Zwischen Weisheit und Wissenschaft:1 Diese beiden Stränge des philosophischen Denkens haben sich in der Überlieferung zu Person und Werk des Pythagoras (ca. 570-480 v.Chr.) in besonders eindrücklicher Form niedergeschlagen, die sich wiederum in die verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen von der Philosophie- und Religionsgeschichte 2 über die Mathematik- und Wissenschaftsgeschichte 3 bis hin zur Musikgeschichte 4 verzweigt. Das große Problem der Pythagoras-Forschung ist - wie auch bei anderen vorsokratischen Philosophen - die komplizierte Überlieferungslage: Zusammenhängende Darstellungen zu seinem Leben und Werk sind nur aus dem 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. erhalten (Diogenes Laertios, Porphyrios von Tyros und Iamblich von Chalkis). Hinzu kommen zwei weitere Probleme: Eine außerordentlich stark platonisierende Einfärbung der pythagoreischen Lehre, die die Überlieferung seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. so stark geprägt hat, dass frühere Schichten kaum zuverlässig rekonstruiert werden können, und die von Protagoras selbst initiierte Organisationsform seiner Schule als einer auf größte Geheimhaltung der Lehren konzentrierten Sekte.
Riedweg beschreibt diese Überlieferungslage mit dem Bild des Palimpsestes und geht entsprechend vor: In Kapitel I stellt er das Äußere, die Biographie und die Tätigkeit des Pythagoras als Lehrer auf der Basis der literarischen Überlieferung dar. Es folgen eine Skizze des historischen Umfeldes (Kapitel II), das den aus Samos stammenden Pythagoras sicher geprägt hat (die Gruppe der milesischen Naturphilosophen, das kulturelle Leben in Ionien, der Austausch zwischen Ionien und der Magna Graecia), sowie - darauf bezogen - die Analyse der in der späteren Literatur erhaltenen Zeugnisse und Anekdoten über die Person des Philosophen. "Guru und Gelehrter" (S. 84ff.) überschreibt Riedweg seinen Versuch, auf dieser Basis trotz aller Probleme "eine halbwegs authentische Vorstellung von dieser faszinierenden Persönlichkeit" (S. 11) zu gewinnen. In diesem Abschnitt werden in aller Kürze die zentralen Fragen der Lehre behandelt, so u.a. die Seelenwanderung, die rituellen Vorschriften, die Zahlenphilosophie, die Harmonielehre, die Medizin und die Kosmologie.
Bei allem Verständnis für die durch den Charakter eines Einführungsbuches bedingte, um Übersichtlichkeit und Knappheit bemühte Darstellungsform, sei hier doch angemerkt, dass zentrale Fragen der Wissenschaftsgeschichte, die die Besonderheit der pythagoreischen Lehre beleuchten, hier nicht nur knapp, sondern gar nicht behandelt werden: In dem mit "Naturphilosophische <Hörsprüche> II: Zahlen, Namen, Medizin, Harmonie" (S. 103ff.) überschriebenen Abschnitt wird über den medizinischen Kontext der pythagoreischen Lehre nichts gesagt. Im folgenden Abschnitt erwähnt Riedweg zwar immerhin, dass in dem unteritalischen Kroton, in das Pythagoras auswanderte, eine Ärzteschule existierte, mit der es auch einen Kontakt gegeben habe, doch welchen Niederschlag dies für die frühe naturphilosophische Medizin gehabt haben könnte oder wie umgekehrt ein Arzt wie Alkmaion von Kroton, der seinerseits ein bedeutender Denker dieser Zeit gewesen ist, auf Pythagoras gewirkt hat, wird überhaupt nicht angesprochen.
Das gleiche Versäumnis ist nach Auffassung der Rezensentin auch in der "Anfänge wissenschaftlicher Mathematik?" überschriebenen Passage (S. 119) zu bemerken: Zwar wird erwähnt, dass das mit dem Namen des Pythagoras zu verbindende Theorem ("Satz des Pythagoras") innerhalb der Entwicklung der griechischen Mathematik den Anfang der deduktiven Mathematik darstellen dürfte (S. 44, S. 119),5 doch stellt Riedweg selbst dies eher in Frage (S. 120). Ein einfacher Blick in Euklids Elemente (IX § 21-22 und VII Def. 3 mit § 5) oder auch in eine Mathematikgeschichte zeigt jedoch überzeugend,6 wie aus der pythagoreischen Zahlenlehre eine geordnete Theorie der Zahlen entsteht, die diese nicht mehr als bloße Hilfsmittel (für die Rechen- oder Messtechnik), sondern als selbständige Gegenstände betrachtet. Das ist die Voraussetzung gewesen, um dann z.B. Ausgangssätze aus Definitionen abzuleiten! Die gleiche Leistung haben die Pythagoreer wohl auch in der Theorie der geometrischen Konstruktionen vollbracht.7 Die in der Entwicklung des deduktiven Verfahrens liegende besondere Leistung der Pythagoreer, von der Person des Gründers nicht zu trennen, ist in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte kaum zu überschätzen und sollte auch in einer Einführung thematisiert werden.
Art und Organisation des pythagoreischen Geheimbundes sowie auch seiner politischen Auswirkungen werden in Kapitel III beschrieben, dem u.a. eine Prosopographie der wichtigsten Anhänger des Pythagoras im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. beigefügt ist (S. 142-149). Es folgen längere Ausführungen zum Weiterleben der Schule (Kapitel IV) von den Vorsokratikern, Platon und der alten Akademie über den Neupythagoreismus bis hin zum lateinischen Mittelalter, der frühen Neuzeit (Kopernikus, Kepler) und zum sog. harmonikalen Pythagoreismus des 20. Jahrhunderts. Im Anhang sind dem Buch Zeittafel, Karte, Bibliographie und Register beigegeben.
Abgesehen von der grundsätzlich anderen Einschätzung des Pythagoras durch die Rezensentin, die aber - das sei betont - eine Differenz spiegelt, die so alt wie die Forschung zu Pythagoras selbst ist, stellt dies eine sehr gut lesbare, klar gegliederte, zuverlässig informative und für alle Leserkreise hervorragend geeignete Einführung dar.
Anmerkungen
1 Vgl. Burkert, W.: Weisheit und Wissenschaft, Nürnberg 1962; in überarbeiteter Form: Lore and Science in Ancient Pythagoreanism, Cambridge, Mass. 1972.
2 Vgl. Zhmud, L.: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus, Berlin 1997.
3 Vgl. van der Waerden, B.: Erwachende Wissenschaft. Ägyptische, babylonische und griechische Mathematik, Basel 1956; ders.: Die Pythagoreer, Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft, Zürich/ München 1979.
4 Vgl. Kayser, H.: Die Harmonie der Welt (Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung I), Wien 1968.
5 Dass die Anwendung dieses Theorems in der babylonischen Rechentechnik die Anregung gegeben hat, ist natürlich unumstritten, jedoch für den hier gemeinten Zusammenhang nicht von Bedeutung.
6 Vgl. Becker, O.: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Freiburg/ München 1954 (2. Aufl. 1964).
7 Zur Bedeutung des Pentagramms, des regelmäßigen Fünfecks, das das Erkennungszeichen der Pythagoreer war, für die Entdeckung der Inkommensurabilität vgl. u.a. Fritz, K. v.: The discovery of Incommensurability by Hippasos of Metapontum, in: Annals of Math. 46 (1945), S. 242-264.