Cover
Titel
Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten


Autor(en)
Tröger, Mandy
Erschienen
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Großmann, Berlin

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls sind bis dato selten gehörte (selbst)kritische Töne in den historiografischen und erinnerungspolitischen Chor hineingekommen. Einzelne Bürgerrechtler/innen und frühere DDR-Oppositionelle haben zwar auch früher immer mal wieder darauf hingewiesen, dass sie ihre Ziele einer umfassenden Demokratisierung von Politik, Medien, Öffentlichkeit, Wirtschaft und Kultur in der DDR und auch im vereinten Deutschland nicht erreichen konnten, da die „Zeit der Utopie“ zu kurz war. Doch erst die Annäherung der zeithistorischen Forschung an die Transformationsgeschichte der untergegangenen DDR und hier insbesondere die Beschäftigung mit der Treuhandanstalt1, aber auch die hektische Suche nach möglichen Ursachen für den Höhenflug der AfD in Ostdeutschland scheinen nun einen breiteren öffentlichen Resonanzraum geschaffen zu haben. Diese vielfältigeren Perspektiven beleben Forschung und öffentliche Debatten, denn damit werden – trotz mancher Irrwege und fortdauernder Blindstellen – neue Fragen jenseits der deutschen Einheit als bloßer Erfolgsgeschichte möglich.

In diesem Sinne ist Mandy Trögers 2019 als Buch erschienene kommunikationswissenschaftliche Dissertation „Pressefrühling und Profit“, die an der Universität von Illinois in den USA entstanden ist, ein großer Schritt nach vorn. Danksagung und Vorwort des Buches legen nahe, dass hier eine (ost)deutsche Herkunft, kritische amerikanische Wissenschaft und der zeitweilige Blick von außen zur Entstehung von Thema und Text beigetragen haben. Der Untertitel stellt klar, was im Zentrum steht: „Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten“. Allerdings verspricht er etwas mehr als das Buch in den Augen eines Historikers letztlich zu halten vermag, denn die Autorin untersucht „nur“ die Entwicklung des Pressevertriebs in der DDR für die Zeit zwischen November 1989 und Sommer 1990 auf medienpolitischer Ebene. Insofern geht es lediglich am Rande um die tatsächliche „Eroberung“ des Ostens – einerseits durch westdeutsche Verlage, andererseits durch die vielen Zeitungsneugründungen der Opposition und den inneren Aufbruch des verkrusteten Mediensystems in der DDR nach dem Ende der ideologischen und organisatorischen Hegemonie der Staatspartei SED ab Herbst 1989.

Tatsächlich ist der Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften in der vordigitalen Ära der eigentliche Kern einer Pressefreiheit, die nur dann eine sein kann, wenn die Leser/innen überhaupt an die Printprodukte herankommen. Insofern war der bei der Deutschen Post monopolisierte Vertrieb aller Zeitungen und Zeitschriften unter der Aufsicht des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen ein Sicherungsmechanismus der SED für eine kontrollierte Öffentlichkeit. Nur solche Printmedien, die auf der Postvertriebsliste standen, wurden an Abonnent/innen ausgeliefert oder an Kiosken und in Postämtern verkauft – was in der Praxis mehr schlecht als recht funktionierte, besonders in entfernten Städten und Dörfern. Prominentestes Opfer einer Streichung von der Postvertriebsliste war im Herbst 1988 die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“, die es in ihrer deutschen Ausgabe gewagt hatte, an den geschichtspolitischen Tabus der SED zu rühren und den Hitler-Stalin-Pakt zu thematisieren. Damit war sie de facto verboten – was erhebliche Schockwellen innerhalb der DDR zur Folge hatte, da es sich eben um eine sowjetische Zeitschrift in deutscher Sprache handelte, die angesichts von Glasnost und Perestroika nun sehr begehrt war.2

Während es die Ostdeutschen bei Hörfunk und Fernsehen mit wenigen regionalen Ausnahmen gewohnt waren, neben den DDR-Medien auch westdeutsche Programme empfangen zu können, waren westdeutsche Zeitungen und Zeitschriften auf normalem Weg nicht zu bekommen. Dabei hatte sich die DDR im Zuge des KSZE-Prozesses völkerrechtlich zu einer Öffnung ihres Pressemarktes verpflichtet. Grenzöffnung und Mauerfall beendeten auch hier die bisherige Abschottung praktisch über Nacht. Doch wer westdeutsche Presseprodukte kaufen wollte, musste über die jetzt offenen Grenzen nach West-Berlin oder in die Städte entlang der innerdeutschen Demarkationslinie fahren und mit D-Mark bezahlen. Auch um neue Offenheit und die Einhaltung der KSZE-Verpflichtungen zu demonstrieren, machte sich die neue DDR-Regierung von Hans Modrow Gedanken, wie diesem Manko abgeholfen werden könne. Man suchte schnelle Lösungen und war daher zu weitgehenden Zugeständnissen an starke westdeutsche Partner im Rahmen eines Vertriebs-Joint-Venture bereit, wie Tröger deutlich herausarbeitet.

In den Führungsetagen der westdeutschen Großverlage elektrisierte der Mauerfall die Manager. War das die langersehnte Gelegenheit, das selbstgepriesene „Leseland DDR“ endlich als Absatzgebiet für die eigenen Produkte zu erschließen? Nach Einschätzung vieler Manager und Experten lockte hier auf lange Sicht ein Milliardenmarkt. Bereits am 29. November 1989 sandte der Hamburger Großverlag Gruner + Jahr ein Angebot für eine Zusammenarbeit in Sachen Pressevertrieb an den Ministerrat in Ost-Berlin. Der Axel Springer Verlag folgte knapp vier Wochen später, und auch die Medienhäuser Bauer und Burda streckten schnell ihre Fühler Richtung Osten aus.

Es ist sehr verdienstvoll, wie Tröger im Hauptteil ihres Buches anhand von teils schwer zugänglichen Quellen wie den Privatarchiven damaliger Akteure (darunter Ralf Bachmann, Mitarbeiter des Presseamtes der DDR) und vor allem durch 17 Zeitzeugeninterviews (unter anderem mit dem Minister für Medienpolitik der Regierung de Maizière, Gottfried Müller) die weitere Entwicklung minutiös nachzeichnet. Die Archive der Verlage und Medienunternehmen blieben allerdings verschlossen; zudem wollte auch das Bundesarchiv den westdeutschen Teil der Überlieferung nicht vorfristig öffnen. Die Autorin legt dennoch einen der ersten deutsch-deutschen Wirtschaftskrimis nach dem Mauerfall frei. Dabei ist die Sache keineswegs klar und eindeutig. Mit der Etablierung des Runden Tischs als demokratischem Vorparlament und der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 kamen neue Akteure mit anderen Interessen ins Spiel. Auch unter den westdeutschen Verlagen herrschte erbitterte Konkurrenz: Die mittelständischen und kleinen Verlage sowie die Träger des verlagsunabhängigen Pressevertriebs in der Bundesrepublik wehrten sich massiv gegen das Ausgreifen der genannten „großen Vier“, da sie befürchten mussten, dass über den Umweg DDR eine zusätzliche Marktmacht entstehen und später auch auf Westdeutschland zurückwirken würde. Während die zuständigen Gremien in der DDR wie das im April 1990 gegründete Ministerium für Medienpolitik und der unabhängige Medienkontrollrat mangels Erfahrung und klarer Rechtsnormen der Entwicklung weitgehend hinterherliefen, war das Bundesinnenministerium in Bonn vor allem bemüht, sich nicht festzulegen und keine Regelungen zu befördern, die von westdeutschen Gepflogenheiten abweichen und damit einer schnellen Einheit (auf dem Pressemarkt) im Wege stehen könnten.

Letztlich schufen die westdeutschen Verlage schnell Fakten, indem sie die rechtlichen und praktischen Freiräume nutzten und mit Dumpingpreisen ihre Produkte in der DDR einführten – deutlich vor der Währungsunion vom 1. Juli und der tatsächlichen staatlichen Einheit vom 3. Oktober. Die Autorin spricht daher von einer „marktgetriebenen Presse-Wende“ und zitiert die ostdeutschen Kritiker dieser Entwicklung, die von „Wild-West-Mentalität“ und „Zuständen wie im Frühkapitalismus“ sprachen (S. 266). Denn „der Preiskrieg der BRD-Verlage und ungleiche Vertriebsstrukturen trafen […] auf eine DDR-Presse, die technisch unterlegen weiterhin unter planwirtschaftlichen Bedingungen arbeitete und im Reformprozess begriffen war“ (S. 278f.). Wie Tröger ausführt, „sorgte die Kombination dieser Faktoren für strukturelle Chancenungleichheit, die westdeutschen Verlagen die Türen für Investitionen und Kauf weit öffnete“ (ebd.). „Auf medienpolitischer Ebene“, so das Fazit der Autorin, „bedeutete die Übernahme westdeutscher Strukturen den Verlust radikal-demokratischer Visionen einer freien Presse“, worin Tröger „eine verpasste Chance für ein vereintes Deutschland“ sieht (S. 280). Der normative Gehalt dieser These verdeckt ein Stück weit die historische Realität. Denn die Nachfrage der Mehrheit der DDR-Bürger bestimmte das Angebot mit – und das Publikum verlangte nach leichter Kost aus dem Westen oder blieb dem gewohnten Lokalblatt treu. Man mag es bedauern, aber der Raum für alternative Medien war auch von der Nutzerseite her nicht allzu groß.

Es ist dem Format der Qualifikationsarbeit und den begrenzten Möglichkeiten einer einzelnen Forscherin geschuldet, das links und rechts des Kernthemas viel unbearbeitet bleiben musste und oft nur kurz gestreift wird. Man würde als Leser so gern mehr Konkretes erfahren über den Wandel der alten DDR-Presse, die veränderte journalistische Praxis sowie den eigentlichen Pressefrühling im Jahr 1990, die Gründung neuer Zeitungen und die ersten journalistischen Begegnungen von Ost und West zum Beispiel in der Ost-Ausgabe der „taz“. Außerdem wirken die generelle Entwicklung und die einzelnen Wendungen trotz einer klar strukturierten Darstellung und prägnanten Analyse etwas schemenhaft. Wer jetzt wann und wo welche Presseprodukte vertreiben konnte und was eigentlich gekauft und gelesen wurde in den letzten Wochen der DDR, muss offen bleiben. Das Buch ist gleichwohl ein Gewinn für die Medien- und Transformationsgeschichte, besticht durch seine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema und zeigt letztlich die nach wie vor großen Desiderata einer umfassenden, nicht nur auf die kurze Endphase der DDR konzentrierten deutsch-deutschen Mediengeschichte seit 1989/90 auf.3

Anmerkungen:
1 Als ein Beispiel sei besonders verwiesen auf Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018; rezensiert von Thorsten Holzhauser, in: H-Soz-Kult, 31.01.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27409 (05.02.2020). Ein Großprojekt zur Geschichte der Treuhandanstalt läuft derzeit am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin: https://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/geschichte-der-treuhandanstalt/ (05.02.2020).
2 Vgl. BStU, Das „Sputnik“-Verbot, https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/das-sputnik-verbot/ (05.02.2020).
3 Als knappe Skizze siehe etwa Frank Bösch / Christoph Classen, Bridge over troubled Water? Deutsch-deutsche Massenmedien, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 449–488, hier S. 476–487.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch