„Niedergang oder Konsolidierung? Handlungsperspektiven dienstbarer Adliger im 18. Jahrhundert“ lautete der Titel des 2018 von der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt veranstalteten Workshops, aus dem der zu besprechende Sammelband hervorgegangen ist. Inhaltlich knüpft der Band an die in den letzten Jahrzehnten sehr produktiven Forschungen zur Selbstbehauptung des Adels an. Angeregt von den vielfach diskutierten Überlegungen zum Elitenwandel und zum „Obenbleiben“ des Adels im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt sich längst auch die Frühneuzeitforschung mit den Beharrungskräften und Anpassungsleistungen dieser äußerst heterogenen Sozialformation und konnte das alte Narrativ eines fortwährenden Niedergangs des Adels differenzieren.
Der geographische Fokus des Bandes liegt auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt und dessen Nachbarregionen, also vorwiegend auf den unter brandenburgisch-preußischer und kursächsischer Herrschaft stehenden Territorien sowie den anhaltischen Fürstentümern, ergänzt durch vergleichende Ausgriffe nach Hessen und Thüringen. Der Niederadel in dieser Region wurde bisher selten untersucht, denn anders als beispielsweise in Sachsen, wo sich seit den 1990er-Jahren eine produktive Adelsforschung herausgebildet hat, wurden hier in den vergangenen Jahren vorrangig die zahlreichen kleinen Fürsten und Standesherren untersucht.1 Dies ist sicherlich auch der stark zergliederten politischen Landschaft geschuldet.2
In der Einleitung gibt Mitherausgeber Paul Beckus zunächst eine kurze Einführung in die Adelshistoriographie und versucht, die vielgestaltige Gruppe, die meist mit dem Begriff „Niederadel“ umschrieben wird, zu charakterisieren. Anknüpfend an neuere Überlegungen zu den bestimmenden Faktoren von Adeligkeit stellt er heraus, dass die Zugehörigkeit zum (Nieder-)Adel „während der gesamten Frühen Neuzeit eine Frage der sozialen Praxis“ (S. 16) und somit fortwährenden Aushandlungsprozessen unterworfen war. Weniger stark gewichtet wurde hingegen das noch im Workshop-Titel geführte Kriterium der „Dienstbarkeit“, da der Begriff den für den Adel maßgeblichen Aspekt des freiwilligen Dienens nicht widerspiegele und der Fürstendienst nicht spezifisch für den Niederadel sei (S. 10).
Der Band geht von der Hypothese aus, dass der Adel im 18. Jahrhundert insgesamt und damit auch die im Fokus stehende Gruppe des landsässigen Adels „in besonderer Weise“ vom Wandel betroffen gewesen sei und fragt, welche Handlungsoptionen Adligen vor diesem Hintergrund offen standen. Dieser Leitfrage wird in den vier Themenkomplexen „Niederadel und mitteldeutsche Bildungslandschaft“, „Niederadel als Amtsträger und Gutsherr“, „Niederadelige Frauen in Hof und Familie“ sowie „Niederadel und Raum“ nachgegangen. Das Analyseraster ist unscharf, besonders deutlich fällt dies beim letzten Abschnitt auf, der den Schwerpunkt der beiden Beiträge kaum widerspiegelt.
Der erste Block zur „Bildungslandschaft“ besteht aus zwei Beiträgen. Michael Rocher widmet sich einem für die mitteldeutsche Region bisher eher selten untersuchten Thema. Aus einem Vergleich des Pädagogium Regium des Halleschen Waisenhauses mit dem Rittercollegium zu Brandenburg an der Havel hinsichtlich der Unterrichtsinhalte sowie der Sozialstruktur und Herkunftsprofile der Schüler ergeben sich teils unerwartete Resultate. So waren die Unterrichtsinhalte an der exklusiv adeligen Ritterakademie und am Pädagogium, dessen Schülerschaft knapp zur Hälfte aus Adeligen bestand, sehr ähnlich; die typisch adeligen Exerzitien (Reiten, Fechten und Tanzen) spielten in beiden Schulen nur eine untergeordnete Rolle. Jacob Schillings Beitrag setzt sich mit nobilitierten Professoren an den mitteldeutschen Universitäten Jena, Halle und Wittenberg auseinander. Er kann zeigen, dass für auf sozialen Aufstieg und Prestige bedachte Universitätsgelehrte das Erlangen des erblichen Adelsstandes im 18. Jahrhundert an Attraktivität gewann, wohingegen die ältere Vorstellung einer durch akademische Weihen erworbenen nobilitas litteraria an Integrationskraft verlor.
Gleich mehrere Beiträge zu „Amtsträgern und Gutsherren“ befassen sich mit mehr oder weniger typischen adligen Karrierewegen. Paul Beckus beschäftigt sich mit der Bedeutung der unterbelichteten protestantischen Stifte für den Niederadel. Exemplarisch kann er durch die Auswertung der Matrikel des Naumburger Domkapitels zeigen, dass die Präbenden – und sogar die Anwartschaften darauf – zumeist als Wertanlage dienten. Nur für einige wenige einflussreiche Familien bot sich die Möglichkeit, im Domkapitel aufzusteigen, eine standesgemäße Karriere zu verfolgen und – wenn auch in einem eng gesteckten Rahmen – an der Landesherrschaft zu partizipieren. Alexander Querengässer betrachtet das klassische Feld adligen Militärdienstes. Am Beispiel der Familie von der Schulenburg kann er unter anderem die These bestätigen, dass die häufig als profitabel angesehene Kompaniewirtschaft der stehenden Heere für die Kompaniechefs meist ein Zuschussgeschäft war und untermauert so weiter die etablierte Einschätzung, dass die Offizierslaufbahn für Adelige eher soziales Prestige als ökonomische Vorteile brachte. Auch gelang dem untersuchten Familienverband, trotz herausragender militärischer Karrieren einzelner Mitglieder, kein dauerhafter sozialer Aufstieg. Marko Kreutzmann fragt am Beispiel der beiden in Weimarer Diensten stehenden Familien von Fritsch und von Ziegesar, wie Adelige trotz wegfallender Privilegien bis weit ins 19. Jahrhundert Spitzenpositionen im Hof- und Staatsdienst behaupten und ihre Adeligkeit bewahren konnte. Er erklärt dies mit einem Wandel der Selbstwahrnehmung: Der ehemalige Geburtsstand entwarf sich nun als „Verdienstadel“, der sich nicht mehr allein über Abstammung, sondern ebenfalls über Leistungsfähigkeit und (Aus)Bildung definierte. Dem Komplex (Guts-)Herrschaft widmet sich Andreas Erb, der einen über zwei Jahrhunderte schwelenden Konflikt um die Pfarrstellenbesetzung im Dorf Hecklingen (in Anhalt-Bernburg gelegen) rekonstruiert, ausgetragen zwischen den reformierten, sprich calvinistischen Landesherren, der lutherischen Familie von Trotha als Gutsherren und den Gutsuntertanen. Vor dem Hintergrund des Spannungsfelds von Konfession, grundherrlichen Patronatsrechten und der voranschreitenden Staatsbildung verdeutlicht das Beispiel, wie sich der niedere Adel, auch mit Hilfe der Reichsgerichtsbarkeit, gegenüber seinen Landesherren behaupten konnte.
Im gendergeschichtlich zugeschnittenen Teil rekonstruiert Stefanie Freyer Karriere- und Handlungsperspektiven von Weimarer Hofdamen um 1800. Wie die Autorin anhand einzelner Biographien nachzeichnet, war die Stellung als Hofdame für den Niederadel durchaus attraktiv, gewährte sie den jungen Frauen doch ein standesgemäßes Auskommen (zumindest für eine bestimmte Lebensphase) und bot die Möglichkeit, informelle Kontakte am Hof aufzubauen sowie Konkubien anzubahnen. Allerdings erweisen sich die weiblichen Hofkarrieren im Vergleich zu den männlichen als weniger institutionalisiert und die individuellen Freiräume der Hofdamen waren durch die permanente Nähe zur Fürstin stark eingeschränkt. Der Beitrag Katrin Gädes beschäftigt sich mit dem Thema Ehescheidungen, das bisher nahezu ausschließlich für den Hochadel untersucht wurde. Wie bereits bekannt ist, konnte der niedere Adel in protestantischen Territorien im Unterschied zu den protestantischen Reichsständen keine außergerichtlichen „Selbstscheidungen“ vornehmen, sondern musste seine Eheangelegenheiten vor den zuständigen Konsistorien verhandeln, sofern nicht der Landesherr einen Gnadenerlass gewährte. Die Autorin regt insbesondere die Auswertung der konsistorialen Überlieferungen zu Ehegerichtsbarkeit an, von denen sie sich neue Einblicke in niederadelige Geschlechterverhältnisse verspricht.
Beschlossen wird der Band durch eine Fallstudie des Mitherausgebers Thomas Grunewald zu August Carl Alexander von Zanthier (1734–1815), in dem die Bedeutung pietistischer Patronage für die Ausbildung, die Karriere und das Konnubium des Akteurs hervorgehoben wird. Womöglich war gerade die hohe Mobilität – von Zanthier verdingte sich nacheinander in preußischen, hessen-kasselischen, und anhaltischen Diensten –, ein Charakteristikum des Adels in dieser Region, das durch die grenzüberspannenden Klientelbeziehungen begünstigt wurde. Indem der Autor noch einmal zahlreiche der im Band untersuchten Aspekte zu sozialen Netzwerken vereint, kann er eine paradigmatische „Geschichte der Selbstbehauptung eines Niederadligen“ (S. 224) darstellen.
Etwas überraschend platziert ist der inmitten des letzten Abschnitts eingeordnete Beitrag von Dieter Wunder zum Adel der Landgrafschaft Hessen-Kassel, der damit eine Vergleichsfolie für den mitteldeutschen Raum liefert und zudem am deutlichsten die aufgeworfenen Leitfrage nach „Niedergang oder Konsolidierung“ aufgreift. Dem Autor zufolge sei der hessische Adel im 18. Jahrhundert durch die „doppelte Lebensperspektive“ aus Gutsherrschaft und Fürsten- bzw. Staatsdienst geprägt gewesen (S. 184). Anregend ist, dass er die Entwicklung der hessischen Ritterschaft nicht antithetisch als Niedergang oder Konsolidierung, sondern als „Konstanz und Wandel in herausgehobener gesellschaftlicher Position“ liest (S. 206): Konstanz in Form adliger Herrschaft über Land und Leute, Wandel in Gestalt der sich verändernden und stark an Bedeutung gewinnenden Dienstverhältnisse. Indes, auch mit diesem Begriffspaar ist die Vielschichtigkeit von Adel und Adeligkeit im Jahrhundert der Aufklärung kaum abschließend in den Griff zu bekommen.
Grundsätzlich besteht das Verdienst des Bandes darin, erprobte Fragestellungen auf eine bisher wenig beachtete Adelslandschaft anzuwenden. Ein kohärentes Bild des Adels im mitteldeutschen Raum lässt sich anhand der in ihrem Zugriff und Maßstab recht unterschiedlichen Beiträge jedoch kaum zeichnen. Vielmehr rekonstruiert der Band eine Fülle adeliger Handlungsmuster und Behauptungsstrategien jenseits der Polarität von „Niedergang und Konsolidierung“. Daraus lassen sich aber noch keine übergreifenden Thesen, Entwicklungstendenzen oder regionalen Spezifika ableiten – von eher allgemeingültigen Beobachtungen, wie der zunehmenden Bedeutung akademischer Qualifikation für den Adel, einmal abgesehen. Dies ist aber nicht als Kritikpunkt zu verstehen, denn hierfür bedarf es, wie auch die Beiträger/innen verschiedentlich betonen, umfangreicher Grundlagenforschungen, die im Rahmen einer Arbeitstagung nicht zu leisten sind. Dieter Wunders auf umfangreichen prosopographischen Erhebungen beruhende Beobachtungen zur „doppelten Lebensperspektive“ könnten hier Impulse geben.3 Auch müssten weitere wichtige Aspekte, wie die Teilnahme an den Ständevertretungen als Möglichkeit der politischen Partizipation, die für das Selbstverständnis des niederen Adels in anderen Territorien maßgeblich war, untersucht werden. Nichtsdestotrotz bietet die das Buch instruktive und aufschlussreiche Detailstudien, zeigt Desiderate auf und stellt somit einen wichtigen Schritt zur Erforschung des Niederadels in Sachsen-Anhalt und den benachbarten Regionen dar.
Anmerkungen:
1 Andreas Pečar / Holger Zaunstöck / Thomas Müller-Bahlke (Hrsg.), Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert, Halle 2016; auch Eva Labouvie (Hrsg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Weimar [u.a.] 2007.
2 Grundlegend zum Forschungsstand vgl. Enno Bünz / Christoph Volkmar, Adelslandschaft Mitteldeutschland. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Dies. / Ulrike Höroldt (Hrsg.), Adelslandschaft Mitteldeutschland. Die Rolle des landständischen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.–18. Jahrhundert), Leipzig 2016, S. 111–148.
3 Vgl. dazu grundsätzlich auch Dieter Wunder, Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts – Herrenstand und Fürstendienst. Grundlagen einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen, Marburg 2016.