Der Erste Weltkrieg und seine Folgen lösten einen dramatischen Wandel in der Zugehörigkeitsbestimmung von Millionen von Menschen aus. Im Rahmen von politisch und religiös motivierten Ausbürgerungen und als Folge des Zerfalls der multiethnischen Imperien sowie unterschiedlicher Staatsgründungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa wurden sie staatenlos – und stellten damit ein Problem für den souveränen Nationalstaat und die internationale Politik dar. Seit den 1990er-Jahren sind unzählige Werke über Staatsbürgerschaft, Migration(skontrolle), Flucht und Vertreibung erschienen, allerdings wurde Staatenlosigkeit vor 1939 nur vereinzelt in diesen Publikationen bearbeitet1; eine überzeugende Abhandlung über das Thema stand bisher aus. Schon allein aus diesem Grund ist Mira Siegelbergs Studie eine willkommene Ergänzung der bestehenden Forschung. In ihrer Ideengeschichte lotet sie aus, wie juristische und philosophische Debatten um Staatenlosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg das Verständnis von internationaler Ordnung und internationalem Recht grundlegend veränderten. Die Deutung von Staatenlosigkeit habe sich von einem Problem internationalen und nationalen Rechts hin zu einem „moral problem of persecution“ (S. 202) entwickelt. In diesem Rahmen sei der Staat zum Garanten der Rechte des Individuums geworden. Als Hauptursache für diese Entwicklung identifiziert sie die Neudefinierung von „ideas of collective self-determination, sovereignty, political representation, and democratic self-rule“ (S. 4) durch Juristen und Politiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Empirisch stützt sich die Arbeit auf Archivrecherchen in den National Archives in Kew, dem UN- und Völkerbundsarchiv, dem Rockefeller Archive Center und dem London Municipal Archive sowie auf zahlreiche juristische Abhandlungen, Gerichtsurteile und Material aus den Nachlässen von Juristen, Philosoph/innen und Diplomaten.2
Das erste Kapitel analysiert, wie Staatenlosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg von einem „subject of fiction to an acknowledged political reality“ (S. 14) wurde. Dabei umreißt Siegelberg auch die Ideengeschichte von Staatenlosigkeit im 18. und 19. Jahrhundert, um nachzuvollziehen, wie die Vorstellung von Menschenrechten zunehmend von der Überzeugung infrage gestellt wurde, dass Rechte nur durch politische Mitgliedschaft in einer Gruppe garantiert seien.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Rolle des Völkerbundes und internationaler governance für das Problem der Staatenlosigkeit nach dem Krieg. Siegelberg entwickelt die These, dass die Anerkennung von Staatenlosigkeit als „general category of identification“ (S. 61) die vom Völkerbund definierte Grenze zwischen nationaler und internationaler Autorität gefährdete. Ihre Ausführungen zur Politik des Nansen-Passes gehören dabei zum Weitgehendsten, was die Forschung zu bieten hat, wobei ihr Fokus auf Deutungen dieser Veränderung und nicht auf den praktischen Verhandlungen zwischen dem Völkerbund und seinen Mitgliedsstaaten liegt.
Im dritten Kapitel zeigt Siegelberg, welche tiefgreifenden Konsequenzen das Problem der Staatenlosigkeit für das politische und juristische Denken in den 1930er-Jahren hatte. In kleinschrittiger Textanalyse arbeitet sie heraus, dass Staatenlosigkeit gerade für jene Juristen zu einem Thema wurde, die sich mit dem Status des Individuums im internationalen Recht und im Politischen allgemein beschäftigten, weil sie sowohl die Ordnungsfunktion des Rechts in Bezug auf gesellschaftliches Leben infrage stellte als auch die Grenzen des Politischen sichtbar machte. Hier hätte Siegelbergs insgesamt überzeugende Analyse allerdings noch an Schärfe gewonnen, wenn sie auch die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Prozesses stärker einbezogen hätte. Welche Bedeutung hatten die betrachteten Debatten für den nationalen und internationalen Umgang mit Staatenlosen?
Wie und in welchem Maße Staatenlosigkeit in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre internationalisiert wurde, ist Thema des vierten Kapitels. Siegelberg argumentiert, dass sich die Herangehensweise von internationalen Juristen vor dem Hintergrund der enttäuschenden Ergebnisse der Kodifikationskonferenz in Den Haag und anderer Lösungsversuche des Völkerbundes in zwei Lager teilte. Die einen vermieden die Deutung von Staatenlosigkeit als internationale oder humanitäre Krise und identifizierten sie stattdessen als „problem within the domain of conflict of laws” (S. 131), die anderen versuchten, sich ihr gerade über die Vorstellung des Individuums als Subjekt internationaler Politik – und damit der Internationalisierung von Staatenlosigkeit – zu nähern. In dem Maße, wie die formale Kategorie legaler Nationalität an Bedeutung verlor, gewannen kulturelle und emotionale Zugehörigkeitsmarker an Wert. Auch hier überzeugt Siegelbergs Analyse, auch wenn der Zusammenhang zwischen philosophisch-juristischer Reflektion und Ereignisgeschichte nicht ausreichend reflektiert wird.
Das fünfte Kapitel betrachtet juristische Debatten während des Zweiten Weltkrieges. Siegelberg analysiert die veränderte Deutung von staatlicher Souveränität aus der Perspektive europäischer und amerikanischer Juristen – in ihrer Argumentation besonders Heinz Eulau, Erich Hula, Paul Weis, Hersch Lauterpacht, René Cassin und Philip C. Jessup – und zeigt, wie die Sicherung eines Grundrechts auf Nationalität an Bedeutung gewann. Dabei überrascht, dass der zeithistorische Rahmen kaum sichtbar gemacht wird und somit die Spezifität des historischen Momentes verloren geht. Überzeugend ist dagegen ihr Umgang mit den Schriften Hannah Arendts: Sie würdigt deren in der Literatur zu Staatenlosigkeit unbestrittene Bedeutung, arbeitet aber auch heraus, dass sich ihre Interpretation universeller Rechte in eine spezifische Deutung von Staatenlosigkeit einreihte, die deren Wirkung auf internationales Denken langfristig und nachhaltig missrepräsentierte.
Im letzten Kapitel wendet sich Siegelberg der Zeit nach 1960 zu und eruiert, wie die Vorstellung von „nationality as a formal legal status designating membership and a basic threshold condition of rights” (S. 195) an Bedeutung verlor. Insbesondere beschäftigen sie die realweltlichen Konsequenzen des Umschwungs von der formell-juristischen Vorstellung politischer Zugehörigkeit der 1920er-Jahre hin zu einer spezifischeren sozialen Lesart. Dabei arbeitet sie überzeugend heraus, wie die Deutung von Staatenlosigkeit als moralisches Problem es erlaubte, diese nicht länger als Infragestellung der bestehenden internationalen politischen Ordnung zu verstehen.
Mira Siegelberg führt in ihrer wichtigen Studie verschiedene Aspekte der Forschung zu Staatenlosigkeit zusammen und bestätigt so die Bedeutung des Themas für das 20. Jahrhundert als vermeintliches Jahrhundert des souveränen Nationalstaats nachdrücklich. Dabei arbeitet sie differenziert die Unterschiede im Umgang mit Staatenlosen aus verschiedenen nationalen und politischen Kontexten heraus und verweist auf die Statusunterschiede, beispielsweise durch Besitz eines Nansenpasses oder Zugehörigkeit zu ethnischen oder religiösen Gruppen. Sie zeigt die persönliche Betroffenheit der im Fokus stehenden Juristen und Philosoph/innen und versucht die Wirkmächtigkeit von Ideen und Theorien zu belegen.
Mit dem ideengeschichtlichen Ansatz der Studie hängt allerdings auch der erste Kritikpunkt zusammen. Siegelbergs Analyse löst Konferenzen und Debatten um Staatenlosigkeit erfolgreich aus ihrer traditionellen Beschreibung als Einzelereignisse. Dabei konturiert sie jedoch das Verhältnis zwischen Ideengeschichte und zeitgenössischer Politik nicht immer klar. Es wird kaum ausgelotet, inwieweit die juristischen Debatten und Konferenzen grundlegend zu einem Politikwandel beitrugen, ihn spiegelten oder ihm folgten. Dadurch wird nicht immer deutlich, wie wirkmächtig die nachverfolgten Ideen und Theorien wirklich waren. Für eine reine Ideengeschichte wäre dies nur ein kleines Manko, doch Siegelberg erhebt den Anspruch, die Entstehung einer neuen internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg erklären zu können. Die Bedeutung, die den betrachteten Ideen zugeschrieben wird, ist aber nicht immer nachvollziehbar.
Zudem betrachtet sie vor allem die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs, obwohl in der Einleitung der Erkenntnisschwerpunkt auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt wird. Siegelbergs Ausführungen zu postkolonialen Entwicklungen und zur Bedeutung des „end of history“ in den 1990er-Jahren sind dabei anregend, die angesprochenen Themen nach 1945 werden aber nur knapp abgehandelt. So weckt die Vermarktung und Aufmachung des Buches Erwartungen an eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nicht erfüllt werden. Ihre Begründung, dass nach 1945 die Bedeutung des Themas Staatenlosigkeit in den Diskursen über internationale Politik rapide abnahm, überzeugt nicht.
Darüber hinaus verzichtet Siegelberg trotz aller Differenzierung darauf, das Bild des Völkerbunds als einheitlichen Akteur aufzubrechen und reproduziert die Vorstellung einer auf internationale Politik ausgerichteten Organisation. Hinzu kommt, dass die Argumentation oft einen Bogen vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus spannt, ohne die Spezifität der einzelnen historischen Kontexte präzise zu bestimmen.
Trotz dieser Kritikpunkte bereichert Statelessness. A Modern History die Forschungslandschaft und gibt neue Impulse für die Historiographie des 20. Jahrhunderts, die Staatenlosigkeit bisher zu oft als eine von vielen Facetten der entstehenden Totalitarismen interpretiert hat. Dagegen nutzt Mira Siegelberg Debatten um die legale Kategorie Staatenlosigkeit, um Veränderungen der internationalen Ordnung nach 1945 in einer längeren Perspektive zu verordnen. Es ist ein lesenswertes Buch, das die Bedeutung von Debatten über Staatenlosigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene System von Menschenrechten und internationalem Recht offenlegt und damit einen wichtigen Beitrag zur existierenden Forschung leistet.
Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Kathrin Kollmeier dar, die sich aus einer ähnlichen Perspektive dem Thema nähert und eine Reihe bemerkenswerter Aufsätze vorgelegt hat. Siehe dazu: Katrin Kollmeier, Eine „Anomalie des Rechts“ als Politikum. Die internationale Verhandlung von Staatenlosigkeit 1919–1930, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 35/3–4 (2013), S. 193–208; dies., Staatenlos in einer staatlich geordneten Welt. Eine politische Signatur des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Souveränität, Menschenrechten und Zugehörigkeit, in: Neue Politische Literatur 57/1 (2012), S. 49–66. Für die Bedeutung von Staatenlosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es deutlich mehr Literatur, sowohl aus der historischen Forschung als auch aus der Politikwissenschaft, Philosophie und Rechtswissenschaft. Hier liegt der Schwerpunkt aber oft auf dem UN-System und Ausgangspunkt sind der Schrecken des Zweiten Weltkriegs oder zeitgenössische Flüchtlingsbewegungen.
2 Prominent vertreten sind Hannah Arendt, René Cassin, Joseph P. Chamberlain, Erich Hula, Philip C. Jessup, Hans Kelsen, James Minor Ludlow, Durward V. Sandifer und Paul Weis.