht sich auf die Politik-, Rechts- und Verwaltungsgeschichte, was es ihr ermöglicht, die vielschichtige Problematik der staatlichen Einstellungspolitik zu zeigen. Die Betroffenen und die Proteste sind ebenfalls in die Analyse einbezogen. Auch an dieser Stelle ist Jaegers Gründlichkeit zu betonen: Das umfangreiche Material verschiedener Archive ergänzt sie durch Interviews mit Betroffenen und Audiomitschnitte von Solidaritätsveranstaltungen. Grundsätzlich liegt damit – endlich – eine Forschung vor, die basierend auf umfangreichen Quellen ein klares Bild des Radikalenbeschlusses in Hamburg zeichnet. Deutlich kann Jaeger herausarbeiten, dass die Praxis der Verschärfung des Zugangs zum öffentlichen Dienst rechtsstaatlich von Beginn an auf „unsicheren Füßen“ (S. 512) stand und, obwohl antitotalitär formuliert, vor allem auf das linke bzw. kommunistische Spektrum zielte. Dabei waren überraschenderweise nicht die Konservativen treibende Kräfte, sondern ein sozialdemokratischer Antikommunismus war maßgeblich. Klar wird auch, wie politische Konflikte in juristischen Bahnen ausgetragen werden und sich die „herrschende Meinung“ auf Drängen der Exekutive verschieben kann.

Das führt zum einzigen Wermutstropfen der ansonsten Standards setzenden Studie. Eine stärkere theoretische Fundierung hätte es ermöglicht, Rückschlüsse auf die Demokratie- und Rechtsstaatsentwicklung der jungen Bundesrepublik zu ziehen und das Fortwirken exekutiver Bedrohungsszenarien prüfen zu können. Vielleicht obliegt dies aber auch der disziplinären Arbeitsteilung. Deutlich wird – und dies geht über das Hamburger Beispiel hinaus –, dass die „sicherheitspolitischen Grundlagen des vorverlegten Staatsschutzes“ (vgl. S. 516) schon früher als in den 1970er-Jahren entstanden. Es bleibt zu hoffen, dass Forschungen in dieser Qualität auch für andere Bundesländer vorgenommen werden, um möglichst bald einen vollständigen Überblick zum Radikalenbeschluss und seinen Wirkungen in der Bundesrepublik zu erhalten.

Anmerkungen:
1 Friedrich Müller / Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I: Grundlagen Öffentliches Recht, 9., neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl. Berlin 2004, S. 147.
2 Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, Opladen 1975, S. 55.
3 Ingeborg Maus, Naturrecht, Menschenrecht und politische Gerechtigkeit, in: Dialektik (1994), S. 9–18.