Ende Juli dieses Jahres erschien im Rowohlt Verlag eine erweiterte Neuausgabe von „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“. Das 1992 erstmals herausgegebene Buch nimmt inzwischen einen festen Platz in der Historiographiegeschichte des Holocaust ein und hat seinen Autor Christopher Browning berühmt gemacht. Es ist in mehr als ein Dutzend Sprachen übertragen worden, 1993 erschien es erstmals in deutscher Übersetzung. Browning gilt heute nicht nur wegen dieses opus magnum neben Saul Friedländer als einer der einflussreichsten lebenden Holocaustforscher. Er hat in weiteren Büchern und Aufsätzen wichtige Impulse geliefert: zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Rolle des Auswärtigen Amts im Prozess der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und zur sogenannten Entschlussbildung, also dem Übergang von der Politik der Vertreibung hin zur physischen Vernichtung zunächst der sowjetischen und dann aller Juden im deutschen Machtbereich.
Brownings interpretatives Konzept von den „ganz normalen Männern“ steht heute auf einer Bekanntheitsstufe mit Hannah Arendts „Banalität des Bösen“, wie Jürgen Matthäus und Thomas Pegelow Kaplan in ihrer Einleitung zu dem vorliegenden Band festhalten. In Brownings Leben und Werk und in dessen Wirkung zeige sich, dass es immer wieder einzelne Forscherpersönlichkeiten gewesen seien, von denen bahnbrechende Anstöße für die Holocaustforschung ausgegangen sind. Aus Anlass des 75. Geburtstages von Browning haben Kolleginnen und Kollegen im letzten Jahr eine wissenschaftliche Tagung in Münster organisiert1 und diese Festschrift herausgegeben, in der neunzehn Beiträge teils namhafter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter auch einige seiner Schüler, wie Michael Meng und Waitman Wade Beorn, Brownings Forschungen (dessen Publikationen im Band auf elf Druckseiten aufgelistet werden), für die Holocausthistoriographie würdigen und vermessen - ohne dabei Grenzen und Blindstellen seines Werkes zu verschweigen.
Doris Bergen etwa beschäftigt sich mit Genderaspekten bei Browning, die in dessen Schriften vordergründig überhaupt keine Rolle spielen. Bergen konstatiert, dass Browning es genau wie Daniel Goldhagen versäumt habe, in seiner Untersuchung zum Reserve-Polizeibataillon 101 trotz geeigneter Quellen, etwa von Fotografien, genauer der Frage nachzugehen, wie sich Beziehungen von Männern und Frauen auf die Dynamiken extremer Gewalt ausgewirkt haben. Doch sei es gerade die Beschäftigung mit Briefen jüdischer Frauen in einem 2007 erschienenen Buch2 gewesen, die Browning von der expliziten Täterforschung hin zur integrierten Holocaustforschung führte, in der die Zeugnisse der Verfolgten und Überlebenden einen gleichberechtigten Platz neben den dokumentarischen Hinterlassenschaften der Täter bekommen.
Viele Beitragende (etwa Alan Steinweis in seinem Beitrag zum Novemberpogrom 1938 oder T. Fielder Valone in seinem Aufsatz zu den Heydekrug-Zwangsarbeitslagern im besetzten Litauen) verweisen in dieser Hinsicht auch auf Brownings Plädoyer in einem seiner späteren, bislang nicht ins Deutsche übersetzten Bücher3, den Berichten jüdischer Überlebender einen eigenen Quellenwert zuzuerkennen und diese verstärkt in wissenschaftliche Darstellungen einzubeziehen. Ein anderes Thema mehrerer Beiträge sind Rettungsaktionen zugunsten verfolgter Jüdinnen und Juden, mit denen auch Browning sich beschäftigt hatte4: Laura E. Brade hebt die lange unterbelichtete Rolle von Frauen in diesem Prozess hervor und erinnert an tschechoslowakische Aktivistinnen wie Marie Schmolka (1893–1940), Thomas Pegelow Kaplan ruft ins Gedächtnis, dass zwischen 1937 und 1941 etwa 1.300 europäische Juden auf den Philippinen Zuflucht fanden.
Andere Beiträge sind stärker historiographiegeschichtlich orientiert, wie etwa die Ausführungen von Konrad H. Jarausch, der zeigt, wie die Gesellschafts- und Sozialgeschichte der „Bielefelder Schule“ und das Aufkommen der Alltagsgeschichte in Deutschland den Boden für Browning bereitet haben, auch wenn Jarausch wohl etwas übers Ziel hinausschießt, wenn er konstatiert, Raul Hilbergs „The Destruction of the European Jews“ (1961) sei von den „Bielefelder Methoden“ inspiriert gewesen. Zu Recht aber weist Jarausch darauf hin, dass Browning als einer der ersten Holocaustforscher weder Überlebender der Lager noch jüdischen Glaubens sei und auch keine deutschen Wurzeln habe. Deborah E. Lipstadt erinnert in einem sehr persönlich gehaltenen Beitrag an Brownings Rolle in dem Prozess, den David Irving 1996 gegen die Autorin angestrengt hatte, und gibt Einblick in die Argumentationsstrategie des Expertenteams, das in dem Verfahren an ihrer Seite auftrat. Interessant und originell ist auch ihr Bild von der Holocaustleugnung als dreibeinigem Stuhl aus Unlogik, Verzerrung und Verschleierung, auf dem der Antisemitismus als Sitzfläche ruht.
Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Diskussionen ist der Beitrag von Thomas Köhler und Christoph Spieker vom Münsteraner Geschichtsort Villa ten Hompel von besonderer Relevanz. Darin geht es um den Einsatz von Brownings „Ganz normale Männer“-Buch in der Ausbildung deutscher Polizistinnen und Polizisten. Das „Mit der Geschichte lernen“-Konzept aus Münster soll dabei den Seminarteilnehmer/innen eine Sensibilität für die Wirkung von Gruppendruck und für die Möglichkeit, sich diesem zu entziehen, vermitteln. Zugleich zeichnen die beiden Autoren den historiographischen Weg von der anfänglichen Dämonisierung der Täter als gesellschaftlicher Entlastungsstrategie zur Differenzierung der Täter mit Autoren wie Browning nach.
Mitherausgeber Jürgen Matthäus wirft einen Blick in die Neuausgabe von „Ordinary Men“5, die vor drei Jahren bereits auf Englisch erschienen ist und in der Browning in einem neu eigefügten Kapitel „The Photographic Evidence: Insights and Limitations“ die Entwicklungen der Visual History für das Fotomaterial vom Polizeibataillon 101 diskutiert. Die größere Sensibilität für diese Fragen hat nicht zuletzt zu einem Wechsel der Abbildung auf dem Buchcover geführt, denn auf dem vorangegangenen Titelbild waren gar keine Polizisten, sondern Wehrmachtssoldaten zu sehen. Wenn man nun fast dreißig Jahre nach dem Ersterscheinen von „Ordinary Men“ auf die erstaunliche Vitalität dieses Buches zurückblickt, das zum Impuls für eine große Zahl weiterer Forschungsarbeiten auch über die Grenzen der historischen Disziplin hinaus wurde, so ist man mit Edward B. Westermann (im Band mit einem Beitrag zur Rolle des Alkohols bei der Massengewalt im besetzten Osteuropa vertreten) geneigt zu konstatieren: „It has been said that the best books are not those that end discussions, but rather those that start them“ (S. 30).
Anmerkungen:
1 Ein Vierteljahrhundert nach Christopher Brownings „Ordinary Men“ – Perspektiven der neuen Polizei-Täterforschung und der Holocaust-Vermittlung, Münster, Geschichtsort Villa ten Hompel, 29.10.–31.10.2019, https://www.hsozkult.de/event/id/termine-40579.
2 Christopher Browning / Richard Hollander u.a. (Hrsg.), Every Day Lasts a Year. A Jewish Family’s Correspondence from Poland, New York 2007.
3 Christopher Browning, Remembering Survival: Inside a Nazi Slave-Labor Camp, New York 2010.
4 Christopher Browning, From Humanitarian Relief to Holocaust Rescue: Tracy Strong Jr., Vichy Internment Camps, and the Maison des Roches in Le Chambon, in: Holocaust and Genocide Studies 30 (2016), S. 211–246.
5 Christopher Browning, Ordinary Men: Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, revised edition, New York 2017.