Es verheißt in der Regel nichts Gutes, wenn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den Schlagzeilen auftaucht. In der industrialisierten Welt findet sie eigentlich nur dann Aufmerksamkeit, wenn sich der „globale Norden“ von Seuchen und Epidemien bedroht fühlt – wie 2014, als sich das Ebolafieber in Westafrika ausbreitete. Dabei hat die WHO vor allem im „globalen Süden“ seit ihrer Gründung im Jahre 1948 das Leben von Hunderten Millionen Menschen massiv beeinflusst. Dennoch ist sie in der Geschichtswissenschaft außerhalb recht enger medizinhistorischer Kreise bislang kaum auf Forschungsinteresse gestoßen. Nun haben mit Marcos Cueto, Theodore M. Brown und der leider kurz vor Veröffentlichung verstorbenen Elizabeth Fee drei renommierte Medizinhistoriker/innen eine neue Geschichte der Weltgesundheitsorganisation vorgelegt.1 Ziel des Buches ist es, eine umfassende Antwort auf die Frage zu geben, was und wieviel die Organisation dazu beigetragen hat, „allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen“, wie es in der WHO-Verfassung heißt.2 Tatsächlich bieten Cueto, Brown und Fee einen Überblick zur Organisationsentwicklung, der mit Abstrichen auch als Einführung in wichtige Themen und Probleme der internationalen Gesundheitspolitik funktioniert. Aber eine überzeugende Historisierung leisten sie nicht.
In elf Kapiteln, die grob chronologisch organisiert sind, aber jeweils unterschiedliche thematische Schwerpunkte aufweisen, erzählen die Autor/innen die Geschichte der WHO in drei Akten: Auf die Gründung und den zunehmenden Einfluss bis in die 1970er-Jahre folgten zunächst Krise und Fall in den 1980er- und 1990er-Jahren, bevor es der Genfer Behörde im frühen 21. Jahrhundert gelungen sei, ihre Bedeutung wieder zu festigen. Nach einem knappen Überblick zu den Anfängen intergouvernementaler Zusammenarbeit in Gesundheitsfragen seit Mitte des 19. Jahrhunderts behandeln die Kapitel 2 bis 4 die Gründung der WHO nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre rasche Etablierung als zentrale Instanz grenzüberschreitender Kooperation. Der prägende Konflikt dieser Phase war der Kalte Krieg, der sich in der Organisation etwa dadurch manifestierte, dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten die WHO zeitweise aus Protest gegen die vermeintlich zu große Nähe der Behörde zu den USA verließen. Tatsächlich seien die Entscheidungen in Genf, so Cueto, Brown und Fee, ganz wesentlich von den USA beeinflusst und gesteuert worden. In der Praxis lag der Schwerpunkt darauf, einzelne Krankheiten durch den massenhaften Einsatz technischer Hilfsmittel zu bekämpfen: „American style of disease control“ nennen das die Autor/innen (S. 7). Dies gipfelte im globalen „Malaria Eradication Program“, das die WHO zwischen 1955 und 1969 betrieb: dem Versuch, Malaria vornehmlich durch den Einsatz des Insektizids DDT gegen Moskitos als Überträger der Krankheit zu eliminieren. Zwar konnte das Programm die Zahl der Malariafälle in vielen Weltregionen dramatisch senken. Aber letztlich sei es vor allem daran gescheitert, dass es nie gelang, die Anstrengungen in funktionierende Gesundheitssysteme zu integrieren.
Die Kapitel 5 bis 7 fokussieren die 1970er-Jahre, in denen die WHO vor allem auf drei Feldern aktiv war. Zunächst organisierte sie einen globalen Feldzug gegen Pocken, der tatsächlich zur „Ausrottung“ der Krankheit führte: 1977 wurde der letzte Fall in Somalia verzeichnet. Cueto, Brown und Fee stellen das Pockenprogramm als vorbildhafte Kampagne dar – in ihrer Erzählung wohl der Höhepunkt der WHO-Geschichte. Zweitens engagierte sich die Organisation im Bereich der Bevölkerungskontrolle. Allerdings sehen die Autor/innen eher keine Nähe zu den Geburtenkontrollprogrammen, die in verschiedenen „Entwicklungsländern“ unter Einsatz von erheblichem Zwang und großer Gewalt vorangetrieben wurden. Sie zeichnen vielmehr eine Linie von der „Familienplanung“ der WHO zu der Betonung von sexuellen und reproduktiven Gesundheitsrechten von Frauen, die sich in den 1990er-Jahren durchsetzten. Schließlich verkündete die WHO 1978 unter dem Schlagwort „Primary Health Care“ eine neue Leitvision und erklärte, sich zukünftig vor allem für eine hygienische und medizinische Grundversorgung einsetzen zu wollen. Dies bewerten die Verfasser/innen als überfällige Abkehr vom alleinigen Fokus auf die hochtechnologisierte Expertenmedizin westlicher Prägung. Allerdings mussten die Genfer Akteure bald erkennen, dass wichtige westliche Geldgeber weiterhin die Konzentration auf einzelne Krankheiten bevorzugten, die konkrete und schnelle Ergebnisse versprach.
Hier deutet sich bereits eines der zentralen Probleme an, mit denen die WHO in den 1980er- und 1990er-Jahren zu kämpfen hatte: Während sie selbst intern zerstritten und durch finanzielle Engpässe gelähmt war, übernahmen andere Institutionen die Führung in der internationalen Gesundheitspolitik. Diese Entwicklung steht im Mittelpunkt der Kapitel 8 und 9. Zwar setzte sich die WHO beispielsweise Ende der 1980er-Jahre zunächst an die Spitze der internationalen Bekämpfung von HIV/AIDS. Schon Mitte der 1990er-Jahre war das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft in die Genfer Behörde allerdings so sehr gesunken, dass die Vereinten Nationen ihr nicht länger die Führungsrolle im Kampf gegen die Seuche zugestehen wollten. Zu dieser Zeit wurde die Gesundheitspolitik längst wesentlich stärker von der Weltbank und privaten Akteuren wie der Gates-Stiftung geprägt. Erst im frühen 21. Jahrhundert gelang es der WHO unter einer neuen Führung, sich wieder als eine der Zentralinstanzen grenzüberschreitender Kooperation zu etablieren.
Wie erklären Cueto, Brown und Fee diese wechselvolle Geschichte der WHO? Sie betonen erstens die prägende Kraft einzelner Persönlichkeiten, zuvorderst der Generaldirektor/innen (die Norwegerin Gro Harlem Brundtland war von 1998 bis 2003 die erste Frau in dieser Funktion). Überhaupt legen die Autor/innen viel Wert auf persönliche Führungsqualitäten (oder deren Fehlen), Intrigen und Ränkespiele. Dabei beweisen sie, dass sie Zugang zum gegenwärtigen und vergangenen Flurfunk der WHO hatten. Zweitens heben Cueto, Brown und Fee den Widerstreit zweier fundamentaler Prinzipien der Gesundheitsfürsorge hervor: der sozialmedizinischen Schule auf der einen Seite, die sich um die sozio-ökonomischen Determinanten von Gesundheit und Krankheit bemüht; und der technokratischen Konzentration auf die Krankheitsbekämpfung mittels moderner Medizin und technischer Hilfsmittel auf der anderen Seite. Drittens betont das Buch den vermeintlich übermächtigen Einfluss der USA.
An diesem letztgenannten Punkt werden allerdings auch die Grenzen der Studie deutlich. Denn selbst wenn viel von den USA die Rede ist, so machen sich die Autor/innen doch sehr stark die Innenperspektive der WHO auf das internationale Geschehen zu eigen. Das Buch basiert fast ausschließlich auf WHO-Quellen und medizinhistorischer Literatur; wenn es etwa um die Bevölkerungspolitik geht, ist nicht einmal das vielbeachtete Standardwerk von Matthew Connelly aufgeführt, das die Rolle der WHO ausführlich darstellt.3 So argumentieren Cueto, Brown und Fee dann auch nicht immer auf der Höhe des Forschungsstandes zur internationalen Geschichte oder der US-Außenpolitik. Zu einigen Verzerrungen führt darüber hinaus die Tatsache, dass nicht-westliche Perspektiven im Buch beinahe vollkommen fehlen. Aus Sicht der Eliten in den „Entwicklungsländern“ aber fügte sich etwa das globale Malariaprogramm in ein großangelegtes Projekt der Nationalstaatsbildung ein, das der Legitimation postkolonialer Herrschaft dienen sollte. Nimmt man dies ernst, erscheint die internationale Gesundheitspolitik eben nicht mehr nur als westliche beziehungsweise US-amerikanische Angelegenheit.4
Auch der Umgang mit der WHO selbst kann nicht recht überzeugen. So kommt das Buch leider vollkommen ohne eine Reflexion darüber aus, wie sich die Geschichte einer solchen Organisation überhaupt schreiben und wie sich ihr relativer Stellenwert in der internationalen Geschichte bemessen lässt. Schließlich, und dieser Einwand wiegt letztlich am schwersten, verzichten Cueto, Brown und Fee weitgehend auf eine historische Einordnung des Geschilderten. Wenn sie von der Gründung der WHO berichten, finden die breiteren Kontexte der 1940er-Jahre keine Erwähnung – etwa die Nachkriegsplanungen der Alliierten oder die Etablierung der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen, zu denen ja auch die WHO zählt; ebenso wenig wird die Idee einer kollektiven „Weltgesundheit“ in den globalistischen Zeitgeist des Jahrzehnts eingeordnet. Wenn für die 1990er-Jahre, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, von der Angst vor der weltweiten Ausbreitung von Krankheiten die Rede ist, vergeben die Verfasser/innen erneut die Chance, die internationale Gesundheitspolitik auf die sich zuspitzenden Globalisierungswahrnehmungen zu beziehen.
So bleibt am Ende vor allem der Eindruck einer verpassten Gelegenheit. Denn anhand der Geschichte der Weltgesundheitsorganisation ließe sich noch viel mehr über die zweite Hälfte des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts erfahren. Doch eine Geschichte der WHO im Sinne einer konsequenten Historisierung ist Marcos Cueto, Theodore M. Brown und Elizabeth Fee nicht gelungen. Daher steht zu vermuten, dass ihr Buch es leider nicht schaffen wird, die WHO und die internationale Gesundheitspolitik allgemein als Themen zu etablieren, die weit über die Medizingeschichte hinaus von zentraler Bedeutung sind.
Anmerkungen:
1 Siehe zuvor u.a. Kelley Lee, The World Health Organization, London 2008; rezensiert von Klaas Dykmann, in: H-Soz-Kult, 12.11.2010, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-14816 (07.12.2019); und Klaas Dykmann, Internationale Organisationen und ihre Zivilisierungsbestrebungen. Die Geschichte der Weltgesundheitsorganisation, Zürich 2017.
2https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/index.html (07.12.2019).
3 Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge 2008; vgl. dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 20.11.2008, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11962 (07.12.2019).
4 Siehe zu diesem Zusammenhang ausführlich Thomas Zimmer, Welt ohne Krankheit. Geschichte der internationalen Gesundheitspolitik 1940–1970, Göttingen 2017, S. 219–275; rezensiert von Heidi Tworek, in: H-Soz-Kult, 19.01.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25461 (07.12.2019).