Anlässlich der 150-Jahrfeier der Revolution von 1848 erschien eine wahre Flut von Publikationen [1]. Dieses Jubiläum zog nicht nur die professionellen Wissenschaftler sondern auch eine Vielzahl von historisch interessierten Bürgern und Bürgerinnen in ihren Bann. Die vielen kulturellen Aktivitäten, die dieses Jubiläum hervorrief, übertrafen alles bisher Gekannte. Aber gerade die überraschende Breitenwirkung dieses Jubiläums und die daraus resultierenden regionalen und lokalen Veröffentlichungen bereicherten die professionelle Forschung nicht nur, sondern sie warfen auch neue Fragen auf.[2] Wobei die Forschungsdefizite in den neuen Bundesländern auf regionaler und lokaler Ebene besonders groß waren. Vielleicht erklärt sich so auch die thematische Konzentration der entsprechenden Veröffentlichungen auf lokale, regionale und somit insbesondere deutsche Ereignisse. In den alten Bundesländern betrachtete die „professionelle Historiographie“ die Revolution eher europäisch vergleichend. In diesem Fall scheint die Geschichtspolitik stark von der aktuellen Diskussion um das Haus Europa beeinflußt zu sein. Da kam das europäische Revolutionsjubiläum 1848/48 gerade recht. Schade nur, dass sich der historische Vergleich zwischen den europäischen Staaten zumeist auf Mittel-, manchmal noch auf Ostmitteleuropa und auf eine Gegenüberstellung verschiedener nationaler Entwicklungen beschränkte. Europäisch vergleichende Untersuchungen, die nach dem Allgemeinen und Besonderen der Ursachen, des Verlaufs oder den Folgen dieser Revolution fragen, waren doch eher selten.
Die Wirkungsmächtigkeit der jeweiligen Geschichtsepoche spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie man sich der Revolution 1848/49 vor 1989 erinnerte und wie man ihrer mehr oder weniger öffentlich gedachte. In den Bilanzen des Jubiläums von 1998 wird daher zu recht betont, dass es nunmehr keine zielgerichtete „parteipolitische Instrumentalisierung“ (Manfred Gailus) mehr gab, dafür aber eine ungewöhnlich populäre Kultur des Erinnerns und des Feiern. Wobei der Schwerpunkt auch des populären Gedenkens unübersehbar im Südwesten und Westen der Bundesrepublik lag, während die Feiern im Norden und Osten doch eher bescheiden ausfielen. Die Vielzahl der Veröffentlichungen, zu denen auch die zahlreichen Ausstellungskataloge zählen, spiegelt dieses Gefälle ebenfalls wider. Um so erfreulicher ist es daher, dass nach dem Jubiläumsjahr weitere Bücher erschienen, die helfen, die bereits bilanzierten Forschungsdefizite aufzuarbeiten.
Die fünf hier vorzustellenden Publikationen ranken sich alle um die revolutionären Ereignisse von 1848/49 und sie gehören bis auf eine Ausnahme (Mommsen) zu den erfreulichen Nachwehen des Jubiläums. Sie widmen sich in besonderem Maße der Vorgeschichte, dem Vormärz, der Agrarfrage und den revolutionären Aktivitäten auf dem Lande sowie einzelnen Prozessen und Akteuren. Die Ergebnisse und die Folgen der Revolution, die Reflexionen und der Kampf um die Traditionspflege und das Erbe sind weitere Themen dieser Veröffentlichungen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus betrachtet werden. Alle Bände wurden von Historikern herausgegeben, die sich seit Jahren mit dieser Epoche beschäftigten und immer wieder neuen Fragen nachgingen. Der Band von Dieter Langewiesche und der von Helmut Bleiber stellen die Druckfassungen einmal des Symposions in der Paulskirche in Frankfurt am Main und zum anderen des Kolloquiums in der Französischen Kirche am Gendarmenmarkt in Berlin anlässlich der Feierlichkeiten 1998 dar.
In der Paulskirche, wo das Gedenken ganz im traditionellen Sinne offensichtlich Männersache war, gewährten acht Wissenschaftler mit ihren Beiträgen interessante Einblicke in die europäischen Ereignisse der Jahre 1848/49 und in die regional differierende Rezeptionsgeschichte. Wie Lothar Gall einleitend betont, sollten diese Beiträge Aspekte der zentralen bundesdeutschen Ausstellung „1848 Aufbruch zur Freiheit“ in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main thematisch vertiefen. Dieter Langewiesche geht in seinem Beitrag „Wirkungen des Scheiterns“ Fragen der Wirkungsgeschichte der europäischen Revolution nach. Die „Ideen des europäischen Völkerfrühlings“ ließen sich auch in jener intensiven Phase des gesellschaftlichen Aufbruchs nicht realisieren und so einte die europäischen Revolutionen nicht nur das Scheitern, sondern auch die Wirkung des Scheiterns, wie Langewiesche überzeugend darlegt. Aus dem Traum vom „Völkerfrühling“ wurde der „Alptraum der Nationalitätenkonflikte“, der bis heute nachwirkt und dennoch den ursprünglichen Traum nicht gänzlich besiegte. Das Allgemeine und Besondere der jeweiligen Revolutionen wird von Heinz-Gerhard Haupt für Frankreich, von Peter Stadler für die Schweiz und von Christof Dipper für Italien analysiert und ansprechend dargestellt. Dabei weisen einige jener nationalen Besonderheiten des Revolutionsverlaufs durchaus auf ähnliche Entwicklung in dem einen oder anderen deutschen Territorium hin. Leider wurde diese Vergleichsfolie nicht berücksichtigt und somit auch das mögliche Ursachenspektrum nicht näher beleuchtet. Die große Bedeutung der Revolutionen von 1848 für die europäische Rechtsentwicklung thematisiert in diesem Band Jörg-Detlef Kühne. Während in der Schweiz, Frankreich und Deutschland die Verfassungen eine Folge der Revolution darstellten, wurden sie in Sardinen-Piemont, Holland und Dänemark erlassen, um eine Revolution zu verhindern. Aber nicht nur die Rechtskultur profitierte von dieser Revolution, sondern auch die europäische Kunst, wie Thomas W. Gaethgens mit Blick auf Frankreich und Deutschland zu vermitteln weiß. Infolge der Revolution geriet die Hierarchie der Bildgattungen in Bewegung und die Politisierung der Kunst wurde noch sichtbarer. Die Hoffnungen, die deutsche Künstler mit dem Wirken der liberalen Parlamentarier verbanden, erfüllten sich allerdings nicht. Gaethgens sieht in der Enttäuschung dieser Erwartungen eine wesentlich Ursache für die spätere konservative politische Ausrichtung vieler Künstler.
Betrachtungen über die deutsche und ungarische Rezeptionsgeschichte schließen den Band ab. Wolfram Siemann spürt die deutschen Revolutionserinnerungen und ihre Mythenbildung im Kontext der Streites um Erbe und Traditionen auf. Auch er kommt resümierend zu dem Schluss, dass das Erfreuliche an den Feierlichkeiten 1998 darin bestand, dass es nunmehr erstmalig zu keiner parteipolitischen Instrumentalisierung des Gedenkens kam, sondern dass der Blick frei wurde für neue wichtige Themen der Revolution (Frauen, Juden, Landbevölkerung, allgemein Politisierung und Kommunikationsrevolution). Gábor Erdödy zeichnet den schwierigen, in sieben Etappen gegliederten Weg nach, den das Erbe von 1848 in Ungarn nahm, und das eigentlich „die Symbiose von Freiheit, Ungarntum und Europäertum“ anstrebte. Aber auch in Ungarn konnte dieser Revolution erst nach 1990 in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit gedacht werden.
In dem Berliner Jubiläumsband, den Helmut Bleiber, Rolf Dlubek und Walter Schmidt herausgegeben haben, thematisieren 18 Wissenschafter und immerhin zwei Wissenschaftlerinnen in fünf Abschnitten einzelne Facetten des Vormärz, der revolutionären Ereignisse und deren Folgen sowie der Revolutionsrezeption. In dem ersten Abschnitt „Vormärz“ dokumentiert Waltraud Seidel-Höppner den kontroversen Disput um die „Soziale Republik“ innerhalb der „frühproletarischen Verfassungsdebatte“ der dreißiger und vierziger Jahre. Die Protagonisten agierten und kommunizierten nicht nur europaweit, sondern sie waren auch in den USA präsent. Gerade dieser grenzüberschreitende und somit weitverzweigte kommunikative Aspekt der Debatte einiger Demokraten und „Arbeiterfunktionäre“ sollte viel stärker berücksichtigt werden, wenn man in Bezug auf die Revolution von 1848 von einer Kommunikationsrevolution spricht. Helmut Asmus untersucht in seinem Beitrag, wie sich in den verschiedenen Auflagen des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons der sich in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts schnell wandelnde Zeitgeist in der Darstellungsweise von Freiheitsrechten, Demokratie und sozialer Frage manifestierte. Diesen Einblicken folgt dann eine sehr kurze Darstellung der Geschichte des Sonderbundkrieges in der Schweiz von Wolfgang Büttner und eine Reminiszenz an ein fast vergessenes satirisches Liedgut, dem „Muckerlied“ des Malers Wilhelm Steinhäuser. Kurt Wernicke geht der Geschichte dieses Liedes im Kontext der politischen Satire des Vormärz nach.
In dem zweiten Abschnitt „Revolution und Arbeiterbewegung“ unterstreicht Rolf Weber in seinem Aufsatz „Demokratie und Arbeiter in der Revolution 1848/49“ die aktivierende und politisierende Bedeutung der heterogenen demokratischen Bewegung innerhalb des turbulenten Revolutionsgeschehens. Helmut Bleiber rückt die regional differierenden ländlichen Bewegungen und das durchaus nicht einheitliche Verhalten der verschiedenen sozialen Gruppen der ländlichen Bevölkerung ins Blickfeld. Die Verflechtungen zwischen einzelnen Persönlichkeiten des Bundes der Kommunisten und dem europäischen Revolutionsgeschehen thematisiert Martin Hundt. Francois Melis dokumentiert die Dynamik des Revolutionsgeschehens am Beispiel der zahlreichen Druckvarianten einzelner Nummern der „Neuen Rheinischen Zeitung“ für die Zeit vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai 1849. Die besondere Bedeutung der Schriftsetzer und Buchdrucker innerhalb der revolutionären Ereignisse und der Gewerkschaftsbewegung umreißt Gerhard Fischer. Das Schicksal der Deutschen Legion, einer Arbeiterfreischar aus der Schweiz, in den badisch-pfälzischen Revolutionskämpfen 1849 stellt Rolf Dlubek dar. Der letzte Beitrag dieses Abschnittes beschäftigt sich mit der Frage, wie und in welchem Umfang die Frankfurter Nationalversammlung über aktuelle sozialpolitische Probleme der Arbeiter und speziell über das Recht auf Arbeit debattierte. Gunther Hildebrandt kann an Hand dieser Debatte überzeugend die verschiedenen politischen Positionen innerhalb der „Liberalen“ und der „Demokraten“ und deren dynamische Wandlungen veranschaulichen.
In dem dritten Abschnitt „Demokratische Bestrebungen in der Revolution“ erhält der Leser Einblicke in die Entwicklung der Arbeiterkultur (Liedschaffen des Jahres 1848 - Inge Lammel) und der mehr oder weniger spontanen Organisation der Demokratischen Vereine des Regierungsbezirks Frankfurt/Oder (Volker Klemm) sowie in die widersprüchliche Entwicklung des Lothar Bucher, der vom „gefeierten Parlamentarier von 1848/49 zum umstrittenen Mitarbeiter Bismarcks“(Fritz Gebauer) mutierte. Mario Keßler beschließt diesen Abschnitt mit einem Beitrag zum schwierigen und all zu oft vernachlässigten Thema „Proletarische und jüdische Emanzipation in der Revolution“. Die Pogrome zu Beginn der Revolution insbesondere in Böhmen, Mähren, im Elsass oder in Südwestdeutschland sprechen ihre eigene Sprache ebenso wie das antisemitische Verhalten auch berühmter Revolutionäre. Doch hier bedarf es unbedingt weiterer, vor allem auch interdisziplinärer Forschungen. Griffen die Menschen, durch die Umbruchssituation fundamental verunsichert, gerade gegenüber den Juden zu alten, traditionellen Verhaltensmustern? Erklären diese tiefverwurzelten Traditionen dann, wie Stefan Rohrbacher vermutet, die regional sehr verschiedenen Verhaltensweisen gegenüber den Juden auch gerade im Revolutionsjahr? [3]
Im vorletzten Abschnitt des Bandes wird die „Gegenrevolution“ thematisiert und für Preußen allgemein von Konrad Canis dargestellt. Die Mutation von Denk- und Verhaltensweisen angesichts der revolutionären Ereignisse und ihrer Folgen wird am Beispiel des Bildungsbürgers Constantin Frantz von Helmut Meier und des Prinzen Wilhelm von Preußen von Karl-Heinz Börner beschrieben. In dem letzten Abschnitt „Folgen und Erbe“ analysierte Gerd Fesser die Auswirkungen der Revolution auf die Vereinsgesetzgebung in Thüringen. Walter Schmidt verfolgt den Weg der Revolutionsrezeption in den Jubiläumsjahrestagen 1873, 1898 und 1923.
Wenn man die Beiträge des Symposiums in der Frankfurter Paulskirche mit denen des Kolloquiums im Berliner Französischen Dom vergleicht, fallen zunächst die unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte auf. Während man in Frankfurt am Main eher den europäischen Ländervergleich ins Blickfeld rückte, wurden in Berlin - ohne den europäischen Charakter der Ereignisse zu unterschätzen - traditionell linke Themen diskutiert. In beiden Bänden finden sich jedoch, und das ist sicherlich kein Zufall, kulturhistorische Beiträge, die Ausdruck des Zeitgeistes sein dürften. Weiterhin „leiden“ beide Bände an den typischen Mängeln von Sammelbänden. Die Auswahl der behandelten Themen scheint eher zufällig gewesen zu sein und der Leser vermisst wohl zurecht auch innere Bezüge. Dennoch vermitteln beide Bände wichtige Einblicke in Ereignisse und Prozesse der Revolution und bereichern so das vielgestaltige Bild von dieser europäischen Revolution. Natürlich hätte man sich in dem von Dieter Langewiesche herausgegebenen Band eine noch stärkere Berücksichtigung weiterer europäischer Länder gewünscht. Die Darstellung der besondere Entwicklung in den Niederlanden oder in Dänemark hätte nicht nur den vergleichenden Aspekt erweitert, sondern auch der kontroversen Diskussion um die Begrifflichkeit - die europäischen Revolutionen oder eine europäische Revolution - bereichern können. [4] Hingegen ließ die Focussierung des von Helmut Bleiber u.a. herausgegebenen Bandes auf „Demokratie und Arbeiterbewegung“ hoffen, dort auch etwas über die regionale und soziale Differenzierung innerhalb der „Arbeiterbewegung“ und ihres heterogenen Verhaltens in der Revolution zu erfahren. Auch eine Begriffsdiskussion (Arbeiter, Bourgeoisie, Landarbeiter, Bauern usw.) wäre wünschenswert gewesen. Es bedarf durchaus noch weiterer Forschungen, um die unterschiedlichen Denk- und Verhaltensmuster der verschiedenen Akteure in diesen turbulenten Jahren ergründen zu können.
Die beiden Sammelbände, die ich nun vorstellen werden, resultieren jeweils aus Kolloquien, die zu Ehren des 70. Geburtstages von Helmut Bleiber und Helmut Bock von Kollegen und Freunden veranstaltet und deren Beiträge von Walter Schmidt herausgegeben wurden. Beide Jubilare begannen ihre wissenschaftliche Laufbahn nach traumatischen Kriegserlebnissen in der DDR und sie prägten die DDR-Geschichtswissenschaft mit ihren national und international anerkannten Publikationen in vielfältiger Weise. [5] Helmut Bleiber, der sich insbesondere mit den Prozessen des Übergangs vom „Feudalismus“ zum Kapitalismus beschäftigte, reflektiert am Ende des Sammelbandes „Demokratie, Agrarfrage und Nation in der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland“ kurz den gegenwärtigen Stand des Diskurses um den Inhalt und die Zweckmäßigkeit der „Formationstheorie“ (Fülberth, Gurjewitsch, Hobsbawm, Küttler, Markov). Theorie und Praxis gehen nicht immer Hand in Hand und gerade deswegen faszinieren den Wissenschaftler diese „Übergangsepochen“ und ihre kulturelle „Durchmischung“. Wer sich also für einzelne Probleme des Vormärz (das politische Konzepts Cabets und das Agieren des provinzialsächsischen Landtages) oder für die agrarische Bewegung in Beucha und Hessen sowie für die Agrarfrage bei Max Weber interessiert und darüber hinaus noch eine Vielzahl von detaillierten Kenntnissen zur 48er Revolution und zur diffizilen Problematik der Nationalfrage erwerben möchte, dem sei dieser Sammelband sehr empfohlen.
Der andere Sammelband „Bürgerliche Revolution und revolutionäre Linke“ geht der Frage nach: „Was war und ist die historische Rolle der ´Linken´ in den bürgerlichen Revolutionen?“ (S. 11) In seinen einleitenden Thesen schlägt Helmut Bock einen weiten Bogen vom dem Thesenanschlag Luthers an die Wittenberger Schlosskirche bis hin zur 48er Revolution und er verweist auf die zunehmende Differenzierung in der Sicht auf die „Linken“ und deren sozialer Stratifikation. Neben vielen anderen Themen ist der Jubilar vor allem durch seine Arbeiten über einzelne Persönlichkeiten (Ludwig Börne, Heinrich Heine, Ferdinand Schill) sowie über die Reform- und Restaurationszeit und den Vormärz im allgemeinen weithin bekannt und anerkennt worden. Darüber hinaus interessierte er sich stets für die Problematik der vergleichenden Revolutionsgeschichte.
Die 15 Beiträge dieses „Ehrenkolloquiums“ vermitteln ein sehr vielschichtiges Bild von den linken und radikal-demokratischen Aktivitäten einzelner politischer Akteure bzw. Gruppierungen und deren theoretischen Background im Verlaufe des langen 19. Jahrhunderts. Da ich nicht auf jeden einzelnen Beitrag eingehen kann, möchte ich nur eine kleine Auswahl vorstellen. Waltraud Seidel-Höppner verfolgt die Spuren des zeitgenössischen Disputs um den Begriff „Geistesaristokratie“. Lange Zeit wurde mit diesem Begriff fälschlicherweise die Wissens- und Intelligenzfeindlichkeit der Arbeiterbewegung assoziiert. Er ist jedoch ein „Spezifikum der frühen deutschen Arbeiterbewegung“ und wurde besonders häufig von Vertretern der Schweizer Vereine benutzt. In Paris oder London wurde „Geistesaristokratie“ eher selten verwendet. Dieser regional begrenzte Sprachgebrauch könnte auch mit Prozessen der politischen Emanzipation der Arbeiter einher gegangen oder durch die Kommunikationsformen einzelner Persönlichkeiten bedingt sein. Das „Rechts/Links-Schema“ als „politische Zuordnungsregel“ spürt Hermann Klenner in den Schriften von Immanuel Kant, David Friedrich Strauß, Eduard Gans und anderen auf. Damit zeigt Klenner eine Traditionslinie auf, die sicherlich auch heute nicht ohne Widerspruch bleiben wird. Zu den linken Traditionen zählen dann fraglos die Arbeiterpoesie in der „Deutschen Brüsseler-Zeitung“ 1847 (Wolfgang Büttner) und auch der Badische Radikalismus in der Märzbewegung 1848 (Rolf Weber). Helmut Bleiber fragt nach dem Verhältnis von „demokratischer Linke“ und Agrarfrage in der 48 Revolution. Dieses Forschungsgebiet ist sträflich vernachlässigt worden und so weist Bleiber nicht nur auf die spezifische Rolle des „platten Landes“ in dieser Revolution hin, sondern auch auf weitere Forschungsaufgaben. Den Berliner Unternehmer Eduard Krause, einzig überlebender Kämpfer der Barrikade Breite Straße/Fischmarkt, rückt Kurt Wernicke ins Bild. Biografische Miniaturen, wie der des Buchdruckereibesitzers Krause, sind bestens geeignet, um die politische Evolution einzelner und die Brüche nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Biografie Krauses veranschaulicht auch, wie nachhaltig die revolutionären Erfahrungen den Einzelnen prägten und wie wirkungsmächtig die einstigen persönlichen Kontakte aus dieser Zeit noch nach Jahrzehnten waren. Eduard Krause gehörte nicht zu den „Linken“, weder vor noch nach der Revolution. Aber es waren die radikal-demokratischen und „linken“ Positionen seiner einstigen Kampfgefährten, die ihn, wenn auch eher unbewusst, zur eigenen politischen Profilierung zwangen. Diesem Beitrag folgen noch eine Vielzahl interessanter Einblicke in „linke“ Denk- und Handlungsweise (Georg Weerth, Johann Philipp Becker, Wilhelm Liebknecht, Friedrich Ludwig Weidig und Leo Trotzki). Wie man 1923 der Revolution von 1848 gedachte, untersucht Walter Schmidt. Rainer Rosenberg betrachtet die Schwierigkeiten der DDR-Literaturwissenschaft im Umgang mit den politischen Vormärz-Schriftstellern und Wolfgang Küttler referierte über den Standort der bürgerlichen Revolutionen in der DDR-Diskussion. Im „Offenen Schluss“ stellt der Jubilar die Frage, was den „Linken“ angesichts der gegenwärtigen global schwierigen Situation zu tun bleibt. Eine schlüssige Antwort bleibt er ehrlicherweise schuldig. Statt dessen entwickelt er Visionen, ohne die die Zukunft der Menschheit kaum vorstellbar ist und die von daher politisch integrierend und mobilisierend wirken könnten.
Die beiden von Walter Schmidt herausgegebenen Sammelbände gewähren vielfältige Einblicke in Prozesse, Denk- und Verhaltensweisen der breiten „linken“ und liberal-demokratischen Bewegung vom Vormärz über die Revolution von 1848 bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Die zumeist auf empirischen Studien beruhenden Beiträge vermitteln teilweise neue Erkenntnisse und Einsichten in die durchaus schwierige und widersprüchliche Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung. Damit wurde auch ein Themenkomplex wieder ins Bewusstsein gerufen, der in der eigentlichen Revolutionseuphorie 1998 eher vernachlässigt oder ganz ausgeblendet wurde. Denn die 48er Revolution lässt sich wohl kaum auf eine „bürgerliche“ oder „liberale“ Revolution reduzieren. [6] Allerdings ist die Rolle, die die nichtbürgerlichen, sozial sehr heterogenen Schichten in dieser Revolution spielten, noch zu klären. Neben weiteren empirischen Forschungen bedarf es jedoch auch der begrifflichen Klärung. Noch herrscht gerade in Bezug auf die nichtbürgerlichen und sogenannten Unterschichten, aber auch hinsichtlich der politischen Gruppierungen ein kaum zu durchschauender Begriffswirrwarr, den es zukünftig zu ordnen und zu präzisieren gilt.
Als letzten Band dieser Sammelrezension möchte ich eine der wenigen Gesamtdarstellungen der Revolution von 1848 vorstellen. Wolfgang Mommsen setzte sich das Ziel, „ein umfassendes Bild der revolutionären Entwicklungen in Europa seit der französischen Julirevolution von 1830 und ihrer Kulmination in der Revolution von 1848/40 [zu] geben.“ (S. 7). Die Wahl des Titels „1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830 - 1849“ offeriert dem geübten Lesen auch gleich die zu erwartende „liberale“ Betrachtungs- und Sichtweise auf die Revolution. Die diesbezüglichen Erwartungen werden dann auch nicht enttäuscht. In dieser gut lesbaren Monographie würdigt Mommsen durchgehend die Leistungen und Aktivitäten der Liberalen vom Vormärz bis zu den revolutionären Nachwehen. Insbesondere ihr vehementes Agieren in dem Parlament der Paulskirche erfährt eine umfassende Darstellung. Bei aller Sympathie für die Liberalen muss Mommsen dennoch einräumen, dass auch sie keine konkreten Vorstellungen davon hatten, wie man das bedrohliche Problem des Pauperismus lösen könnte. Die Liberalen hatten zweifelsohne Angst - so räumt er ein - vor dem „Volk“ oder den „Unterschichten“ und sie fürchteten daher nichts so sehr, wie das allgemeine Wahlrecht, das diesen unberechenbaren und „ungebildeten“„Volksmassen“ ein Mitspracherecht einräumen würde. Während die Liberalen keinen Ausweg aus diesem sozialen Dilemma sahen, entwickelten die Demokraten, deren politische Ziele und Vorstellungen von Mommsen nicht gerade wertfrei vorgestellt werden, nur „weltfremde“ Visionen, die jedoch beim „Volk“ sehr populär waren. Es versteht sich nun fast von selbst, dass die radikalen Demokraten und die „Linken“ sowie die heterogenen „Unterschichten“ in diesem Buch weder ausgewogen berücksichtigt noch in ihrer Differenzierung wahrgenommen werden. Die Kapitelüberschrift „Schießen` oder Weitertreiben der Revolution?“ spricht für sich. Der „blinde Aktionismus“ der „Volksmassen“ und ihr selbstverständlich politisch unreifes Gebaren werden episodenhaft dargestellt. Ähnlich beurteilte beispielsweise ein intellektueller Zeitgenosse der Revolution - Karl August Varnhagen von Ense - das Verhalten der Berliner Arbeiter. "Die sittliche Bildung dieser Leute setzte in Erstaunen, ihr Rechtssinn, ihre Billigkeit, ihr Anstand; aber die politische konnte nur gering sein und stand ihrem Eifer weit nach.“ [7] Der Bildungsbürger Varnhagen von Ense zollte dem Verhalten und den Aktivitäten der Arbeiter zwar Respekt, doch politische Bildung sprach er ihnen rigoros ab. Wenn zwölftausend Arbeiter freiwillig und geordnet eine Adresse unterschrieben, dann war das für ihn und viele andere zeitgenössische Intellektuelle kein Ausdruck einer politischen Willensbekundung. Die Legende vom unpolitischen „Volk“ hält sich bis heute. Die liberale Sichtweise Mommsens lässt dann auch Fakten, die die preußische Geschichte betreffen, eher als unwichtig erscheinen. So wird beispielsweise dem schon 1840 verstorbenen preußischen König Friedrich Wilhelm III. 1847 ein Testament zugeschrieben, dass dieser in Wahrheit jedoch 1838 als Hausgesetz entworfen hat und indem dieser dem Nachfolger eine Selbstbeschränkung von Kronrechte untersagte . (S. 70)[8] Ein weiterer Irrtum ist Mommsen mit der Rede von den Verfassungsversprechen 1815 und 1820 unterlaufen. (S. 76) Von 1820 datiert das Staatsschuldengesetz, jedoch kein Verfassungsversprechen im eigentlichen Sinne. Doch das nur am Rande.
Insgesamt gewährt dieses ansprechend geschriebene Buch durchaus einen Überblick über die mitteleuropäischen revolutionären Ereignisse. Auch das Resümee Mommsens ist in sich schlüssig. Die ungewollte Revolution musste scheitern, weil das „ deutsche Bürgertum“ versagte. Die eigentlichen Verlierer der Revolution waren jedoch die „Unterschichten“, deren Aktivitäten die Zugeständnisse der Monarchen erst ermöglichten. Immerhin treffen sich bei dieser Wertung die „liberalen“ Auffassungen Mommsens mit denen vieler marxistischer Historiker, die in dem Verrat des Bourgeoisie den Grund für das Scheitern der Revolution sehen. Der Verrat wiederum resultierte aus der „ungerechtfertigten Proletarier- und Plebejerfurcht“ des Bürgertums, (Rolf Weber, S. 62) die einem notwendigen Bündnis im Wege stand. Sicherlich sind es die jeweiligen Erwartungen, die man an diese Revolution knüpft, die diese Sichtweise ermöglichen. Speziell für Preußen scheint mir jedoch das Kosellecksche Resümee zutreffender. „Die Revolution erfüllte, grob formuliert, die Reform von 1807 bis 1820 zur Gänze, darüber hinaus ist sie gescheitert.“ [9]
Anmerkungen
1. Siehe beispielsweise die Literaturberichte von Dieter Langewiesche, Die deutsche Revolution und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Archiv für Sozialgeschichte XXXI, 1991, S. 331-443; Manfred Gailus, Bürgerliche Revolution? Deutsche Revolution? Europäische Revolution? Neuerscheinungen und Forschungstrends im Zeichen des 150 jährigen Jubiläums der Revolution 1848/49, in: ZfG, 47, 1999, S. 623-636; Rüdiger Hachtmann, 150 Jahre Revolution von 1848: Festschriften und Forschungsbeiträge. Erster Teil, in: Archiv für Sozialgeschichte 39, 1999, S. 447-493 und Zweiter Teil, ebenda, 40, 2000, S. 337-401.
2. Insbesondere Dieter Langewiesche diskutiert die möglichen Folgen dieser Breitenwirkung für die professionelle Historiographie. Siehe Dieter Langewiesche, Populare und professionelle Historiographie zur Revolution von 1848/49 im Jubiläumsjahr 1998, in: ZfG 47, 1999, S. 615-622.
3. Siehe Stephan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815-1848/49), Frankfurt/Main /New York 1993 (=Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin, 1) und die anregenden Überlegungen dazu von Dieter Langewiesche, Revolution und Emanzipation 1848/49: Möglichkeiten und Grenzen, in: Lucas, Franz D. (Hrsg.), Geschichte und Geist. Fünf Essays zum Verständnis des Judentums. Zum Gedenken an den fünfzigsten Todestag von Rabbiner Dr. Leopold Lucas, Berlin 1995, S. 11-34.
4. Rüdiger Hachtmann führt in seinem Forschungsbericht zehn gute Gründe an, warum man von einer europäischen Revolution sprechen sollte. Dieter Langewiesche und auch die Mehrzahl seiner Autoren sprechen hingegen von den europäischen Revolutionen.
5. Siehe jeweils die Biobibliographien am Ende der einzelnen Bände.
6. Vgl. den zweiten Teil der Sammelrezension von Rüdiger Hachtmann, S. 363.
7. Karl August Varnhagen von Ense, Journal einer Revolution, Nördlingen 1986, S. 55.
8. Wer mehr über die Geschichte der Testamente wissen möchte, dem sei die Einleitung zu dem dritten Band der Regesten von Bärbel Holtz empfohlen, der ich an dieser Stelle für ihre kollegialen Hilfe sehr danken möchte. Siehe: Acta Borussica Neue Folge. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38, hrsg. v. Jürgen Kocka und Wolfgang Neugebauer, Band 3: Vom 9. Juni bis 14. März 1848, bearb. v. Bärbel Holtz, Hildesheim 2000.
9. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 4. Aufl. 1989, S. 14.