R. v. Bruch u.a. (Hgg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik

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Titel
Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
vom Bruch, Rüdiger; Kaderas, Brigitte
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 96,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Arne Schirrmacher, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Deutsches Museum

Gut zwei Jahre nach der von der Humboldt-Universität in Verbindung mit der DFG veranstalteten Tagung zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts im Berliner Harnack-Haus liegt nun ein umfangreicher Band vor, der eine Großzahl der Tagungsbeiträge zugänglich macht. Auch wenn mit Abdruck der Eröffnungsrede des Präsidenten der DFG und der Einführung von Rüdiger vom Bruch nebst einer historischen Ortsbestimmung der Tagungsstätte durch den Direktor des Archivs der MPG der Charakter der Tagungsdokumentation zunächst betont wird, stellen die folgenden gut drei Dutzend Aufsätze kein getreues Abbild der Diskussion auf der Tagung dar. Sie wurden zum Teil in eine neue Reihenfolge gebracht, und die ursprüngliche Teilung in Impulsreferate und Kommentare bzw. kontrastierenden Darstellungen wurde verwischt. Auf einige wichtige Tagungsvorträge musste verzichtet werden. Die versammelten theoretischen Überlegungen, historischen Übersichtsreferate und die Reihe von Fallstudien demonstrieren dennoch überzeugend die methodische und thematische Vielfalt einer umfassend verstandenen modernen Wissenschaftsgeschichte. Ihr Potential herauszukehren, muss als eines der Hauptziele der Tagung angesehen werden, die zugleich Auftakt für die Konzeption eines DFG-Schwerpunktprogramms war, das mittlerweile beschlossen und ausgeschrieben worden ist. 1

Strukturierende Klammer aller Beiträge war ursprünglich eine Periodisierung anhand von vier Blöcken entsprechend der politischen Systeme in Deutschland, wobei die Beiträge jeweils auch die Übergänge zum nachfolgenden System betrachten sollten. In der nun vorliegenden Veröffentlichung wurden Kaiserreich und Weimarer Republik zum "ersten Drittel des 20. Jahrhunderts" verschmolzen, und mit "Nationalsozialismus" und "Nachkriegszeit" wurde die ursprüngliche Betonung auf die Bruchzonen zurückgenommen. Jeder dieser drei neuen Teile ist mit einer Einführung von Rüdiger vom Bruch versehen, welche zusammen eine ausgezeichnete Verortung und Kurzcharakterisierung aller Beiträge liefern. Die Einordnung der "übergreifenden Problemaufrisse" von Mitchell Ash und Ulrich Wengenroth im ersten Block, die sich ausdrücklich auf den gesamten Zeitraum bzw. auf 1900-1960 beziehen, erscheint nicht ganz glücklich, zudem finden sich auch in den anderen Blöcken Beiträge, die ausdrücklich längere oder überlappende Perioden in den Blick nehmen. Es bietet sich daher bereits aus diesem Grund an, nicht der chronologischen Darstellung zu folgen, und statt dessen die Frage nach übergreifenden Methoden und Ansätzen in den Mittelpunkt zu rücken, die in den für den Druck bearbeiteten Beiträgen deutlich werden. Dies erscheint umso sinnvoller, da mit dem Tagungsbericht von Stefan Kriekhaus 2 bereits eine ausgezeichnete tour d'horizon über Themen und Diskussionen der Veranstaltung vorliegt. Daneben gilt es, die genannten Desiderata der wissenschaftshistorischen Forschung zu erwähnen.

Den methodischen Auftakt bildet der Beitrag von Mitchell Ash über "Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander". In Ablehnung einer "allzu strengen Zuordnung von Politik zum bloßen Kontext der Wissenschaft" (50) entwickelt Ash das Verhältnis von Wissenschaft und Politik als Ausdruck einer "Umgestaltung oder Neugestaltung von Ressourcenensembles", wobei Ressourcen "finanzieller ... kognitiver, apparativer, personeller, institutioneller oder rhetorischer Art" sein können. (32) Der Vorteil einer solchen Betrachtungsweise ist es, umfassend und symmetrisch zu sein: Wenig hilfreiche Versuche, Trennungslinien zwischen wissenschafts-"externen" und -"internen" Faktoren zu finden, werden obsolet; darüber hinaus rückt die Tatsache in den Vordergrund, dass nicht nur Wissenschaft eine Ressource für die Politik ist, sondern auch die Wissenschaft selbst Ressourcen aus der politischen Sphäre mobilisieren kann. Konkrete Wissenschaftswandlungen auf ihre ihnen unterliegenden Ressourcenkonstellationen zu analysieren, empfiehlt sich zweifellos als unvoreingenommener methodischer Zugriff. Gerade als Kontrastfolie zur Fokussierung auf gestaltende Personen offenbart der Blick auf die Ressourcenkonstellationen einen Einblick in Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen. (Wenn man nicht mit Latour die Ressourcen selbst zu "Aktoren" machen möchte.) Ash wendet sein Modell vor allem auf politische und wissenschaftspolitische Systembrüche an, etwa auf die organisatorische und institutionelle Neugestaltung der deutschen Wissenschaft nach 1918. Gewisse Probleme deuten sich aber sowohl in der Totalität als auch in der vermeintlichen Neutralität der Begrifflichkeit an: Wenn der "Gesamtkomplex der Wissenschaften im Kaiserreich als modernes Ressourcenensemble begriffen wird" (34), gerät dessen Erfassung und Beschreibung sicherlich zu umfassend oder zu "dicht". Demgegenüber muss es als eine zu entkontextualisierte Redeweise erscheinen, wenn die Wirkung der Vertreibungen von 1933 auf die Wissenschaft als "gewollte[r] Verzicht auf personale Ressourcen" (39) beschrieben wird.

Für die Erklärung des Niederganges der deutschen Vormachtstellung in Wissenschaft und Technik von der Jahrhundertwende bis 1960 stützt sich Ulrich Wengenroth auf einen methodisch bescheideneren und funktionalistischeren Zugriff über den Begriff des Innovationssystems. Dessen Fähigkeit, Innovationen, Produkte und damit wirtschaftlichen Erfolg hervorzubringen, wurde wesentlich durch den politischen Input gesteuert. Weltkrieg, Isolation und Nationalsozialismus verbannten die deutsche Innovationskultur in einen "Käfig", innerhalb dessen konkurrenzfähige Innovationen nicht mehr möglich waren. Damit bestätigt sich Ashs Schlussfolgerung, dass Innovation nicht vorrangiger Zweck der Wissenschaftspolitik zu sein braucht; es sind vielmehr kurzsichtigere Zielsetzungen, die die Ressourcenmobilisierungen steuern.

Wie Wengenroth das wissenschaftlich-technische Innovationssystem so datiert Margit Szöllösi-Janze auch die Formation des zumindest bis 1945 erstaunlich stabilen institutionellen Wissenschaftssystems auf die Jahrhundertwende. Institutionalisierungen von Wissenschaft gerade jenseits der Universität bildeten in den Zwanziger Jahren "eine in Europa einmalige, institutionell verankerte verwissenschaftlichte Gesellschaft" (70), die – so ihre These – mit dem (historisierten) Konzept der Wissensgesellschaft zu erfassen sei. Dieses Plädoyer für ein Primat der in einem weiten Sinne verstandenen Institutionen und Institutionalisierungen stellt sich der Konkurrenz der traditionelleren Sichtweise, nach der die Disziplin die "natürliche Einheit" der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sei (Russell MacCormmach, Mary Jo Nye etc.). Freilich können Institutionen sowohl Spiegel gesellschaftlichen Wandels als auch Mittel für diesen sein, sie bilden so ein Scharnier zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Dennoch entstand auch im 20. Jahrhundert neues Wissen vielfach noch in nicht-institutionalisierten Forschungskontexten, und häufig folgte erst auf erfolgreiche Forschung eine Institutionalisierung, durch die jedoch nicht immer an die Erfolge anschlossen werden konnte, die sie legitimiert hatten.

Die zentrale Frage, wie und wann die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts sich zu einer modernen informationsbasierten Wissensgesellschaft entwickelt hat, ruft geradezu nach tieferer Analyse. Der Tagungsvortrag von Rudolf Stichweh, der leider nicht abgedruckt wurde, gab zu bedenken, dass aus der feingliedrigen wissenschaftlichen Institutionalisierung Ende der Zwanziger Jahre vielleicht noch nicht auf eine "Wissens"gesellschaft im üblichen Sinne geschlossen werden sollte, sondern vielmehr auf eine "Wissenschafts"gesellschaft. So offenbart sich die differenzierte Aufarbeitung der Herausbildung der modernen Wissensgesellschaft als wichtige Forschungsaufgabe. Daneben benennt Szöllösi-Janze mit der Erforschung der Reichs- und Staatsanstalten der Weimarer Republik, mit der Betrachtung der Wissenschaftsverlage als Popularisierungsinstitutionen und mit dem Niederschlag institutioneller Strukturen in Forschungsstilen, in Fragestellungen und in dem produzierten Wissen selbst drei weitere konkrete Desiderata der Wissenschaftsgeschichte. Volker Roelckes Beitrag zur Entwicklung der Psychiatrie zwischen 1880 und 1930 kann als Beispiel für den letzten Punkt gelesen werden, in dem Theoriebildung und Begrifflichkeit einer Wissenschaft eng mit der Institutionalisierung und der Verbindung mit der staatlichen Sozialpolitik verwoben waren.

Neben Ressourcen, Systemen und Institutionen bringt Jonathan Harwood den Forscher zurück ins Zentrum der Wissenschaft. Dem Ziel, die sich weitgehend unabhängig voneinander entwickelten Ideen- und Institutionsgeschichte miteinander zu verbinden, kann man sich nach Harwood nähern, auch ohne den Weg durch langwierige und detaillierte Fachgeschichten beschreiten zu müssen: Man kann "die überwiegenden Forschertypen an den verschiedenen Institutionen analysieren." (165) Dabei sollte weniger der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften thematisiert werden als vielmehr die Vielfalt innerhalb beider Bereiche. Harwood illustriert diesen Ansatz anhand der Verschiebung der Gewichte zweier Forschertypen, Ringers "Mandarinen" und den neueren "Experten", die generell eine "allmähliche Veränderung im Selbstverständnis des Wissenschaftlers und damit auch im Charakter der Forschung" bewirkten (168). In ihrem Kommentar sehen Jeffrey Johnson und Roy MacLeod zwei Probleme dieses Forschertypenansatzes: Zum einen war die Stärkung der Experten wesentlich durch die Weltkriege induziert, zum anderen eignet sich der Ansatz kaum zur Übertragung auf andere nationale Wissenschaftskulturen. Welche Chancen gerade im internationalen Wissenschaftsvergleich liegen wird durch Wolfgang Eckarts Anmerkungen zur humanexperimentellen Forschung in Deutschland und Japan für die Zeit von 1933-45 demonstriert.

Quasi eine andere Kategorisierung von Forschertypen stellt Jürgen Reulecke am Beispiel der West- und Ostforschung durch die "verlorene Generation" zur Diskussion: Erklärt nicht bereits die Generationalität die typischen wissenschaftlichen Zugriffe und bestimmtes politisches Verhalten hinreichend? Unter dem Titel "Machtergreifung als Generationenkonflikt" wird diese Perspektive von Michael Grüttner auf die Hochschulpolitik angewandt. Weitere kollektivbiographische Methoden in Form von Soziogrammen (Hubert Laitko), Erinnerungsgemeinschaften (Anne Nagel) oder kollektiv erfahrenen Remigrationsbarrieren (Claus-Dieter Krohn) bilden auch einen Schwerpunkt in der Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit.

Wenn es eine Perspektive auf die Wissenschaft gibt, die im vorliegenden Band zu kurz gekommen ist, dann ist es die Materialität der Wissenschaft, d. h. ihre Objekte in der Natur und ihre Artefakte im Labor. Lediglich Helmuth Trischler, der sich in seinem Beitrag zur Großforschung im Nationalsozialismus grundsätzliche Gedanken über weiterführende Forschungsperspektiven macht, weist ausdrücklich auf dieses Feld der Wissenschaftsgeschichte hin. Denn nirgendwo sonst werden Kontinuitäten über Brüche des politischen oder wissenschaftlichen Systems deutlicher als an Teilchenbeschleunigern, Windkanälen oder Gaszentrifugen. Sie sind materielle Ressourcen der Wissenschaft und ihre gesellschaftlich-kulturelle Manifestation zugleich.

Dem von Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas herausgegebenen Band gelingt es insgesamt überzeugend, sowohl einen Durchgang durch ein Jahrhundert der Wissenschaft zu geben als auch eine Vergleichsperspektive der Entwicklungen der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften in diesem Jahrhundert zu eröffnen. Damit ist ihnen ein seltenes Beispiel dafür gelungen, wie sich die Wissenschaftsgeschichte aus der fachgeschichtlichen Einengung befreien kann. Dass dabei Lücken der historischen Forschung deutlich werden, ist kein Manko, es war das Ziel des Projekts.

Anmerkungen:
1http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=101&type=stipendien&pn=chancen=chancen)
2http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/BEITRAG/TAGBER/wisspol.htm

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