Korruption ist ein schillerndes Phänomen – meist steht sie als Vorwurf im Raum, seltener wird sie untersucht, noch seltener enden Untersuchungen mit eindeutigen Befunden. Für die Geschichtswissenschaft, die sich des Themas nur zögerlich angenommen hat, kommt erschwerend hinzu, dass Quellen über das meist verborgene Phänomen nicht leicht zu finden sind, dass es etliche konkurrierende Definitionen von Korruption gibt und diese je nach Zeit und Ort beträchtlich variieren. Relativ einfach zu erfassen ist noch das Sprechen über Korruption; so verwundert es wenig, dass gerade diskursanalytisch orientierte Arbeiten im Forschungsfeld stark vertreten sind. Das gilt insbesondere für die deutschsprachige historische Korruptionsforschung, die in den letzten Jahren entscheidend von einem Team um Jens-Ivo Engels an der Technischen Universität Darmstadt vorangebracht worden ist. Die vorliegende Monographie von Anna Rothfuss stammt ebenfalls aus diesem Kreis und wurde 2017 in Darmstadt als Dissertation vorgelegt.
Rothfuss geht es in dieser Arbeit vor allem um das, was sie „Korruptionskommunikation“ nennt. Was bewirkt das Reden über Korruption in einer Gesellschaft, welche Interessen artikulieren sich, wer spricht wann aus welchen Gründen über Korruption? Weil Korruption etwas ist, worüber wir uns empören, liegt es nahe, sich Skandale anzuschauen, in denen sich die Empörung öffentlich verdichtet. Anna Rothfuss geht diesen Weg und nutzt vor allem die Presse des Kaiserreichs als Quelle, insbesondere die in Berlin erschienene. Sie untersucht dabei nicht nur die großen bekannten Skandale wie etwa den Kornwalzerskandal von 1913, sondern auch missglückte Skandalisierungen, die wenig Widerhall fanden und daher heute weitgehend vergessen sind. Zusätzlich blickt sie vergleichend nach Frankreich, wo der „Skandal der Dekorationen“ (1887) oder der Panamaskandal (1892/93) das politische Gefüge tief erschütterten, wo infolge von Korruptionsvorwürfen Regierungen und sogar Staatspräsidenten fielen. Im Vergleich dazu sahen die Skandale des Kaiserreichs bescheiden aus; nur in einem Fall führten sie überhaupt zu einer gerichtlichen Untersuchung, Minister- und Kanzlersessel wackelten selten. Während im republikanischen Frankreich gerne die „Systemfrage“ gestellt wurde – ob nämlich die republikanische Verfassung mit ihrer Offenheit für ambitionierte Aufsteiger Korruption fördere, wohingegen alte Eliten „unbestechlich“ seien – fühlten sich die dominierenden konservativen Kräfte des Kaiserreichs durch die großen französischen Skandale indirekt bestätigt, dass sie mit Obrigkeitsstaat und „preußischer Disziplin“ auch gegen Korruption das richtige Mittel hätten. Ein Stachel im selbstzufriedenen Fleisch waren nur jene politischen Richtungen, die nicht oder schlecht in das politische Gefüge integriert waren – die katholische Zentrumspartei und die Sozialdemokratie. Überzeugend legt Rothfuss dar, wie sich der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und mehr noch der Sozialdemokrat Karl Liebknecht als Skandalierer profilierten, um auf diese Weise Kritik an einem System zu üben, durch das sie und ihre Wählerschaft sich ausgeschlossen fühlten.
Auch wenn Rothfuss‘ Arbeit kein systematischer Ländervergleich ist, erscheint die französische Perspektive dennoch sehr gelungen integriert. Durch sie wird einerseits klar, wie sehr der Panamaskandal eine Art europäische „Benchmark“ war, ein international beachtetes Ereignis, an dem sich dann andere europäische Gesellschaften maßen. Außerdem werden erst durch den Vergleich die Besonderheiten des Kaiserreichs klar. Während die französischen Skandale – auch auf republikanischer Seite – in eine tiefe gesellschaftliche Selbstkritik und verschärfte institutionelle Arrangements mündeten, waren die Effekte im Kaiserreich wesentlich bescheidener – aber dennoch nicht zu vernachlässigen. Hier artikulierten sich durch Korruptionskommunikation all diejenigen Kräfte, die sich aus verschiedensten Gründen mit der neuen Ordnung unwohl fühlten. Gegen die Berliner Verflechtungen zwischen Unternehmen und Staatsbeamten wetterten nicht nur Repräsentanten marginalisierter Katholiken und Sozialdemokraten, sondern auch rechtsorientierte Agrarier, die auf diese Weise ihre Ablehnung des „jüdischen Finanzkapitals“ kundtaten. All diese Akteure lernten, durch Nutzung der Medien ihre Handlungsoptionen zu verbessern; die Zeitungen wiederum, obwohl im Kaiserreich selbst noch nicht investigativ tätig, etablierten sich in den Korruptionsskandalen als „eigenständige, vermittelnde Kraft“ (S. 323). Insgesamt, so Rothfuss, hätten Korruptionsskandale sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zu einer Vereinheitlichung von Normen geführt – war Anfang der 1870er-Jahre noch nicht klar, wann sich ein Beamter als Privatmann verhalten dürfe, so sei diese Frage in den 1890er-Jahren bereits klar beantwortet gewesen. Dennoch gab es bis zum Ersten Weltkrieg eine Normenkonkurrenz, also ein Nebeneinander von Gewohnheiten und Bräuchen einerseits und offiziellen Regelungen andererseits, sodass etwa Titel und Orden „routinemäßig in einer Form verliehen wurden, die mit den offiziellen Richtlinien nicht übereinstimmte“ (S. 329). Im Vergleich zu anderen Arbeiten aus dem Darmstädter Kreis, die Korruptionskommunikation als gefährlichen Weg in Institutionenmisstrauen und charismatisch-autoritäre Herrschaft problematisieren, kommt Rothfuss zu einem eher positiven Fazit – im Kontext des Kaiserreiches habe das Reden über Korruption die Möglichkeit von Außenseitern gefördert, sich in den politischen Prozess einzubringen (S. 332).
Rothfuss‘ Arbeit ist zweifellos ein gelungenes und grundlegendes Werk über die diskursive Seite von Korruption; erschöpfend erforscht ist damit das Thema „Korruption im Kaiserreich“ aber noch lange nicht. Bei Rothfuss wird das Reden über Korruption fein ausgedeutet und breit kontextualisiert, doch wir erfahren wenig über die eigentlichen Praktiken, die den Gegenstand der Skandalisierung bildeten. Dies war auch nicht der Anspruch der Autorin; aber dennoch sei festgehalten, dass diese Ebene wichtig ist, weil der öffentlichen Empörung ansonsten die Erdung, das Denotat fehlt. Die Skandale wurden ja nicht nur durch das Interesse befördert, sich durch den Korruptionsvorwurf einer aus anderweitigen Gründen unliebsamen politischen Konkurrenz zu entledigen. Auch die Taten selbst werden eine Rolle gespielt haben, seien sie nun bewiesen oder nicht – eben auf die Taten richtete sich ja die Empörung.
Rothfuss selbst belegt, in Form einer sehr nützlichen tabellarischen Zusammenstellung der Korruptionsskandale im Anhang, dass seit den 1890er-Jahren der zeitliche Abstand zwischen den Skandalen immer kürzer wurde. Die Autorin deutet dies vor allem als zunehmend genutzte Möglichkeit der allgemeinen politischen Auseinandersetzung. Sie fördert mit diesem Ansatz wichtige Mechanismen politischer Kommunikation im Kaiserreich zutage, nimmt aber ihrem Thema auch ein wenig die Spezifik. Auf der Strecke bleiben die sozialhistorischen Hintergründe, welche Skandale dieser Form erst ermöglichten. Durch eine intensivere Auseinandersetzung mit den anrüchigen Praktiken hätten diese Hintergründe wohl aufgedeckt werden können. Im Kaiserreich wie in vielen anderen Gegenden Europas erlebte die Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert bekanntlich einen take-off, es wurden riesige Summen in den Händen weniger akkumuliert und entsprechende Investitionen getätigt. Die meisten Skandale in Rothfuss‘ Studie basieren auf dem sich daraus ergebenden Interesse von Investoren, die eigenen Investments durch informelle Absprachen, Gabentausch und Bestechung abzusichern – eine Praxis, die nicht nur der normativ immer strengeren Trennung von privat und öffentlich widersprach, sondern auch dem Versprechen der Gleichheit vor dem Gesetz, aus dem die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts einen Teil ihrer Legitimität schöpften. In Rothfuss‘ Studie kommen diese Hintergründe nur indirekt vor – vor allem in Form der sozialdemokratischen Korruptionskritik, welche den Kapitalismus als System für die Korruption verantwortlich machte. Statt darin nur eine Strategie der Sozialdemokratie zu sehen, die eigene gesellschaftspolitische Agenda zu verbreiten, hätte sich Rothfuss auch durch eine tiefere Untersuchung „korrupter“ Intentionen und Praktiken anschauen können, wie sehr die Skandale Ausdruck eines spezifischen Widerspruchs zwischen rechtlicher Gleichheit und wirtschaftlicher Ungleichheit waren.
Zur Korruption im Kaiserreich erfahren wir in diesem Buch in vorbildlicher Gründlichkeit das, was zur rein diskursiven Seite gehört. Dennoch bleiben Fragen offen, die übrigens auch bei der Bewältigung heutiger Probleme wichtig sind. Denn an vergangenen Korruptionsfällen lässt sich nicht nur studieren, wie unterschiedlich Korruption je nach Zeit und Raum verstanden wurde. In der Geschichte finden wir auch ein reiches Anschauungsmaterial für die Versuche von Staat und Gesellschaft, Korruption unter Kontrolle zu bringen. Mit etwas Glück in den Archiven könnten wir sogar zu einer Abschätzung kommen, welche dieser Versuche wirksam waren und welche nicht. Im heute weltweiten Kampf gegen Korruption ist dieses Potential von Geschichte bislang noch kaum genutzt worden.