N. Chare u.a. (Hrsg.): Testimonies of Resistance

Cover
Titel
Testimonies of Resistance. Representations of the Auschwitz-Birkenau Sonderkommando


Herausgeber
Chare, Nicholas; Williams, Dominic
Erschienen
New York 2019: Berghahn Books
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
$ 135.00; £ 99.00; € 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Kahrs, Berlin

Die Frage nach der Rolle des sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau gehört zu den Aspekten des Holocaust, die nicht nur zwischen Forscher/innen, sondern auch unter den Überlebenden äußerst kontrovers diskutiert wurden. „Sonderkommando“ bezeichnet die mehrere hundert – überwiegend jüdische – Gefangene von Auschwitz umfassende Gruppe, die im Bereich der Todeszone von Auschwitz-Birkenau zur Arbeit im unmittelbaren Mordbereich gezwungen wurde. Maßgebliche Impulse zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema kamen in den 1970er- und 1980er-Jahren von Menschen, die selbst die deutsche Verfolgung überlebt hatten.

Die beiden Herausgeber des vorliegenden Buches haben sich in der jüngeren Vergangenheit ausführlich mit dem Thema beschäftigt und kurz zuvor bereits zwei Bände zum Sonderkommando Auschwitz im Allgemeinen sowie zu den auf dem Gelände der Krematorien in Birkenau entdeckten Schriften von jüdischen Mitgliedern des Sonderkommandos veröffentlicht.1 Nun geht es ihnen um spezielle Formen der Repräsentation des Sonderkommandos von Auschwitz, gesammelt verstanden als „Testimonies of Resistance“. Anders als der Titel vermuten lässt, wird der Widerstandsbegriff im Band allerdings kaum genutzt – und wenn, dann vor allem in den Texten der Herausgeber selbst. Es hätte der thematischen Schärfe gutgetan, wenn auch die übrigen Beiträge konzeptionelle Bezüge zum Titel des Sammelbandes hergestellt hätten.

Im ersten Abschnitt des Buches steht die Frage nach den ethischen Grenzen der Repräsentation und der Einordnung der Rolle des Sonderkommandos im Zentrum. Herausgeber Dominic Williams analysiert hier Primo Levis bekannten Essay zur „Grauzone“2 und zeigt anhand der Fragestellung „What makes the Grey Zone Grey?“, mit welchen Mitteln der Auschwitz-Überlebende die Leser/innen zur Reflexion über die Unmöglichkeit einer moralischen Beurteilung anregen will. Zugleich weist der Autor mit Blick auf ausgewählte Zeugnisse des Sonderkommandos nach, wie sehr sich auch das Denken der Mitglieder dieser Gruppe selbst um die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten sowie die moralische Beurteilung ihres Handelns drehte.

„Testimonies of Resistance“ erschien 2019, mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand also in einem besonderen Jahr, das den 75. Jahrestag des Aufstands der jüdischen Gefangenen in der Todeszone von Birkenau markierte. Dieser Aufstand des Sonderkommandos, der die partielle Zerstörung des Krematoriums IV am 7. Oktober 1944 zur Folge hatte, war die größte bekannte Widerstandsaktion in der Geschichte des Lagers. Wie Chare und Williams in ihrer Einleitung konstatieren, sollte das Verständnis von Widerstand jedoch deutlich breiter gefasst werden und auch „spiritual resistance“ sowie „writing as a mode of resistance“ (S. 7–9) einschließen.

Den schriftlichen Zeugnissen des Sonderkommandos widmen sich verschiedene Beiträge im zweiten des in insgesamt vier Kapitel gegliederten Sammelbandes unter der Überschrift „Witnessing from the Heart of the Hell“. Der Titel des Abschnitts bedient sich eines Zitats aus einem Text des am 7. Oktober 1944 getöteten Sonderkommando-Häftlings Salmen Gradowski.3 Leider wird dies weder kenntlich gemacht noch seine Person im Folgenden eingeführt. Zwischen 1945 und 1980 sind Handschriften von sechs Chronisten des Sonderkommandos auf dem Gelände der ehemaligen Todeszone gefunden worden. Erst 2017 konnte der Abschiedsbrief des griechischen Juden Marcel Nadjary durch den Einsatz modernster Technik zu großen Teilen lesbar gemacht werden. Der Brief liegt im Sammelband erstmals in englischer Übersetzung vor und wird zudem in zwei Beiträgen analysiert und in Beziehung zu dem Brief von Herman Strasfogel gesetzt, dem bereits 1945 und damit als erstes gefundenen Zeugnis aus den Reihen des Sonderkommandos. Andreas Kilian, einer der ausgewiesenen Experten in diesem Feld, erläutert in seinem Beitrag, wie erst kürzlich die Autorenschaft des aus Warschau stammenden und letztlich 1943 aus Frankreich deportierten Juden ermittelt werden konnte, nachdem über viele Jahrzehnte der auf gleichem Wege nach Auschwitz gelangte Jude Chaim Herman als Verfasser des Briefes galt. Das lange als verschollen geglaubte Original des Briefes wurde ebenfalls erst 2018 wiederentdeckt.

Nach den zeitgenössischen Überlieferungen gilt der Blick im folgenden Kapitel den „Retrospective Representations“. Dan Stone weist in seinem Beitrag zu den Spuren des Sonderkommandos in den Quellen der Arolsen Archives darauf hin, dass es neben den künstlerischen, filmischen und fiktionalen Repräsentationen des Sonderkommandos auch reale Dokumente sind, die mit Blick auf die Nachkriegserfahrungen der zwischen 80 und 100 Überlebenden konsultiert werden können. Die Quellen böten nicht nur die Möglichkeit, die verschlungenen Wege der unmittelbaren Nachkriegsjahre, häufig von der Befreiung bis zur Emigration, nachzuzeichnen. Stone formuliert die weiterführende These, dass das Fehlen von Hinweisen auf die Tätigkeit der Überlebenden im Sonderkommando in den Überlieferungen des International Tracing Services (ITS) ein Beleg dafür sei, dass „very soon after the war, […] having been a member of the Sonderkommando was not something that one would openly admit“ (S. 162). Die meisten der überlebenden Sonderkommando-Mitglieder schwiegen viele Jahrzehnte über ihr Schicksal, auch weil sie von anderen Jüdinnen und Juden zunächst wegen ihrer Funktion innerhalb der Strukturen des Massenmords „verachtet“ wurden. Stone bezeichnet das Sonderkommando aus diesem Grund als „doubly cursed“ (S. 159).

Großen Anteil an der Sichtbarmachung der Gruppe der Sonderkommando-Häftlinge hatte der Historiker Gideon Greif, der über viele Jahrzehnte Überlebende ausfindig machte und ihre Interviews dokumentierte. In einem seiner zwei Beiträge zeichnet er die Entwicklung in der Forschung zum Sonderkommando nach und vergleicht die Unterschiede zwischen „Early and Late Testimonies“. Zwar stammten die ersten Zeugnisse aus den Reihen der Sonderkommando-Häftlinge, wie die Aussage des Überlebenden Alter Feinsilber, aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, sie gelangten jedoch kaum in den öffentlichen Diskurs. Und die Forscher/innen dieser Zeit taten sich schwer mit einer Darstellung und Einordnung ihrer Ergebnisse. So dauerte es bis in die Mitte der 1980er-Jahre, bis Greif mit anderen schließlich einen Versuch zur systematischen Erfassung und Analyse der Sonderkommando-Interviews startete.

Leider sehr kurz geraten in diesem Abschnitt ist der Beitrag von Carol Zemel über die künstlerische Auseinandersetzung des Sonderkommando-Mitglieds David Olère, dessen Bilder 2018 im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und 2020 im Deutschen Bundestag ausgestellt waren. Zemel weist zurecht darauf hin, dass die Arbeiten nicht nur Ausdruck einer beeindruckenden Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner Zeit in Auschwitz sind, sondern aufgrund des fast fotografischen Gedächtnisses Olères auch eine ungemein wertvolle dokumentarische Leistung darstellen. Sie sieht in den Bildern „unflinching records of Nazi extermination practice“ (S. 184). Es wäre jedoch wünschenswert gewesen, wenn zumindest die im Beitrag beschriebenen vier Stilebenen, zwischen denen Olère in seinem Werk wechselte, „impassive or sardonic, realist or allegorical“ (S. 189), mit Beispielbildern belegt worden wären. So bleiben die Überlegungen für Menschen, die nicht mit den Bildern vertraut sind, unnötig abstrakt.

Der Blick auf die Verhandlung des Themas „Sonderkommando“ im staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau von Dominic Williams und Isabel Wollaston bietet eine anregende Analyse und einen kritischen Blick auf den Umgang der Gedenkstätte mit Themen, die nicht in das etablierte Narrativ passen. Sie zeigen, dass das Sonderkommando vor Ort vor allem auf die ikonischen Foto-Aufnahmen vom Gelände des Krematoriums V sowie den Aufstand der Gefangenen im Oktober 1944 reduziert wird. Andere Fragen, wie die Spannungen im Verhältnis zu anderen Gefangenen, würden hingegen ausgeklammert. Leider beziehen die Autor/innen nicht die Rolle der Guides mit ein, ohne die kaum eine Gruppe durch die Gedenkstätte geht und die somit maßgeblichen Einfluss auf die Präsentation der Lagergeschichte vor Ort haben. Lediglich eine Fußnote weist darauf hin, dass der ehemalige Sonderkommando-Häftling Henryk Mandelbaum zahlreichen Besucher/innen der Gedenkstätte am Ort der Ruinen der Gaskammern von seinem Leben in Auschwitz berichtete. Eine Analyse, die nach Repräsentationen des Sonderkommandos fragt, hätte diesem Umstand mehr Raum geben können, denn Mandelbaum begleitete bis zu seinem Tod 2008 nicht nur mehr als 100 Gruppen vor Ort, sondern wird in seinen Schilderungen bis heute auch regelmäßig von den Gedenkstätten-Guides zitiert. Nicht erwähnt im Text wird der italienische Überlebende Shlomo Venezia (gestorben 2012), der ebenfalls dutzende Reisegruppen nach Auschwitz-Birkenau begleitete.

Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich mit drei Beiträgen der filmischen Repräsentation des Sonderkommandos, wobei der Fokus auf den Kinofilmen „Die Grauzone“ (2001) und „Son of Saul“ (2016) liegt.

Insgesamt bietet der Sammelband spannende und auch neue Perspektiven auf die Repräsentationen des Sonderkommandos und er wird für Forscher/innen verschiedener Disziplinen interessant sein. Es ist allerdings bedauerlich, dass der eigentliche historische Gegenstand nur unzureichend eingeführt wird. Weder die Einleitung des Bandes noch ein gesonderter Beitrag geben eine Orientierung über das Sonderkommando. Der fehlende Kontext stört auch bei verschiedenen Bezugnahmen auf die jüdischen Sonderkommandos an anderen Orten des Holocaust in den Beiträgen des Bandes. In der Einleitung erklären die Herausgeber, dass sie sich bewusst für eine Fokussierung auf das Sonderkommando in Birkenau entschieden haben. Jedoch bleibt es bei der knappen Feststellung: „there is often crossover between the SK at Auschwitz and those working in camps such as Treblinka and Sobibór in terms of their duties and outlook, but there are also important differences.” (S. 3) Die im Folgenden einzig angeführte „sheer quantity“ der Zeugnisse und Darstellungen mit Bezug auf das Sonderkommando in Auschwitz ist jedoch sicherlich nur der offenkundigste Unterschied. Hier wäre es beispielsweise wichtig gewesen, festzustellen, dass sich in den Lagern der „Aktion Reinhard“ für die Gruppe der jüdischen Gefangenen im Mordbereich nie der Begriff „Sonderkommando“ etablierte, die deutschen Täter hingegen die gesamten Lager zu „SS-Sonderkommandos“ erklärten und dies auch sichtbar über den Eingangstoren der Lagergelände angebracht war. Gerade der Vergleich mit den häufig sehr früh verfassten Zeugnissen der wenigen Überlebenden aus den Todeszonen von Treblinka und Bełżec wäre ein wünschenswerter Beitrag im vorliegenden Band gewesen, um den Blick auf die Orte jenseits des symbolhaften Mordlagers in Birkenau zu weiten. Überdies wurden zwei der drei Lager nach Revolten der jüdischen Gefangenen geschlossen und die Zeugnisse der Überlebenden wären im Sinne des Sammelbands zweifelsohne „Testimonies of Resistance“.

Anmerkungen:
1 Nicholas Chare / Dominic Williams, Matters of Testimony. Interpreting the Scrolls of Auschwitz, New York 2016; dies., The Auschwitz Sonderkommando. Testimonies, Histories, Representations, Basingstoke 2019.
2 Primo Levi, Die Grauzone, in: ders., Die Untergegangenen und die Geretteten, München 2015, S. 33–70.
3 Salmen Gradowski, Die Zertretung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos, Frankfurt am Main 2019.