Dunkle Wolken brauen sich über Europa zusammen: Das Bild, das das zu besprechende Buch ziert, stammt aus einer Zeit, in der ein wie auch immer geartetes europäisches Selbstverständnis allenfalls im zarten Entstehen begriffen war, ehe es jäh zurückgedrängt wurde. Max Beckmanns „Gesellschaft Paris“ (1931) zeigt eine europäische Mikrogesellschaft, bestehend aus Emigrierten, Diplomaten, Unternehmern und Intellektuellen. Mit der Metropole an der Seine ist nicht nur ein zentraler Schaffensort des Malers, sondern auch Hartmut Kaelbles benannt, dessen Wirken der vergangenen Jahrzehnte in diesem Band eine Würdigung erfährt. Versammelt sind 21 vorwiegend deutschsprachige Beiträge von den frühen 1980er-Jahren bis in die jüngste Zeit, teilweise Vorträge, überwiegend veröffentlichte Essays und Aufsätze, die um die wesentlichen Forschungsfelder eines der zweifellos profiliertesten deutschen und europäischen Sozialhistoriker unserer Zeit kreisen: zunächst die französisch-deutsche Vergleichs- und Beziehungsgeschichte, daneben Studien zur europäischen Gesellschaft (und hier insbesondere der europäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit), außerdem Überlegungen zum Historischen Vergleich. Diese nicht immer ganz trennscharfe Dreiteilung greift auch dieses Buch auf.
Interessierte Leserinnen und Leser dürften in dieser Anthologie nicht nur einzelne Texte bereits kennen, sondern vermutlich besonders auch das von Kaelble selbst verfasste Vorwort mit Gewinn lesen. Dieses ist insofern aufschlussreich, als es deutlich über diejenigen Informationen hinausgeht, die in sonstigen biographischen Abrissen zu finden sind. Auf knapp 20 Seiten wird nämlich ein Einblick gewährt, auf welchen Wegen Kaelble zu seinen Forschungsinteressen gekommen ist. Da sich die Auswahl der Themen des Bandes an deren Aktualität orientierte, verfolgt dieser einleitende Teil weniger das Ziel, chronologisch oder gar lückenlos wissenschaftliches Werden und Wirken zu dokumentieren, sondern will vielmehr die jeweiligen Entstehungszusammenhänge erklären. Auch wenn der Autor nach eigener Aussage mit diesem Buch keine Autobiographie vorlegen und den Leserinnen und Lesern „das ganze Mäandern und alle Sackgassen einer wissenschaftlichen Biografie“ (S. 9) – wer könnte sie nicht nachfühlen? – nicht „zumuten“ wollte, finden sich zahlreiche persönliche Ansichten und kurzweilige Anekdoten.
Beginnend mit dem Studium in Tübingen und an der Freien Universität Berlin (zeithistorisch geprägt von Mauerbau und Spiegel-Affäre; intellektuell unter anderem von Ernst Fraenkel und Gerhard A. Ritter), dem Berufseinstieg als wissenschaftlicher Mitarbeiter und insgesamt 20 Jahren Tätigkeit als Assistent und später Professor ebenda sowie an der Humboldt-Universität zeichnet Kaelble seinen Werdegang nach, ohne dabei einer harmonisierenden „biographischen Illusion“ zu unterliegen. Vielmehr erscheint vieles auch im Rückblick eher verschlungen denn geradlinig oder zwangsläufig: die sukzessiv zunehmende Internationalisierung und Europäisierung der eigenen Forschungstätigkeit, die allmähliche Affinität zu interdisziplinären Zugriffen, letztlich auch diverse Auslandsaufenthalte, die den vergleichenden Blick zweifellos geschult haben dürften. Denn was mit dem „Vergleich“ heute in der Regel methodisch normalisiert, routinisiert und reflektiert daherkommt, war zu Beginn der 1970er-Jahre und somit noch knapp vor „Bielefeld“ weitgehend avantgardistisch. Besonders deutlich schillern in diesen Schilderungen immer wieder Prägungen durch die mannigfachen Einflüsse bikultureller Familienwelten hindurch. Das Wissenschaftlerleben bestand folglich kaum allein aus bloßer Forschertätigkeit, sondern auch aus zahlreichen Begegnungen im In- und Ausland. All dies verweist auf wichtige erfahrungsgeschichtliche Prägungen und lässt die individuelle Herausbildung eines europäischen Selbstverständnisses greifbar werden.
Wie lässt sich nun die Re-Lektüre der Beiträge auf knappe Beobachtungen hin zuspitzen? Soziale Mobilität und soziale Ungleichheit als Kernthemen einer politischen Sozialgeschichte ziehen sich durch alle drei Themenbereiche des Buches. Es ist von Vorteil, die Aufsätze entsprechend ihren Erscheinungsjahren auch als Quellen zu lesen, weil dadurch forschungs- und wissensgeschichtliche Entwicklungen erkennbar werden. Kaelble tritt frühzeitig mit Plädoyers für das Vergleichen auf, ebenso als wissenschaftlich vorgehender wie interkulturell sensibler Vermittler und Erklärer – dieser Anspruch bezieht sich vor allem, allerdings nicht ausschließlich auf die „Nachbarn am Rhein“ Deutschland und Frankreich. Annäherung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Ländern werden im ersten Teil analysiert, und zwar in einem breiten Panorama: Vergleiche der Sozialgeschichtsschreibung, Rolle des Bürgertums, unterschiedliche Funktionen und Wahrnehmungen der Familie, Entwicklungen des Wohlfahrtsstaates, soziale Ungleichheit sowie Beziehungsgeschichte, Verflechtungen, Transfers, aber auch Konvergenzen (laut Kaelble vor allem in der Wirtschaft) wie beharrliche Divergenzen insbesondere im gesellschaftlichen Bereich. Dies alles lässt deutlich die Gründe für die enge Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten hervortreten, wenngleich die Freundschaft „immer von neuem hergestellt werden“ müsse (S. 138). Dieser aus dem Jahr 2003 stammende Appell an die Verantwortung wirkt heute aktueller denn je.
Im zweiten Teil geht es um Konturen und Spezifika der sozialstaatlichen Entwicklung in einzelnen Ländern, wobei die Gegenwartsorientierung bei der Auswahl der Artikel unübersehbar ist. Aktuelles Geschehen beschreibt Kaelble etwa beim Wechselspiel zwischen (beeindruckendem wiewohl ungleichem) „Zusammenwachsen“ und drohendem „Auseinanderfallen“ der Europäischen Union zwischen 1957 und 2017 (S. 185ff.). Er macht hier allen voran die Finanz- und Eurokrise für unionsfeindliche oder -skeptische Dynamiken und Vertrauenskrisen verantwortlich. Die optimistische These, die Krise gefährde das „gesellschaftliche Zusammenwachsen Europas nicht im Kern“ (S. 200), möchte man im Lichte dunkel aufziehender Wolken gern teilen. Deutlich jedenfalls tritt auch an anderer Stelle die zuversichtliche Interpretation einer Europäisierung als Narrativ der Geschichte des Wohlfahrtsstaates seit 1945 in den Vordergrund. Da der Wohlfahrtsstaat nach wie vor „ein wichtiges Element der Identifikation mit dem Staat in Europa“ (S. 221) sei, könnten Wandel und Anpassung diagnostiziert werden, Verfall hingegen nicht. Aufschlussreich sind darüber hinaus die Reflexionen über das bisherige Nichtzustandekommen eines einheitlichen europäischen Wohlfahrtsstaates mit gemeinsamer Rente, Absicherung gesundheitlicher Risiken und Sozialhilfe sowie daran anschließende grundsätzliche Überlegungen zu internationaler beziehungsweise europäischer Solidarität – ein Thema, das derzeit mit Blick auf Euro-Bonds und die gemeinsame Bekämpfung der Pandemie-Folgen besonders drängend erscheint. Auch in anderen Abschnitten wird das Politische der Kaelble‘schen Sozialgeschichtsschreibung deutlich, wenn etwa die Bedeutung des wohlfahrtsstaatlichen Agierens oder Fragen der Reduzierung sozialer Ungleichheit reflektiert werden.
Geradezu zwangsläufig ergibt sich aus diesen Aspekten der dritte Teil des Buches über den Historischen Vergleich. Hier werden konzeptionell-methodische Vorschläge (etwa bezogen auf das Verhältnis zum Transfer oder auf die oft artifiziell wirkende Separierung von der transnationalen Geschichte) gebündelt und der Vergleich als inzwischen etablierte Methode, als probates Mittel „zum Verstehen des Anderen“ (S. 304) erörtert. Dadurch können laut Kaelble, der dieses Werkzeug selbst seit Jahrzehnten für den komparativen Blick auf Bürgertum, soziale Aufstiegs- und Abstiegsprozesse und anderes anwendet, geschichtswissenschaftliche Gegenstände aus der Nationalgeschichte herausgelöst werden, und zwar mit dem (hier sicher auch im übertragenen Sinne zu verstehenden) Ziel, „Grenzen überschreiten“ (S. 319ff.) zu lernen und einen neuen Blick auf das Eigene und Andere zu generieren.
Auch in dieser letzten Sektion fällt auf, was ebenso die anderen Beiträge auszeichnet: Diese sind durchweg sehr systematisch verfasst, schlagen große Bögen und nehmen die langen Linien in den Blick. Die Darlegungen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, Konvergenzen und Divergenzen sind durchweg lehrreich. Zwar kommen im Band größere globalgeschichtliche Zusammenhänge etwas kurz, sieht man einmal von den USA ab. Dafür atmen die anregenden Texte die europäische Idee buchstäblich, ist der Autor zupackend in den Texten, klar in Formulierungen, profund und kenntnisreich in seinen Synthesen. Dies geht mitunter zu Lasten der Erzählung, zudem wirken konkrete Akteure mitunter etwas farblos. Die meisten der Ausführungen beziehen sich außerdem dezidiert auf den Westen Europas (mit unverkennbarem Frankreich-Schwerpunkt), weniger beziehungsweise kaum auf den Süden oder gar den kommunistisch geprägten Osten.1 Wenn von „europäischem Wohlfahrtsstaat“ die Rede ist, meint Kaelble zuvörderst denjenigen westlicher Prägung und seine Nachwirkung über 1990 hinaus (vgl. aber S. 217f.); wenn von Vergleichen die Rede ist, bleiben konzeptionelle Überlegungen zur deutsch-deutschen Geschichtsschreibung ausgeklammert; dass beispielsweise die DDR in den Beiträgen so gut wie keine Rolle spielt, spiegelt die Publikationsgeschichte des Autors.2 Dies mindert den Wert dieser imponierenden Sammlung indes nicht.
Anmerkungen:
1 Vgl. demgegenüber aber die stärker integrierende Perspektive bei Hartmut Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München 2011 sowie bereits die Einbeziehung von Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa in: ders., Sozialgeschichte Europas – 1945 bis zur Gegenwart, München 2007.
2 Siehe allein Hartmut Kaelble, Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in: ders. / Jürgen Kocka (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 559–580.