Cover
Titel
The Moral Witness. Trials and Testimony after Genocide


Autor(en)
Dean, Carolyn J.
Reihe
Corpus Juris. The Humanities in Politics and Law
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 188 S., 6 Abb.
Preis
$ 23.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Stengel, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main

Die in Yale lehrende Historikerin Carolyn J. Dean befasst sich in ihrem neuen Buch mit der Figur des „witness to genocide“ im 20. Jahrhundert. Die Zeugenschaft des Holocaust in ihren juristischen, vor allem aber erinnerungskulturellen und literarischen Formen und Bedeutungen ist in den vergangenen Jahrzehnten intensiv diskutiert worden, meist jedoch ohne Verbindung zur Zeugenschaft anderer Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts. Diese Verbindung stellt Dean mit einem kulturhistorischen Ansatz und einem zeitlich weiten Fokus her. Anhand bekannter und weniger bekannter Gerichtsverfahren verfolgt sie das Auftreten, die Rolle und die Wahrnehmung von Zeugen genozidaler Verbrechen in westlichen Ländern.

Im argumentativen Zentrum ihrer Überlegungen steht der Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961 als ein Ereignis, das eine spezifische Form der Zeugenschaft eines beispiellosen Verbrechens weltbekannt gemacht hat, eine Zeugenschaft, die aus dem Gerichtssaal weit in die Gesellschaft hineinwirkte. Dean geht es um eine Kontextualisierung und Historisierung der dort entstandenen, ikonischen Figur des Holocaust-Zeugen. Sie weist die Überhöhung und Sakralisierung dieser Form der Zeugenschaft zurück und wendet sich damit en passant auch gegen die Annahme einer Singularität der Verfolgungserfahrungen europäischer Jüdinnen und Juden unter der NS-Herrschaft (S. 6).

Die Prozesse, die Dean untersucht, sind gut gewählt. Aus der Zwischenkriegszeit beschreibt sie zwei aufsehenerregende Strafprozesse, in denen die Angeklagten mithilfe versierter Rechtsanwälte zu Zeugen und Anklägern wurden. Der Armenier Soghomon Tehlirian erschoss am 15. März 1921 in Berlin den vormaligen osmanischen Innenminister Talât Pascha wegen seiner Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1917. Tehlirian wurde 1921 in Berlin vor Gericht gestellt. Er selbst und zahlreiche Zeugen sagten über die Schrecken des Genozids an den Armeniern aus, die der eigentliche Gegenstand des Verfahrens wurden. Angesichts dieser Schilderungen sah sich das Geschworenengericht gezwungen, Tehlirian freizusprechen; juristisch war das nur möglich, indem die Tat als Affekthandlung gewertet wurde. Ähnlich verlief der Prozess gegen Scholem Schwartzbard, der 1926 in Paris den ukrainischen Politiker Simon Petljura erschossen hatte, als Mitverantwortlichen für die verheerenden Pogrome in der Ukraine im Jahr 1917. Auch hier verschob sich der Fokus des Prozesses von der Tat des Angeklagten auf die Gräuel der Pogrome, die er selbst und etliche Zeugen vor Gericht schilderten. Schwartzbard wurde ebenfalls freigesprochen; sein Schmerz wegen des Todes seiner Angehörigen habe ihn überwältigt. In beiden Prozessen, so Dean, sei die internationale Öffentlichkeit durch die Erzählungen der Zeugen mit zuvor kaum bekannten genozidalen Verbrechen konfrontiert worden. Die Autorin sieht hier die Entstehung einer neuen Zeugenfigur, verkörpert durch Opfer, die nicht Mitleid, sondern Gerechtigkeit fordern.

Für die frühe Nachkriegszeit beschreibt Dean im zweiten Kapitel eine gänzlich andere Konstellation. Hier geht es um zwei zivilrechtliche Verleumdungsprozesse in Paris, bei denen über die Existenz extralegaler Straflager in der Sowjetunion gestritten wurde. Das Kapitel führt tief hinein in die ideologischen Kämpfe des Kalten Kriegs. Ausgangspunkt war in beiden Fällen eine Verleumdungsklage gegen Les Lettres françaises, eine der kommunistischen Partei nahestehende Literaturzeitschrift, die ihrerseits Autoren der Lüge bezichtigt hatte, die die Existenz eines Gulag-Systems in der Sowjetunion behaupteten. Victor A. Kravchenko, ein sowjetischer Dissident, ließ in seinem Prozess 1949 zahlreiche Zeugen auftreten, die von ihren Erlebnissen in sowjetischen Straflagern berichteten, darunter erschütternde und weitbeachtete Berichte wie derjenige von Margarete Buber-Neumann. Die Verteidiger der Beklagten bezichtigten die Zeugen allesamt der Lüge; das Gericht sah die Existenz von Straflagern in der Sowjetunion am Ende nicht als bewiesen an, gab Kravchenko aber dennoch recht.

Sehr große Aufmerksamkeit erlangte ein Jahr später ein Prozess, den David Rousset, Résistance-Kämpfer und ehemaliger Buchenwald-Häftling, angestrengt hatte. Der damals international bekannte Autor des Buches L’univers concentrationnaire (1946) hatte eine Initiative ins Leben gerufen, die die Existenz von KZ-ähnlichen Lagern in verschiedenen Ländern, darunter der Sowjetunion, untersuchen sollte.1 Auch in seinem Verleumdungsprozess sagten zahlreiche Augenzeugen aus. Rousset ging es aber weniger darum, die Existenz der Lager zu beweisen, als darum, die Legitimität seiner Anstrengungen unter Beweis zu stellen. Er hatte vor allem ehemalige KZ-Häftlinge aufgerufen, sich der Initiative anzuschließen, da sie in seinen Augen dazu besonders legitimiert waren. Rousset sah in den KZ-Überlebenden Personen, die aufgrund ihres eigenen Leidens mehr erkennen und tiefer empfinden konnten als andere. Sein heroisch-elitäres Bild des (männlichen) KZ-Häftlings traf auf die Zustimmung der Öffentlichkeit. Es entstand daraus die Idee einer moralisch überlegenen Zeugenschaft des Leids, die dazu verpflichte, sich weltweit für andere Unterdrückte einzusetzen.

Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht ein Strafverfahren, das unter diversen Aspekten seit vielen Jahren diskutiert wird: der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961. Mit ihm verlagerte sich erstmals in der Nachkriegsgeschichte der Fokus von den Helden des Widerstands auf die Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Dieser Prozess wird allgemein als die Geburtsstunde des Holocaust-Zeugen angesehen und leitete eine weitreichende Entwicklung in der öffentlichen Figur des Zeugen ein.2 Dean befasst sich hier nicht nur mit den vielfältigen und widersprüchlichen Funktionen, die den Zeugen zugewiesen wurden, und der Wirkung ihres Auftretens, sondern auch mit den daraus entstehenden, wechselhaften Erscheinungsformen des Holocaust-Überlebenden in Literatur und Forschung, von Elie Wiesel über Bruno Bettelheim und Robert Jay Lifton bis zu Terrence Des Pres. Schon in den 1970er-Jahren hatten sich Dean zufolge die Überlebenden des NS-Terrors in Symbole einer universellen Moral verwandelt. Die jüdischen Überlebenden wurden zu einer Metapher für die Opfer aller genozidalen Verbrechen und schufen die Basis für eine neue Moral des „Nie wieder“. Sie verkörperten gleichermaßen die Schrecken, zu denen der moderne Mensch fähig sei, wie auch deren erhoffte Überwindung.

Im vierten und letzten Kapitel wendet sich die Autorin den Opfern und Zeugen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag zu sowie einer von ihr als „Gegenzeugen“ bezeichneten Figur. Der ICC ist nicht zuletzt durch das Versprechen legitimiert, den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen, ihren Verfolgungsgeschichten Raum zu geben und damit zur Heilung ihrer Wunden beizutragen – ein Versprechen, das zwangsläufig in Widerspruch steht zur Täterzentrierung des Strafprozesses. Dean kritisiert, dass der ICC einem abstrakten, unschuldigen und traumatisierten Opfer huldige, die konkreten Opfer in den Verfahren aber vielfach zum Schweigen bringe. Dasselbe abstrakte Opferbild erscheine seit einiger Zeit auch als Objekt des internationalen humanitären Menschenrechtsdiskurses. Die Autorin verlässt hier die Sphäre der Justiz und der juristischen Zeugenschaft und wendet sich einer Entwicklung zu, in der die Rolle und symbolische Macht des Zeugen von den Opfern entkoppelt und immer stärker durch Zuschauer – Mitarbeiter von NGOs, Fotojournalisten etc. – in Anspruch genommen werde. Die Betroffenen seien nur mehr sprachlose Opfer ubiquitärer Gewalt. Der „Gegenzeuge“ sei eine neue Figur, ein Akteur, der einerseits die kulturelle Fixierung auf die globalen Opfer kritisiere, andererseits vom Scheitern und den Versäumnissen der internationalen rechtlichen, humanitären und kulturellen Institutionen im Umgang mit ihnen spreche.

Der letzte Teil wirft interessante Fragen auf, aber die Autorin verliert hier ihren bis dahin klaren Fokus; die angesprochenen disparaten Aspekte finden in dem Begriff „Counterwitness“ keine sinnvolle Klammer. In den vorangehenden Teilen fehlt zudem oftmals eine klare Rückbindung der Rolle der Zeugen an die jeweiligen rechtlichen Kontexte. Form und Inhalt der Zeugnisse waren stets geprägt durch die konkreten juristischen Bedingungen und Umstände der Zeugenschaft, das sollte nicht vernachlässigt werden. Gelegentlich gerät die Argumentation recht weitschweifig und lässt Präzision vermissen; Osteuropa und der globale Süden kommen als Gerichtsorte nicht vor. Dennoch ist das Buch als eine Geschichte der Entwicklung des „moralischen Zeugen“ im 20. Jahrhundert durchaus lesenswert. Für den (west-)deutschen Kontext ist interessant, dass die Wahrnehmung und Funktion der Opferzeugen in den NS-Prozessen offenbar jahrzehntelang einen anderen Weg nahm und der von Dean dargestellten Entwicklung nicht entsprach. Eine über ihre Beweisfunktion hinausgehende Bedeutung gestanden die bundesdeutsche Justiz und die Öffentlichkeit den Zeugen bis in die jüngere Zeit gerade nicht zu.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu jetzt eingehend Emma Kuby, Political Survivors. The Resistance, the Cold War, and the Fight against Concentration Camps after 1945, Ithaca 2019; rezensiert von Claudia Moisel, in: H-Soz-Kult, 26.11.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28113 (27.11.2019).
2 Siehe Hanna Yablonka, Die Bedeutung der Zeugenaussagen im Prozess gegen Adolf Eichmann, in: Martin Sabrow / Norbert Frei (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 176–198; Annette Wieviorka, The Era of the Witness, Ithaca 2006, S. 56–95.