R. Wakeman: A Modern History of European Cities

Cover
Titel
A Modern History of European Cities. 1815 to the Present


Autor(en)
Wakeman, Rosemary
Erschienen
London 2020: Bloomsbury
Anzahl Seiten
X, 383 S.
Preis
£ 24.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Lenger, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die Autorin, die an der Fordham University in New York lehrt und bislang vor allem mit Arbeiten zur europäischen Stadtgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgetreten ist, nennt in ihrer knappen Einleitung drei Absichten, die sie mit ihrer Gesamtdarstellung verfolgt. Zunächst einmal möchte sie die von ihr diagnostizierte Fixierung auf London, Paris und Wien überwinden, die sie als eine vertikale Perspektive beschreibt und die sie ersetzen möchte durch „the horizontal and spatial layering of modernism and modernity“ (S. 1). Sodann ist es ihr um eine stärkere und angemessenere Berücksichtigung des europäischen Ostens und Südens zu tun. Und schließlich möchte sie dem 20. Jahrhundert gegenüber dem 19. zu seinem Recht verhelfen und insbesondere die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg intensiver einbeziehen. Allerdings rennt sie mit diesen beiden letzten Forderungen weit offen stehende Türen ein. Der Rezensent hat sie in einem 2013 vorgelegten Buch eingelöst und war damit, das sei betont, keineswegs der erste.1 Denn schon weitere zehn Jahre zuvor hatte etwa ein von Jean-Luc Pinol herausgegebener Band den Blick gleichfalls immer wieder auf den europäischen Süden und Osten gerichtet und vor allem die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Intensität analysiert, hinter der das hier zu besprechende Buch deutlich zurückbleibt.2 Und was den erstgenannten Anspruch einer Horizontalisierung angeht, die auch als Dezentrierung charakterisiert wird, so ist er durchaus problematisch. So wenig eine „trickle-down“-Konzeption die Verbreitung von Modernität, Modernismus, Moderne (begriffliche Differenzierungen erscheinen der Autorin offenkundig verzichtbar) angemessen zu beschreiben vermag, so wenig hilft die Unterstellung individueller urbaner Modernität, die gleichsam jede Stadt unmittelbar zu Gott stellt. Denn mit einem solchen sich kulturwissenschaftlich gerierenden Historismus gerät völlig aus dem Blick, mit welcher Intensität europäische Großstädte sich wechselseitig beobachteten und in wie hohem Maße sie selbst mit hierarchisierten Vorstellungen von unterschiedlicher Entwicklung operierten.

Wie unzureichend es ist, ein vages Unbehagen an Begrifflichkeiten, mit denen eine reflektierte Auseinandersetzung nicht erfolgt, zum Ausgangspunkt zu nehmen, zeigt gleich das erste Kapitel. Die Überschrift „The Grand Tour of Urban Europe (1815)“ legt die Annahme nahe, hier solle eine Querschnittsaufnahme an den Anfang gestellt werden, auch wenn nicht begründet wird, warum eine solche für das Ende der napoleonischen Kriege und nicht für einen früheren oder späteren Zeitpunkt angeboten wird. Und den Grundintentionen der Verfasserin entsprechend rücken ost- und ostmitteleuropäische Großstädte rasch ins Zentrum der Betrachtung. So führt die Reise von Danzig über Riga nach Odessa, Hafenstädte also, für welche die Aussage zutrifft: „The product that dominated trade across Europe was grain.“ (S. 14) Fatal für ein textbook ist allerdings, dass so völlig aus dem Blick gerät, in wie hohem Maße sich die Zentralität des Getreidehandels im Ostsee- und Schwarzmeergebiet dem Umstand verdankte, dass die Getreideimporteure in Amsterdam oder London auch mit Gewürzen und Stoffen aus Süd- und Südostasien und vor allem mit dem auf den Sklavenplantagen der Karibik und Brasiliens produzierten Zucker Geschäfte machten, mit anderen Worten also eingebettet waren in Strukturen, die weit über Europa hinausreichten und alles andere als symmetrisch waren. Dementsprechend hat Liverpool im Folgekapitel seinen Auftritt als englische Industriestadt, ohne dass die so lange zentrale Rolle dieser Hafenstadt für den Sklavenhandel auch nur Erwähnung fände. Stattdessen reiht sie sich ein in ein äußerst konventionelles Portrait englischer, deutscher und polnischer Industriestädte des 19. Jahrhunderts. „Yet there were other types of cities, especially commercial and administrative towns, provincial capitals, that tell as much about urbanizing processes in Europe“ (S. 53), heißt es dann in der Einleitung zum nächsten Kapitel. Mit der industriellen Entwicklung scheinen sie kaum verbunden zu sein, sonst würde die Überschrift wohl nicht „Entertainment and Romantic Dreamscapes (1815–48)“ heißen. Zu den hier ausführlicher gewürdigten Städten zählt Köln und es ist bezeichnend, wie und auf welcher Grundlage dies geschieht. Die schon ältere, aber vorzügliche Arbeit von Pierre Aycoberry zitiert die Verfasserin so wenig wie die wichtigen Studien zum Kölner Bürgertum von Thomas Mergel und Gisela Mettele, um von der letzten umfassenden Gesamtdarstellung zur Kölner Stadtgeschichte in preußischer Zeit gar nicht erst zu reden.3 Stattdessen stützt sie sich, so weit sich das anhand ihrer intransparenten Nachweise rekonstruieren lässt, auf einen lokalhistorisch ambitionierten Richter und ihre immer wieder bemühten Lieblingsquellen: meist englischsprachige Reiseberichte. So sind es am Ende der Kölner Dom und seine touristische Attraktivität, welchen die Hauptlast für eine Erklärung der äußerst dynamischen Entwicklung der Stadt aufgebürdet wird.

Im Rahmen einer Rezension kann eine Auseinandersetzung mit den übrigen Kapiteln nicht ähnlich detailliert ausfallen. Sie behandeln unterschiedlich ausführlich z.B. Stadtplanung und städtische Reform, Arkaden und Kaufhäuser, die Unterhaltungsangebote oder städtische Unruhen. Typisch für sie ist, dass sobald ein thematisches Stichwort aufgerufen ist, eine Reise durch eine Reihe europäischer Städte beginnt. Diese Reise mag man als horizontal oder räumlich bezeichnen, vor allem aber ist sie flach, denn die bloße Aneinanderreihung verweigert jeden Vergleich und jede vertiefende Anschlussfrage. „This kind of urban warfare became all too frequent as working-class injustices boiled over into insurrection“ (S. 153), lautet etwa ein Satz, der den Bericht von gewaltsam unterdrückten Demonstrationen in Riga 1905 mit einem solchen aus Barcelona 1909 verbindet. Was indessen fehlt, ist die eingehendere Analyse der den Protesten zugrundeliegenden Konfliktfelder und eine Auseinandersetzung mit der naheliegenden Frage, warum Proteste in Barcelona zumeist sehr viel gewaltsamer ausfielen als in englischen oder mitteleuropäischen Städten. Stattdessen wird ein – vielleicht nicht gerade zwingend angeschlossenes – neues Stichwort aufgerufen und eine neue Tour durch Europas Städte eröffnet: „It is somewhat uncanny that amid this mayhem, the working classes and poor somehow survived and found pleasure in a variety of everyday diversions.“ (S. 154) An der Vorgehensweise ändert sich nichts, wenn Rosemary Wakeman zu dem ihr vertrauteren 20. Jahrhundert kommt. Zu den 1920er-Jahren etwa heißt es bündig: „People were jubilant about the modern age and the potential of revolutionary change.“ (S. 195) Den Anspruch, „a modern history of European cities“ vorgelegt zu haben, können solche Pauschalbehauptungen zum „Zeitgeist“ kaum untermauern. Trotzdem gibt es Unterschiede. Die demographischen und ökonomischen Bedingungen städtischer Entwicklung scheinen die Verfasserin nicht wirklich zu interessieren; ihr Bild der städtischen Gesellschaft bleibt konturarm: Gelegentlich ist pauschal von den Armen oder den Arbeitern die Rede, weit häufiger aber von „the people“. Ihren Anspruch, „a history of the European urban experience“ (S. 1) zu schreiben, löst sie allenfalls für die Besucher der Städte, keinesfalls für deren Bewohner ein. Gelungener sind die Abschnitte, die sich mit Städtebau und Stadtplanung beschäftigen, etwa mit den modernistischen Großprojekten der 1960er- und 1970er-Jahre, ohne dass so grundlegende Beiträge zu diesem Feld wie Lampugnanis zweibändige Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert auch nur erwähnt würden.4 Ohnehin fallen vereinzelte Positiva, zu denen auch eingestreute filmgeschichtliche Betrachtungen zählen, für die Gesamtbilanz nicht ins Gewicht. Bezeichnend scheint vielmehr, dass die Verfasserin für ihre „conclusion“ mit einer guten Druckseite auskommt. Dort findet sich als Ergebnis festgehalten, „that there are many European cities and a plurality of urban experiences. Yet there is no doubt about the fundamental European character to all these urban places. “ (S. 325f.) Worin dieser fundamentale europäische Charakter aber besteht, verrät sie nicht.

Anmerkungen:
1 Vgl. Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013. Wakeman, die durchaus deutschsprachige Literatur nennt, nimmt diesen Band anders als die englische Übersetzung seines ersten Teils (Friedrich Lenger, European Cities in the Modern Era, 1850–1914, Leiden 2012) nicht in ihre Bibliographie auf.
2 Vgl. den von Wakeman angeführten Band Jean-Luc Pinol (Hrsg.), Histoire de l`Europe urbaine, Bd. 2: De l`Ancien Régime à nos jours. Expansion et limite d`un Modèle, Paris 2003.
3 Vgl. Pierre Aycoberry, Cologne entre Napoléon et Bismarck. La croissance d`une ville rhénane, Paris 1981; Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914, Göttingen 1994; Gisela Mettele, Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association, München 1998, sowie Jürgen Herres, Köln in preußischer Zeit, 1815–1871, Köln 2012.
4 Vgl. Vittorio Magnago Lampugnani, Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes, 2 Bde., Berlin 2010.

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