Salzborn, Samuel (Hrsg.): Handbuch Politische Ideengeschichte. Zugänge – Methoden – Strömungen. Stuttgart 2018 : J.B. Metzler Verlag, ISBN 978-3-476-04709-0 IX, 282 S. € 99,99

Raulet, Gérard; Llanque, Marcus (Hrsg.): Geschichte der politischen Ideengeschichte. . Baden-Baden 2018 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-4865-5 494 S. € 94,00

: Die Vielfalt geistiger Erfahrung. Überlegungen zur Ideengeschichte. Göttingen 2018 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1640-9 88 S. € 14,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margarete Tiessen, German and Dutch Section, University of Cambridge

Selten hat eine akademische Fragerichtung im deutschsprachigen Raum eine so nachhaltige Renovation der eigenen methodischen Setzungen unternommen wie die politische Ideengeschichte in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Vor zehn Jahren diagnostizierte Alexander Gallus ihr eine erfolgreiche „Phase der Integration (von Theorien, Methoden, Schulen)“, auf die jedoch „eine solche der Distinktion“ folgen müsse, wenn die Ideengeschichte nicht riskieren wolle, in der Abhängigkeit von anderen Zugängen zu verharren.1 Die zahlreichen auf diesen Appell folgenden Publikationen zur ideengeschichtlichen Methodik überboten sich in dem Bemühen, eine solche Abhängigkeit mit allen Mitteln von sich zu weisen. Mit seinem „Handbuch Politische Ideengeschichte“ hat Samuel Salzborn nun eine wertvolle Bündelung dieser Anstrengungen vorgelegt. Der Herausgeber weist es einleitend als die „Aufgabe der Historiographie der politischen Theorien“ aus, „ein möglichst umfassendes Bild der im Laufe der Geschichte formulierten, sich teils ergänzenden, teils widersprechenden, aber immer im intellektuellen Kampf um Interpretations- und Deutungsmuster stehenden Ideen zu skizzieren“ (S. VII). Er verortet die politische Ideengeschichte zwischen „Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft“ – eine interdisziplinäre Ausrichtung, die auch das Handbuch prägt.

Grit Straßenberger eröffnet in diesem Sinne das erste, mit „Ideengeschichtliche Zugänge“ überschriebene Kapitel mit einer Charakterisierung der politischen Ideengeschichte als „Scharnier der in Subdisziplinen ausdifferenzierten Politikwissenschaft“; sie schreibt ihr mit der US-amerikanischen Politologin Wendy Brown eine „subversive Rolle“ zu (S. 2). Straßenberger schildert die seit den 1970er-Jahren von Quentin Skinner, Reinhart Koselleck und Michel Foucault parallel, aber unabhängig voneinander entwickelten Forderungen nach kontextsensitiven Herangehensweisen an historische Ideen. Gemeinsam sei den Plädoyers „die Einbettung von Ideen in tradierte Wissensordnungen und ihre Rückbindung an politisches Handeln und an spezifische Sprachen und rhetorische Strategien“ (S. 4). Frauke Höntzsch ergänzt Straßenbergers Skizze mit einem Blick auf die „philosophische Ideengeschichte“ als Methode, bestimmt als „Herausarbeitung überzeitlicher Ideen und Konzepte aus den Werken großer Geister“. Höntzsch bemerkt richtig, dass „die Annahme überzeitlicher Ideen quer zum Zeitgeist, vor allem der Annahme der Kontingenz menschlicher Erkenntnis steht“ (S. 9). Umso wichtiger erscheint es, dass der philosophische Zugang mit seiner die Ideengeschichte begründenden Funktion Eingang in das Handbuch gefunden hat. Höntzsch stellt zunächst das historische Interesse Arthur Oncken Lovejoys und Friedrich Meineckes gegenüber, um dann anhand von Leo Strauss, Eric Voegelin und Dolf Sternberger die Hoffnung auf normative Orientierung hervorzuheben, die mit den historischen, besonders den antiken, Ideen immer wieder verbunden wurde. „Ohne einen wie auch immer gearteten Anspruch, aus den ideengeschichtlichen Quellen etwas für die je eigene Gegenwart zu erfahren“, schreibt Höntzsch, „wäre die Ideengeschichte eine rein historische Disziplin.“ Und sie folgert: „Jedem Ansatz, so scheint es, der politische Ideengeschichte betreibt, wohnt so ein ,philosophisches Moment‘ inne“ (S. 12). Für künftige Forschungen gewinnbringend zu konzipieren wäre dieses „Moment“ beispielsweise mit Hannah Arendts Blick auf den Perlentaucher Walter Benjamin: Ideen besitzen keineswegs Ewigkeitswert, entspringen aber dem menschlichen Denken, das nach Arendt qua definitione völlig gegenwärtig und hierin „zeitlos“, weil im „Zusammenprall von Vergangenheit und Zukunft“ gebettet ist (Arendt zit. bei Höntzsch, S. 14).

Nachdem das erste Kapitel in dieser Weise für die grundlegende Ambivalenz der Ideengeschichte sensibilisiert, das zweite über ihre Methoden informiert (von der Hermeneutik bis zur Politischen Kulturforschung), wird mit dem dritten Kapitel – nach Salzborn dem „Herzstück“ des Bandes – ein Überblick zu „Denkströmungen“ vorgelegt. Geordnet nach Antike, Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne behandeln die Beitragenden so weite Themenfelder wie „Rationalismus und Aufklärung“ (Helmut Reinalter) oder „Sozialismus und Kommunismus“ (Felix Sassmannshausen). Dass das Handbuch neben der Methodik auch diese inhaltliche Einführung bietet, unterstreicht seinen Wert für Studierende. Für den inhaltlichen Teil gilt denn auch in besonderer Weise die einleitend angekündigte Zielsetzung, der „westlichen Kanonbildung“ in der Ideengeschichte entgegenwirken zu wollen. „Die Rekonstruktion des politischen Denkens“, so Salzborn, „sieht bisweilen gern über die dunklen Orte und destruktiven Schattenseiten der Ideengeschichte hinweg“ (S. VIII). Ein kritisches Element soll die Anthologie nun gegenüber vorangegangenen Übersichten auszeichnen. Umgesetzt wird dies, indem neben den griechischen (Barbara Zehnpfennig) und römischen (Peter Kuhlmann) „Denkströmungen“ der Antike auch jene Chinas und Ostasiens berücksichtigt werden – Eun-Jeung Lee hat hierzu einen sehr hilfreichen Beitrag vorgelegt. Für das Mittelalter werden neben der christlichen (Peter Nitschke) die islamische (Geert Hendrich) und jüdische (Karl E. Grözinger) Ideenfamilie behandelt. Für die Moderne finden sich unter anderem mit Anarchismus (Dominique Miething), Antikolonialismus (Thomas Schmidinger) oder Feminismus (Beate Rosenzweig), aber auch Nationalismus und Antisemitismus (Patrick Eser / Dana Ionescu) sowie Faschismus / Nationalsozialismus (Stefan Breuer) verschiedene politische Richtungen und Bewegungen.

Das Handbuch schließt mit einem „Ausblick“ des Herausgebers auf „Die Zukunft der politischen Ideengeschichte“. Salzborn wiederholt einen an anderer Stelle bereits erläuterten Vorschlag2, ideengeschichtliche Methodik auf das politische Denken der Gegenwart auszuweiten und „ideengeschichtliche Ansätze als eine grundsätzliche Form des Umgangs mit politischem Denken, gleich welcher epochalen oder zeitlichen Kontextualisierung zu verstehen“. Damit verbindet er ein „Plädoyer gegen postmoderne Beliebigkeiten“, denen die Ideengeschichte prinzipiell entgegenstehe: Sie „rekonstruiert den Streit um Wahrheitsansprüche“, erklärt Salzborn, „dessen Grundlage die Annahme bildet, dass es Wahrheit gibt – ganz gleich, ob sie erfassbar und erkennbar ist und auch jenseits der Frage, ob Menschen sie überhaupt jemals begreifen können“ (S. 266). Als hypothetische Setzung müsse Wahrheit der Wissenschaft erhalten bleiben. Die Ideengeschichte leiste dafür mit ihrer – aktuell so kontrovers diskutierten – Frage nach der „guten, richtigen, legitimen, gerechten […] politischen Ordnung“ einen entscheidenden Beitrag (S. 267). Darüber hinaus betont Salzborn die zentrale, Handeln und Denken gleichermaßen ordnende Funktion der Idee des Staates. Dieses besondere Erbe der politischen Ideengeschichte sei im Kontext gegenwärtiger „Vorschläge für eine poststaatliche Weltordnung“ wiederzubeleben (S. 273) – ein anregender Hinweis, der dem Nachdenken über die Rolle der politischen Ideengeschichte neues Gewicht verleiht, weil er eine entscheidende Distinktion gegenüber kulturwissenschaftlichen Diskursanalysen zu benennen meint. Zweifelsohne wird Salzborns leider sehr teures Handbuch Studierenden und Forschenden eine zentrale Hilfestellung bei der Untersuchung vergangenen und gegenwärtigen politischen Denkens geben.

Ein von Marcus Llanque und Gérard Raulet vorgelegter, aus einer Kooperation des Lehrstuhls für Politikwissenschaft / Politische Theorie der Universität Augsburg und der Pariser Groupe de Recherche sur la Culture de Weimar hervorgegangener Band konzentriert sich demgegenüber, mehr disziplin- denn methodengeschichtlich, auf die „Geschichte der politischen Ideengeschichte“. Gleichwohl geht es nicht um genealogische Erzählungen im Sinne der philosophischen Grundlagen oder der historischen Anfänge der modernen Politikwissenschaft, sondern um die Diskursstrategien und -praktiken, aus denen sich Selbstbild und Weiterentwicklung des Faches speisen. Nach Meinung der Herausgeber wird durch diesen Ansatz erkennbar, „dass sich die Politikwissenschaft von ihren ersten Anfängen an ein gleichsam ideales Archiv zubereitet hat, aus dem sie schöpfen konnte, um zugleich Legitimität zu begründen und zu den aktuellen Problemen Stellung zu nehmen“ (Hervorhebungen der Autoren). Trotz Wechsel der „Methoden“, „Forschungsgegenstände“ und „Konzepte“ deuteten die „Diskursstrategien“ der Politikwissenschaft auf eine „grundlegende Kontinuität eines Gesamtkorpus von Autoren und Texten“, „die sozusagen den festen Hintergrund bilden, auf dem sich dann die eigentlichen Differenzierungen abspielen“ (S. 10f.). Mit dieser Setzung wird die historische Untersuchung der Ideengeschichte zur Rekonstruktion der Grundlagen jener Disziplin, die sie an den deutschen Universitäten traditionell miteinschließt; die Ideengeschichte steigt von ihrer institutionellen Randständigkeit zum narrativen Kern der Politikwissenschaft auf.

Inhaltlich geht es den Herausgebern auch darum, über eine sensible Platzierung intellektueller Interventionen in ihrem jeweiligen historischen Kontext mächtigen „holzschnittartigen, ideengeschichtlichen Dualismen“ den Kampf anzusagen (S. 12). Wer ernstnimmt, dass politisches Denken von seiner historisch spezifischen Problemlage nicht zu trennen ist, der wird vielleicht skeptischer gegenüber der Bedeutung der Theoreme als Referenzsystem – und womöglich aufmerksamer für ihre strukturelle Macht im Einzelfall. Mit ihrer Suche nach „Diskursstrategien“ und „theoretischen Manöver[n]“ formulieren die Herausgeber ein wichtiges Motiv (S. 16). Sie zielen auf die Steigerung innerdisziplinärer Selbstreflexivität, geht es doch um die Offenlegung diskursinhärenter Machtstrukturen, um die von Marcus Llanque an anderer Stelle als „Ideenpolitik“ angesprochenen Deutungskämpfe innerhalb der Politikwissenschaft.3 In diesem Sinne rekonstruiert Frauke Höntzsch in ihrem Beitrag für den Band am Beispiel Karl Mannheims, Max Horkheimers und Hannah Arendts gekonnt die in zunehmender Konsequenz vollzogene Strategie des Rekurrierens auf den „Traditionsbruch“ des Totalitarismus und erkennt darin die „paradigmatische Diskontinuität“ der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts (S. 43). Benjamin Pinhas untersucht die Bemühungen frühbundesrepublikanischer Politikwissenschaftler/innen und Historiker/innen, die eigenen Disziplinen als „[interdisziplinäre] Integrationswissenschaft mit kritisch-emanzipatorischem Anspruch“ zu etablieren (S. 111). Alfons Söllner nutzt die Rezeption Rousseaus als „Sonde“, um für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nach jenseits der „Dialektik der Aufklärung“ liegenden Möglichkeiten der kritischen Stellungnahme gegenüber dem Projekt der Aufklärung zu suchen (S. 146). Manfred Gangl stellt konkurrierende Lesarten Thomas Hobbes’ als „totalitärer oder liberaler Denker“ in ihrer ideenpolitischen Wirkkraft gegenüber. Martin Oppelt veranschaulicht anhand des Kommunitarismus die Schwierigkeit, Rousseau in konstruktiver Weise zu rezipieren. Daniel Meyer fragt kritisch nach Heideggers Rezeption von Aristoteles und Wolfgang Bialas nach der (Un-)Möglichkeit, ideengeschichtlich auf den Nationalsozialismus Bezug zu nehmen.

Dem stehen Beiträge gegenüber, die Entwürfe einzelner politischer Denker/innen nach der Art ihrer Referenz auf die Ideengeschichte befragen: Ellen Thümmler kontrastiert die Bedeutung, die die ideengeschichtliche Methodik der Geschichtlichkeit beimisst, mit bisher fehlendem Bemühen um Selbsthistorisierung. Rieke Trimçev hinterfragt anhand eines Vergleichs der Schriften Reinhart Kosellecks, Hannah Arendts und Jacques Rancières die Legitimität ideengeschichtlicher Anachronismen im theoretischen Argument. François Prolongeau untersucht am Beispiel der Bezüge politischer Theoretiker/innen auf das Alte Testament, wie Tradition und Vergangenheit für das politische Denken im 20. Jahrhundert fruchtbar gemacht wurden. Reinhard Mehring eröffnet den Blick auf Carl Schmitts „politisch-polemischen“, strategisch selektiven Umgang mit der Ideengeschichte (S. 203). Christian E. Roques rekonstruiert mit Hans Freyers Machiavelli-Auslegung von 1938 „legitimierende Effekte für den Interpretierenden“ des politiktheoretischen „Klassikers“ – innerhalb der Wissenschaft wie gegenüber den, im Falle Freyers nationalsozialistischen, Regierenden (S. 255).

Eine letzte Einheit bilden Beiträge, die den Republikanismus als schulbildendes Theorem in den Mittelpunkt stellen: Daniel Schulz unternimmt – in seinem zweiten Aufsatz für den Band – anhand der Schriften Felix Gilberts, Hans Barons und Hedwig Hintzes den spannenden Versuch, Republikanismus nicht so sehr über „das institutionelle Moment der Mischverfassung“ oder „die Frage der soziomoralischen Voraussetzungen politischer Ordnung“ zu definieren, sondern über seinen „besonderen semantischen Modus“. Diesen erkennt Schulz in einer besonderen „Geschichtlichkeit“ republikanischen Denkens: „Republikanische Theorie orientiert sich weniger an universalen Prinzipien als an politischer Urteilskraft und praktischer Klugheit“, argumentiert er: „Die für die Ausbildung dieser Aspekte notwendigen Erfahrungsressourcen werden […] durch narrative Vergegenwärtigung historischer Vorbilder und Krisenerfahrungen verarbeitet“ (S. 436). Schulz wendet sich anschließend der „Cambridge School“ zu, genau genommen den Arbeiten John G. A. Pococks, Quentin Skinners und Philip Pettits, um herauszustellen, wie eng die intensive Beschäftigung mit dem Erbe des Republikanismus und das methodische Plädoyer für mehr Kontextsensitivität bei der Erforschung politischer Theorie verbunden sind. Den Band abschließend entwirft Raulet, in seinem dritten eigenen Beitrag, das Modell einer „republikanischen Ideengeschichte“, die gegen den negativen Freiheitsbegriff des klassischen Liberalismus gerichtet und auf die deutsch-französische Allianz Kant / Rousseau als Wortführer einer echten, positiven Freiheit gegründet ist.

Mit wertvollen Einzelbeiträgen erreicht der Sammelband das Ziel, die Grundlinien des „idealen Archivs“ der Politikwissenschaft herauszustellen und zu reflektieren. Den Leser beschleicht aber nicht weniger als Unbehagen ob des scheinbar weiterhin festgefügten Sets der ideengeschichtlichen Bezüge und Bezugsweisen. Das Theorem des Republikanismus – ein Erbe der „Cambridge School“, das im deutschsprachigen Kontext bisher weniger beachtet wurde – wird zwar überzeugend als Ergänzung bisheriger Argumentationslinien herausgestellt, jedoch gleichfalls aus allzu bekannten ideengeschichtlichen Linien hergeleitet. Insgesamt bleibt die wichtigste Frage jene nach Möglichkeiten eines kritischen Hinaustretens der Politikwissenschaft vor ihr „ideales Archiv“. Dessen Geschlossenheit und Zirkularität im Einzelnen nachzuvollziehen, wie es der Sammelband anregt, kann dafür nur ein erster klärender Schritt sein.

Neben vereinzelten Sprach- und Druckfehlern ist die etwas willkürliche Zusammenstellung der drei Hauptkapitel anzumerken. Gravierender ist aber, dass die Gelegenheit vertan wurde, eine in nahezu allen Beiträgen durchscheinende Argumentationslinie übergreifend zu diskutieren: die Zentralität und Vielfalt des historischen Bezugs in der Theoriebildung. Deutlich stärker hätte man darauf eingehen können, inwiefern die untersuchten Diskursstrategien das Ineinandergehen von Geschichtsdenken und Theoriebildung aufdecken – sei es in der Annahme, sei es in der Negation übergreifender Prozesse.

Gegenüber diesen umfangreichen Bemühungen zur Selbstverständigung der politischen Ideengeschichte erscheint der schmale Band „Die Vielfalt geistiger Erfahrung“, den Matthias Bormuth mit der Verschriftlichung seiner Antrittsvorlesung von 2015 für die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg vorgelegt hat, als ein erfrischend gebündelter Auszug aus dem ideengeschichtlichen Lehralltag. Es geht Bormuth nicht darum, die historische Vielfalt oder gegenwärtige Neubelebung des Faches zu kommentieren. Anhand einzelner Portraits will er aufzeigen, „wie Denker der verschiedenen Disziplinen in ihren Biographien […] zu Formen eines Pluralismus kamen, der keine philosophisch höhere Absicherung besitzt, sondern sich allein auf das Ernstnehmen der kulturhistorischen Situation berufen kann“ (S. 15). Mit Begründungsweisen des Pluralismus bilden also ganz bestimmte Denkbewegungen und ihre Herleitungsmöglichkeiten den Gegenstand des Interesses. Bormuth folgt diesem Programm anhand von „fünf Ursprungsfiguren“, die seiner Lesart zufolge „auf besondere Weise ideengeschichtliche Fragen über Fächergrenzen hinweg stellten“ (ebd.): Friedrich Nietzsche, William James, Max Weber, Karl Jaspers und Aby Warburg.

Die Skizze beginnt mit Nietzsches Werk, das Bormuth in vierfacher Weise als exemplarisch für die anderen Portraits herausstellt: erstens hinsichtlich der „Marginalität im akademischen Leben“ (S. 16); zweitens wegen der „Leidenschaft zur Introspektion“ (S. 17); drittens durch einen „tiefendynamischen Pietätskonflikt“ (S. 18) – eine „Spannung von Liebe und Distanz [zur] christlichen Herkunft“, aus der sich im Falle Nietzsches erst die „geistige Energie“ ergeben habe, „um die moralphilosophischen Probleme zu entdecken und zu begreifen, die ihn umtrieben“ (S. 19); viertens durch die vehemente Introduktion des „perspektivischen Sinn[s]“ als „Ausdruck der Modernität“, eine „Schule des Verdachts“, die auch eigene Entwürfe der Kritik unterziehe (S. 20). William James habe sich Nietzsche dadurch entgegengestellt, dass er „Pluralismus als Prinzip“ vorausgesetzt und „eine gedankliche Beweglichkeit“ gefordert habe, die in erster Linie fragte, „welche Bedeutung einer Idee oder einem Ideal in einer besonderen Lage zukommt“. Damit habe James „das pragmatische Moment eines Wertes oder einer Idee“ vor das „genealogische“ gestellt. Dem vermeintlichen „Ursprung“ einer Idee werde nicht mehr gewährt, diese zu „diskreditieren“ (S. 22).

So knapp Bormuth anschließend Max Webers Leben und Werk nachzeichnet, gelingt es ihm doch, Denken und Psychologie in ihrem intimen Ineinandergehen herauszuarbeiten. Webers „Protestantische Ethik“ etwa fordere „zur ätiologischen Spurenlese“ auf, zur Frage, „warum der extreme Berufsmensch Max Weber die Flucht in die Krankheit unwillentlich angetreten hat“ (S. 30) – eine Spurenlese, auf die sich der Mediziner Bormuth unverzüglich begibt. Karl Jaspers, dem die vierte Skizze gewidmet ist, wird dem Leser besonders in seiner Auseinandersetzung mit Weber vorgestellt, dessen philosophische Leistungen Jaspers als erster zu würdigen gewusst habe. In Aby Warburgs Biographie und Werk – Gegenstand der fünften Skizze – werde nicht die Beobachtung des Wahnsinns deutlich, sondern der Kampf mit diesem zu „einer zumindest teilweise erkenntnissteigernden Psychopathologie“. Angesichts der eigenen Leidensgeschichte sei Warburg „überzeugt [gewesen] von den therapeutischen Auswirkungen kulturwissenschaftlicher Arbeit“ (S. 47), von der „seismographischen Funktion“ seiner Bibliothek, die er als „Station zur Beobachtung der Weite menschlicher Schwingungen“ bezeichnete (S. 48).

Bormuth schließt seine Ausführungen mit einem kursorischen Blick auf Erwin Panofsky, Erich Auerbach und Hannah Arendt, allesamt „deutsch-jüdische Gelehrte“ einer jüngeren Generation, deren akademische Qualifikation in die Weimarer Jahre fiel – und die im US-amerikanischen Exil, im Gegensatz zu vielen anderen, beruflich Fuß fassen konnten. Bormuths Aufmerksamkeit gewinnen sie ob „ihres säkularen Denkens von Pluralität, das antike und christliche Motive aufgreift, ohne noch dem platonischen Mythos [von der immanenten Fortentwicklung der Ideen] Glauben zu schenken“ (S. 15). Es ist wohl der Kürze des Bandes geschuldet, dass das so bezeichnete Denken in den Portraits Panofskys und Auerbachs kaum erwähnt wird, dass Bormuth sich auf die Darstellung des Weges ins Exil beschränkt, auf die dortigen Arbeitsbedingungen und die denkerische Verwertung der äußeren Schwierigkeiten. Umso mehr besticht der Epilog („Was ist provisorisches Denken?“), der zu Auerbach und seiner Faszination für Montaigne zurückkehrt, um aufzuzeigen, wie trotz der Grundannahme der Pluralität Synthesen möglich sind. Entscheidend sei Genügsamkeit „mit dem Blickwinkel des Vorläufigen und Wandelbaren“ (S. 73): „Alle synthetische Arbeit bleibt ein Versuch, ein Wagnis“ (S. 74).

Bormuths Blick auf die Entwürfe philosophisch oder religiös ungebundener Pluralität im deutschsprachigen Denken hinterlässt – ohne dass dies formuliert würde – die Ahnung einer viel differenteren Fachtradition, als es das verbreitete Schlagwort von der idealistischen Geistesgeschichte glauben macht. Gleichzeitig bestätigt die Lektüre der medizinisch und psychologisch feindifferenzierten Intellektuellenportraits, was etwa neuere Forschungen zur Geschichte der Emotionen längst nahegelegt haben: Will man die Geschichte der Ideen mit ihren Erfahrungsgründen, mit den sie hervorbringenden und auf sie zurückwirkenden Leben zusammendenken, muss man sich diesen Biographien mit mindestens ebenso viel Sensibilität und Differenzierungswillen widmen wie bisher schon den theoretischen Kategorien.4

Anmerkungen:
1 Siehe Alexander Gallus, „Intellectual History“ mit Intellektuellen und ohne sie. Facetten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 139–150, hier S. 150.
2 Vgl. Oliver Hidalgo / Frauke Höntzsch / Samuel Salzborn, Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft, in: Politisches Denken 22 (2012), S. 175–200.
3 Vgl. z.B. Marcus Llanque, Geschichte des politischen Denkens oder Ideenpolitik. Ideengeschichte als normative Traditionsstiftung, in: Harald Bluhm / Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, S. 51–70.
4 So neuerdings z.B. Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2016.

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