Cover
Titel
Weltbildwechsel. Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns


Autor(en)
Schlottmann, Antje; Wintzer, Jeannine
Erschienen
Bern 2019: UTB
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 29,99; CHF 37,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Dorsch, Philosophische Fakultät, Universität Erfurt

Dieses Buch macht Spaß. Es macht Spaß, weil es ein kluges, zum Weiterdenken anregendes und gut geschriebenes Buch ist. Während die meisten Lehrbücher versuchen, Studierenden möglichst viel Wissen zu vermitteln, ist dieses Buch, wie es am Ende der Einleitung heißt, eine Einladung zum „Weiter- und Fortschreiben sowie zum Anders- und Neu-Erzählen“ (S. 35). Mit seinem praxeologisch-konstruktivistischen Ansatz bewegt sich das Buch auf dem aktuellen Stand der geographischen Forschung. Als Buch, das lehrt, selbst zu denken, und das den Leser/innen die entsprechenden Informationen vermittelt, richtet es sich damit sowohl an Studierende, an Raum-Wissenschaftler/innen als auch an allgemeiner für räumliche Fragestellungen Interessierte. Dabei ist schon der Titel „Weltbildwechsel“ Programm, er changiert zwischen den Alternativen Feststellung oder Aufforderung, abstrakter Singular (der Weltbildwechsel) oder konkreter Plural (die Weltbildwechsel): Die beiden Geographinnen Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer werfen anregend-neue, vielfältige Blicke auf ihr Fach, „die Geographie“.

Die Autorinnen bieten in ihrem Buch also keine einheitliche Ideengeschichte der Geographie, sondern erzählen verschiedene, ineinandergreifende Geschichten und versuchen so, die von ihnen als „Falle der Geschichtsschreibung“ (S. 24) bezeichnete Linearität/Teleologie aufzubrechen. Schon hier wird deutlich, wie sie dabei die Subjektivität ihres Forschungsstandpunktes reflektieren: Sie machen deutlich, dass sie ihren eigenen „Kontext nicht vollständig beschreiben, offen- oder ablegen können“ (S. 23). Sie machen ihren „Sehepunkt“ (Johann Martin Chladenius, 1710–1759) kenntlich, kontextualisieren ihn und reflektieren die damit verbundenen Macht-Dynamiken: „Unsere Rekonstruktion ist […] elitär und eurozentrisch und aufgrund von Sprachbarrieren vor allem mitteleuropäisch. Es mangelt dem Buch an Hinweisen zu Errungenschaften von Seiten der Gesellschaften fast aller anderer Kontinente.“ (S. 23) Dass die Autorinnen nicht suggerieren, einen vollkommenen Überblick zu haben, lässt sich hervorheben. Eurozentrismus und Elitarismus sind für die Autorinnen eine zweite „Falle der Geschichtsschreibung“. Auch auf weitere Schwerpunktsetzungen und Auslassungen, beispielsweise im Bereich der physischen Geographie, weisen die Autorinnen zu Beginn explizit hin. Eng damit verbunden nennen die Autorinnen den Positivismus als dritte Falle für eine Geschichte der Geographie: die Vorstellung, man könne durch die genaue Beobachtung von empirisch wahrnehmbaren Phänomenen wertneutral-wissenschaftliche Erklärungen liefern und damit Lösungen für soziale Probleme. Diese Falle zu reflektieren, sei insbesondere für eine Geographie, die sich als Fach zwischen Natur- und Sozialwissenschaft versteht, wichtig.

Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit den drei genannten Fallen (Eurozentrismus/Elitarismus – Linearität/Teleologie – Positivismus/Wertneutralität) entwickeln die Autorinnen eine Definition von Geographie „als eine wissenschaftliche Praxis, die sich mit sozialen Raumverhältnissen und räumlich situierten gesellschaftlichen Verhältnissen befasst.“ (S. 23) Geographie befasst sich, so formulieren die Autorinnen, mit verschiedenen Formen der Raum-Aneignung (wie Landwirtschaft oder Städtebau) ebenso wie mit deren Folgen für die natürliche Umwelt (wie Erosionen oder Klimawandel) und den daraus resultierenden sozialen Phänomenen wie Urbanisierung, Armut oder Migration. Mit ihrem praxeologischen Ansatz fokussieren sie selbstkritisch auf der Ebene von Beobachtungen zweiter Ordnung das Geographie-Machen und das Wie geographischen Handelns.

Geographie wird damit explizit als kritische und sozial interessierte Raum-Wissenschaft verstanden, nicht zuletzt um damit Verbindungen zwischen den natur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven des Fachs herzustellen. Für mich, der ich als Historiker seit vielen Jahren Raum- und Zeit-Fragen bearbeite, ist es interessant zu beobachten, dass der Raum-Fokus gerade in der deutschsprachigen Geographie noch immer nicht selbstverständlich ist. Für die Geschichtswissenschaft lässt sich mit wenigen Ausnahmen Analoges zum selbstreflektierenden Umgang mit dem Thema Zeit sagen, das erst jüngst wieder vermehrt in den Blick genommen wurde. Mit diesem Band ist also auch die Hoffnung verbunden, dass Geograph/innen mit ihrer sozial- und naturwissenschaftlichen Raum-Expertise die Debatten rund um den spatial turn, aber auch die konkrete Klima- und Globalisierungsforschung in Zukunft noch stärker bereichern.

Konkret heißt das für den Aufbau des Buches, dass die Autorinnen zehn Praktiken geographischen Denkens und Handelns in den Blick nehmen und anhand dieser zehn unterschiedliche, mit den Begriffen verbundene Geschichten mit je eigenen Akteuren und Konzepten beleuchten. Diese Begriffe klingen zunächst nicht spezifisch „geographisch“, sondern eher nach Alltagspraktiken: Vermessen – Erklären – Erobern – Vermitteln – Aufklären – Wahrnehmen – Gestalten – Differenzieren – Visualisieren – Modellieren. Gerade weil nicht geographische Fachbegriffe im Zentrum stehen, sondern deren spezifische Verwendung, werden nicht nur wesentliche Diskussionsgegenstände geographischer Forschung erfasst, sondern auch zahlreiche Grenzbewegungen zwischen dem Fach, anderen Disziplinen und dem Alltag. Konkret starten die Autorinnen jedes Kapitel mit einem aktuellen Aufhänger, sei es mit einer CIPRA-Demonstration gegen den Ausbau von Ski-Liften (Wahrnehmen), mit einem Geographen-Kongress-Thema (Gestalten), mit der Mondlandung (Erobern), Naturkatastrophen (Modellieren) oder Gedanken zu modernen Navigationsgeräten und Literaturverarbeitungen (Vermessen). Im Anschluss daran erklären sie, wie die jeweils benannten Praktiken über die verschiedenen Epochen hinweg unser Welt- und Raum-Verständnis so geprägt haben, dass diese aktuellen Auseinandersetzungen beziehungsweise Situationen und damit unsere Gegenwart in ihren räumlichen Dimensionen denkmöglich wurden. So verweisen sie mit Bezug auf das (räumliche) Erklären auf Homers hodologisches Vorgehen, das entlang von Wegen die je spezifische Natur erklärend beschreibt – eine Praxis, die sich in unterschiedlichen Formen in Reisebeschreibungen des Mittelalters genauso wiederfinden lässt wie bei Alexander von Humboldt und vor allem für die deutschsprachige Geographie sehr einflussreich in der Länderkunde, geprägt durch Alfred Hettner. Neben Ähnlichkeiten arbeiten sie neue Aneignungen heraus, beispielsweise wenn sie auf geodeterministische Konsequenzen dieser Praxis – spezifische, einzigartige Landschaften, Klimata etc. prägen menschliches Handeln – hinweisen. Unter dem Begriff „Erobern“ verweisen sie auf den Beginn der Militärgeographie im antiken Griechenland, aber auch (mit Verweis auf den eben behandelten Geodeterminismus) auf geopolitische Aneignungen im Kontext neuzeitlicher Nationalstaat- und Kolonialreichbildungen oder auf Raum-Konzeptionierungen im Rahmen der Area Studies (Container-Konzept): „Koloniales, imperiales und geopolitisches Denken verstehen Raum als etwas, das besetzt, in Besitz genommen, eingenommen, annektiert und mittels militärischer Macht demonstriert werden kann.“ (S. 142)

Kulturwissenschaftlicher Forschung wird häufig vorgeworfen, alte Gewissheiten zu hinterfragen, ohne selbst neu zu ordnen. Das hier vorgestellte Werk geht einen konsequenten Mittelweg, indem es das Produzieren räumlicher Weltbilder ins Zentrum rückt und damit unsere Gegenwart als nicht gesetzesmäßig vorherbestimmtes Produkt vergangenen Handelns versteht. Das „grundlegende Bedürfnis (westlicher) Menschen [zu verstehen], warum etwas genau so kam (und vielleicht auch kommen musste), wie es kam“ (S. 25), wird dadurch zumindest reflektiert. Durch Blicke über Mitteleuropa oder auch über die untersuchten deutschsprachigen Wissenschaftler wie Humboldt, Kant, Hettner und Haushofer hinaus hätte man dieses „Bestreben“ auch noch wesentlich stärker als kolonialistische Rationalität untersuchen können und – für ein weniger auf Mitteleuropa fokussiertes Verständnis von Geographie (gibt es das geographische Pendant zur Globalgeschichte?) – auch sollen. Der postkolonial orientierte Blick auf geographische Praktiken scheint in der englisch- und französischsprachigen Fachliteratur deutlich ausgeprägter als in der in diesem Werk explizit fokussierten deutschsprachigen Forschungslandschaft. Wie eingangs ausgeführt ist es eine Stärke dieses Buches, mit der vorgeschlagenen und überzeugend praktizierten Herangehensweise, das Weiterdenken in diese Richtungen anzuregen.

Zahlreiche in den Text eingebaute und farblich abgesetzte Exkurse und Definitionen zu zentralen Fachbegriffen und Sachverhalten erhöhen die Qualität des Buches als Lehrbuch ebenso wie am Schluss des Buches ein sorgfältiges ABC der Geographie. Zur Vertiefung findet sich am Ende jedes Kapitels neben den Zusammenfassungen ein umfangreiches Literaturverzeichnis und zur besseren Orientierung ein gut sortiertes Register.

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