Es ist erst ein gutes Jahrzehnt her, dass Tony Judt beklagte, dass das 20. Jahrhundert in Vergessenheit geraten sei – und mit ihm nicht nur seine Konflikte, sondern auch die zentralen Diskussionen um politische Konzepte und deren Akteure, die public intellectuals.1 Die vergangenen Monate haben in mehrfacher Hinsicht bewiesen, dass zumindest diese Sorge Judts nicht begründet war – wobei fraglich ist, ob die Gründe für das anhaltende politische und historiographische Interesse an dem Jahrhundert der Katastrophen nicht größere Sorgen bei dem großen britischen Historiker hervorgerufen hätten als sein Absinken in Vergessenheit. Die Gegenstände der politischen Diskussionen, die als Krise wahrgenommene Situation der westlichen Demokratien, der Erfolg populistischer Strömungen, die Debatten um Globalität von wirtschaftlichen Prozessen und um die Gestaltung ökonomischer Ordnungen, hätten ihn gleichwohl nicht überrascht.
Es sind zugleich die Themen, denen sich auch die Geschichtswissenschaft stellt, oft ebenfalls in Form von public intellectuals, die an politischen Diskussionen teilnehmen und damit den auf diesem Feld gegenwärtig besonders erfolgreichen Soziologen begegnen, aber auch in der Wissenschaft. Dabei richtet sich das Interesse nicht nur auf die Täter und Opfer der sich etablierenden Terrorregime des 20. Jahrhunderts und die Beispiele „geglückter Demokratie“ in dessen zweiter Hälfte, sondern seit längerem auch auf die diese Entwicklungen begleitenden intellektuellen Debatten.
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die kürzlich vorgelegte Untersuchung John Carter Woods über die Oldham-Gruppe, eine lose Vereinigung politisch moderater christlicher Intellektueller in den 1930er- und 1940er-Jahren, die sich über die zukünftige politische und gesellschaftliche Ordnung des Westens im Allgemeinen und Großbritanniens im Besonderen austauschten. Wood hat keine Kollektivbiographie geschrieben, wie sie für andere Akteursgruppen des 20. Jahrhunderts vorliegt. Es handelt sich eher um den Versuch, die Genese gesellschaftspolitischer Vorstellungen in der Interaktion der Gruppenmitglieder kenntlich zu machen. Das ist ein herausforderndes Programm, denn die genaue Abgrenzung der Mitglieder ist nicht immer ganz einfach. Es handelt es sich um einen relativ heterogenen Kreis, der je nach Anlass unterschiedlich groß sein konnte und zu dem der Dichter T.S. Eliot ebenso zu zählen ist wie der Agnostiker und Soziologe Karl Mannheim. Drei zentrale Elemente scheinen jedoch die Teilnehmer dieser Gruppierung verbunden zu haben: die Einsicht, dass sich die Moderne in einer tiefgreifenden Krise befinde; die Vorstellung, dass in einer künftigen Ordnung das christliche Erbe eine wichtige gestaltende Rolle zu spielen habe; und zugleich die Befürchtung, dass sich das christliche Bekenntnis innerhalb der britischen Gesellschaft von einer Mehrheits- zu einer Minderheitsposition entwickelt habe.
Woods Untersuchung ist aus zwei Gründen aufschlussreich und interessant: Sie lenkt den Blick auf zeitgenössische Debatten unter sich als Christen verstehenden Intellektuellen über die Folgen der Säkularisierung für die Stabilität politischer Ordnungen, und sie kann einen Beitrag leisten zu der Frage, inwiefern Großbritannien in der Moderne einem Sonderweg folgte und die Herausforderungen der totalitären Ideologien besser bewältigte als Deutschland, Italien oder Russland. Wie auch immer das tatsächliche Ausmaß von Säkularisierung im 20. Jahrhundert aus heutiger Sicht ausgesehen haben mag, für die Oldham-Gruppe stellte es ein Phänomen dar, das mit Händen zu greifen war und zugleich die vielleicht wichtigste Ursache der Krise der Moderne darstellte.2 Nicht nur für T.S. Eliot war der Versuch zur Konstruktion einer „civilised, but non-Christian mentality“ (S. 12) zum Scheitern verurteilt. Zugleich schien die Krise aber auch eine Chance zu sein, aus den Problemen und Gefährdungen einer irregeleiteten Moderne zu lernen und eine neue gesellschaftlich-moralische Ordnung zu etablieren. Gerade für diese intellektuellen Folgen der von ihm so benannten „subjective secularisation“ interessiert sich Wood.
Tatsächlich stellte der Umgang mit der Säkularisierung für die Teilnehmer der Oldham-Group das zentrale Problem dar. Das verhängnisvolle völkische Denken war für sie eine direkte Folge eines religiösen Niedergangs, der, wie Wood zeigt, in ihren Augen die „sacralisation of the secular categories of nation, class, Volk, party and science itself“ (S. 109) erst ermöglicht habe. Zugleich war ihnen jedoch ebenso bewusst, dass eine Rückkehr zu vorsäkularen Zeiten nicht möglich war. Diese nicht widerspruchslose Einsicht entsprach, so Wood, in ihren Augen der Komplexität der Situation. Dementsprechend forderten sie von sich selbst ein, bestimmte Grundmerkmale und Grundeinsichten ihres weltlichen Zeitalters nicht mehr in Frage zu stellen, sondern als gegeben zu akzeptieren: die Bedeutung nationaler Bindung zum Beispiel, auch die Rolle der Wirtschaft, die Rolle von Experten in komplizierten Sachgebieten. Ziel musste es daher für sie sein, eine christlich inspirierte Ethik zu fördern, die anschlussfähig an ihre Gegenwart war. Damit befanden sie sich in der Mitte zwischen jener theologischen Richtung, die eine mehr oder weniger direkte Nutzanwendung christlichen Glaubens annahm, und der Forderung nach einer strikten Sphärentrennung von Weltlichem und Religiösen, wie die Oldham-Group sie vielleicht nicht ganz zutreffend dem kontinentalen Protestantismus zuwies.
Was folgte aus diesen Überlegungen für die politischen Ideen der Gruppe? Grundlegend war zunächst auch hier eine Ambivalenz gegenüber den westlichen Merkmalen der Moderne, wobei das Kennzeichnende der inhaltlichen Positionen stets der Mittelweg zwischen den Extremen sein sollte, zwischen vorbehaltloser Zustimmung gegenüber der westlichen liberalen Demokratie und Unterstützung totalitärer Regime. Denn die Mitglieder sahen zwar im westlichen, parlamentarischen Modell eine bei allen Schwächen vorzugswürdige Variante. Zugleich existierte aber auch eine beinahe eifersüchtige Faszination gegenüber der gemeinschaftsbildenden Kraft von Faschismus und Kommunismus. Gegenüber der Individualisierung einer liberalen Gesellschaft und dem damit zusammenhängenden mangelnden Zusammenhalt besaß die Mehrheit ebenso eine Reserve wie gegenüber einer nach Hayeks marktliberalen Grundsätzen sich selbst ordnenden Gesellschaft, die sich nach den Befürchtungen der Oldham-Group atomisieren würde. Auch wenn wenige inhaltliche Positionen innerhalb der Gruppierung unumstritten oder in sich durchgehend konsistent waren, folgten daher die meisten Karl Mannheims Konzept eines planned freedom mit einer staatlich zumindest stark beeinflussten Volkswirtschaft und den Grundelementen des im Beveridge Report entworfenen britischen Wohlfahrtsstaates – womit sich die Oldham-Group letztlich in der Nähe dessen befand, was in Europa in den unmittelbaren Nachkriegsjahren nach 1945 generell auf breite Zustimmung stieß.
Woods fabelhafte Studie ist im Stil einer intellectual history geschrieben: Die Religions- und Kirchengeschichte Großbritanniens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt vor allem insofern eine Rolle, als sie zum Verständnis der argumentativen Position der Oldham-Group wichtig ist. Sie macht deutlich, wie die Erfahrung der Säkularisierung der westlichen Gesellschaften Impuls für eine bewusste politische und gesellschaftliche Verortung christlicher Intellektueller wurde, und kann damit generell unser Verständnis von Säkularisierung als eines nicht nur mit den Worten Woods „subjektiven“, sondern auch dynamischen und produktiven Prozesses vertiefen. Dabei liefert sie auch ein Beispiel dafür, wie christliche public intellectuals einen Beitrag zur politischen und gesellschaftlichen Positionierung Großbritanniens leisteten. Deren Konzept, der middle way, mag in den einzelnen politischen Positionen oft vage gewesen sein und nicht heutigen Vorstellungen von politischer Mitte entsprechen. Es verweist aber auf ein politisches Klima, das bis weit in die Nachkriegszeit prägend war und die Stabilität Großbritanniens ausmachte. Es musste letztlich erst in den 1980er-Jahren einer neuen politischen Kultur weichen, gegen deren Folgen Tony Judt noch in den 2000er-Jahren anschrieb.
Anmerkungen:
1 Tony Judt, Das vergessene Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, Frankfurt am Main 2011 [englisches Original 2008], S. 10f.
2 Auch in den 1960er- und 1970er-Jahren wäre es für viele christliche Intellektuelle und Kirchenpolitiker kaum verständlich gewesen, wenn das Phänomen der Säkularisierung bestritten worden wäre: Ihr gedanklicher und politischer Alltag kreiste oft beinahe ausschließlich um dieses mitunter als geradezu überwältigend wahrgenommene Phänomen.