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Titel
Tatort Sachsenhausen. Strafverfolgung von KZ-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Bohra, Stephanie
Reihe
Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten
Erschienen
Berlin 2019: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
661 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Spätestens Anfang der 1990er-Jahre begann sich die deutsche Zeitgeschichtsforschung erstmals intensiver mit der Geschichte der NS-Prozesse in den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik zu befassen. Seitdem ist das wissenschaftliche Interesse ständig gewachsen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die wichtigsten Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik die NS-Prozesse der 1960er- und 1970er-Jahre heute wie selbstverständlich als Teil einer westdeutschen Demokratisierungs- und Liberalisierungsgeschichte behandeln. Die Strafverfahren gelten damit als „Vorboten des Wandels“1, die – ungeachtet aller Kritik an fragwürdigen Entscheidungen in Politik und Justiz – die Selbsttransformation der bundesdeutschen Gesellschaft zu einem liberalen, pluralistischen und aufgeklärten Gemeinwesen mit ermöglicht haben.

Obwohl die Plausibilität dieser optimistischen Deutung im Großen und Ganzen kaum bestritten werden kann, beruht sie dennoch auf einer historiographischen Engführung. So wird die komplexe Thematik auf einige Schlüsselereignisse wie den Ulmer Einsatzgruppenprozess (1958), die Verjährungsdebatten (1964/1965, 1969, 1979), den Jerusalemer Eichmann-Prozess (1961) und den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) reduziert, die stellvertretend für die Gesamtgeschichte einer – ausschließlich westdeutsch konnotierten – juristischen Aufarbeitung stehen sollen. Was bei dieser Art von „Meilenstein“-Historiographie jedoch unter den Tisch fällt, sind die zahlreichen anderen, weniger spektakulären Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen, die einer genaueren empirischen Erforschung bedürfen.

Genau an diesem Punkt setzt Stephanie Bohra mit ihrer umfangreichen Dissertation zum „Tatort Sachsenhausen“ an. Am Beispiel eines einzelnen, sich immer weiter auffächernden Ermittlungskomplexes möchte die Autorin zeigen, welche verschiedenen Faktoren im Laufe von fünf Jahrzehnten die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen zeitweise angetrieben, vielfach aber auch behindert haben. Für ihre exemplarische Längsschnittstudie hat sich Bohra die Nachkriegsermittlungen zum Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg ausgesucht. Sie begründet dies mit der besonderen Bedeutung Sachsenhausens als Modell- und Ausbildungslager der SS, der vergleichsweise hohen Zahl von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, der langen Dauer der juristischen Aufarbeitungsversuche sowie der Verfügbarkeit relevanter Justizaktenbestände, von denen Teile als Kopien im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen zugänglich sind. Da die Verfasserin ihre Arbeit ausdrücklich als Beitrag zu einer breiteren gesellschaftsgeschichtlichen Einbettung der NS-Strafverfolgung versteht, hat sie sich auch darum bemüht, Einsicht in die verstreuten Nachlässe ehemaliger Häftlinge und die Unterlagen von Häftlingsorganisationen zu nehmen. Als wichtiger Grundstock diente zudem die umfassende Datensammlung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), aus der sich erste Anhaltspunkte für weiterführende Recherchen ergaben. Diese flossen wiederum in eine eigene Datenbank ein, anhand derer die quantitative und qualitative Analyse vorgenommen wurde.

Bohra eröffnet die Studie mit einer knapp 40-seitigen Einleitung, die den Forschungsstand breit abhandelt. Die Entscheidung, das etwas sperrige Format einer Dissertationsschrift beizubehalten, erweist sich in diesem Fall durchaus als Vorzug. So kann insbesondere der ebenso kompetente wie detailreiche Überblick zu den wissenschaftlich-publizistischen Diskussionen der letzten vier Jahrzehnte jedem Leser an die Hand gegeben werden, der sich in das disparate Forschungsfeld der Nachkriegsprozesse einzuarbeiten sucht. Der daran anschließende Hauptteil ist in drei größere Abschnitte gegliedert. Während der erste Abschnitt eher kursorisch über die Gesamtheit aller seit 1946 durchgeführten Strafverfahren zum KZ Sachsenhausen und über die wesentlichen Ergebnisse der Ahndungsaktivitäten informiert, bildet der zweite Teil den eigentlichen Schwerpunkt der Untersuchung. Im Vordergrund stehen hier genuin historische Fragen, die über den engeren juristischen Bereich hinausführen, indem sie den Fokus auf das gesellschaftspolitische Umfeld und die Wirkungen der Sachsenhausen-Ermittlungen richten. Grundlage der Analyse ist eine Auswahl von knapp 30 Gerichtsverfahren aus den 1940er- bis 1990er-Jahren, die die Verfasserin dem engeren, als „Tatort Sachsenhausen“2 definierten Verbrechensbereich zurechnet. Schließlich widmet sich ein dritter Teil der „Praxis der Strafvollstreckung“, die auf der Grundlage von Vollstreckungs- und Gnadenheften rekonstruiert wird.

In ihrer systematischen Auswertung des umfangreichen Datenmaterials, das – wie erwähnt – auch auf Vorarbeiten der IfZ-Arbeitsgruppe beruht, kann Bohra zunächst zeigen, dass der zahlenmäßige Anteil der Sachsenhausen-Verfahren am Gesamtaufkommen der westdeutschen NS-Ermittlungen mit unter einem Prozent kaum ins Gewicht fiel. Betrachtet man hingegen die Prozess- und Verurteilungsquoten, ändert sich das Bild. Während üblicherweise nur vier Prozent aller NS-Verfahren mit einem Urteilsspruch endeten, lag der Anteil in den Sachsenhausen-Verfahren bei gut zwölf Prozent. Auch die Rate von Verurteilungen wegen Mordes lag über dem Durchschnitt. Die positive Bilanz wurde jedoch dadurch eingetrübt, dass mehr als 90 Prozent aller Verfahren eingestellt wurden. In konkrete Zahlen übersetzt, bedeutete dies, dass von 340 Beschuldigten nur 49 Personen angeklagt wurden, von denen 41 vor Gericht standen und am Ende 27 schuldig gesprochen wurden. Damit erreichte die juristische Aufarbeitung des Tatorts Sachsenhausen zwar ein deutlich höheres Niveau als die Ermittlungen zu anderen Konzentrationslagern im ehemaligen Reichsgebiet. Jedoch hält Bohra solche Vergleiche grundsätzlich für schwierig, da ein großer Teil der Verbrechen, die in Dachau, Mauthausen und Buchenwald verübt wurden, bereits direkt nach Kriegsende von den Amerikanern geahndet worden war (S. 563). Die Aufschlüsselung der Beschuldigten- und Angeklagtengruppe ergibt ferner, dass etwa zwei Drittel aus dem Kommandanturstab stammten, während die Gruppe der Funktionshäftlinge an zweiter Stelle rangierte. Leider geht die Autorin nur am Rande auf die fast 30 Personen starke Gruppe der Human- und Zahnmediziner ein, die bis auf drei Ausnahmen alle einer Strafverfolgung entgingen (S. 83).

Bei der Suche nach Erklärungen für die von ihr diagnostizierte „fatale Gesamtbilanz“ (S. 566) gelangt Bohra zu differenzierenden Befunden. So kamen die ersten Prozesse vielfach dadurch in Gang, dass überlebende KZ-Häftlinge frühere Funktionshäftlinge wiedererkannt und angezeigt hatten. Dabei spielte nicht zuletzt der Umstand eine Rolle, dass die Justizbehörden speziell bei der Verfolgung dieses Personenkreises an frühere „sozialrassistische und kriminalbiologische Zuschreibungen“ anknüpfen konnten (S. 145). In Bezug auf die zweite Hälfte der 1950er-Jahre arbeitet die Verfasserin dann überzeugend heraus, dass der Einfluss, der der 1958 gegründeten Ludwigsburger Zentralen Stelle für den Verlauf der NS-Ermittlungen zugeschrieben wird, zumindest in diesem Bereich deutlich geringer ausfiel als angenommen. Stattdessen ging die neue Welle von Sachsenhausen-Prozessen, die zu Beginn der 1960er-Jahre stattfanden, vor allem darauf zurück, dass sich die Bundesregierung aus Gründen der außenpolitischen Imagepflege in der Frage der „nichtamnestierten“ deutschen Kriegsverbrecher, die 1956 aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt waren, für eine weitere Strafverfolgung engagiert hatte.

Zu den erkenntnisträchtigsten Teilen der Studie zählen die Abschnitte, die sich mit der Tätigkeit der Kölner Zentralstelle (ab 1961), dem Wirken des dortigen Staatsanwalts Kurt Pfeufer und der Rolle des Sachsenhausen-Komitees beschäftigen. So wird hier einmal mehr deutlich, wie sich aus dem unkonventionellen, teilweise contra legem vorgehenden Ermittlungsansatz eines einzelnen Strafverfolgers und der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit früheren KZ-Häftlingen, die wegen ihrer Nähe zur verbotenen KPD bereits wieder im Fadenkreuz des westdeutschen Staatsschutzes standen, eine produktive Dynamik entwickeln konnte, die in Ausnahmefällen auch die erfolgreiche Verurteilung der Täter nach sich zog. Während Bohra in Bezug auf die Haftverbüßung der KZ-Täter keine Abweichungen feststellen konnte, die eventuell auf eine nachträgliche „Korrektur“ der gesetzlichen Normgrenzen hingedeutet hätten (S. 560), sieht sie einen klaren Zusammenhang zwischen deren fehlender Reuebereitschaft und den Aktivitäten von Vereinen wie der „Stillen Hilfe“ und der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS“ (HIAG).

Ein wesentliches Verdienst von Stephanie Bohras materialreicher Studie ist, dass es ihr an einem gut gewählten Fallbeispiel gelingt, die zahlreichen Paradoxien, Widersprüche und selbstgeschaffenen Sachzwänge, die für die bundesdeutsche NS-Strafverfolgung insgesamt kennzeichnend waren, in verschiedenen Kontexten und empirisch dicht zu veranschaulichen. Dies geschieht allerdings in einer Weise, die der Leserin oder dem Leser einiges an Geduld abverlangt und darstellerisch nicht durchgehend überzeugt. So wirkt die Aneinanderreihung der vielen Prozessgeschichten teilweise ermüdend. Zudem hätte man sich des Öfteren eine pointiertere Einordnung und Bewertung der Einzelbefunde gewünscht. Ungeachtet dessen setzt die solide gearbeitete Untersuchung aber Maßstäbe für eine aktengestützte Erforschung der juristischen Aufarbeitung von KZ-Verbrechen in der alten und neuen Bundesrepublik.

Anmerkungen:
1 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 747.
2 Davon ausgenommen wurden die zahlreichen Verbrechen auf sogenannten „Todesmärschen“, in Strafkommandos und im Außenlager Klinkerwerk, in anderen Außenlagern und bei SS-Baubrigaden.

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