Das Konzentrationslager Warschau, das im Juni 1943 auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos errichtet wurde, gehört weder in Polen noch international zu den bekannten Orten der nationalsozialistischen Terrorpolitik. Die in fünf Transporten aus Buchenwald und Auschwitz nach Warschau deportierten Häftlinge – ausschließlich Männer und mehrheitlich nichtpolnische Juden – mussten das Ghetto abreißen sowie den verwertbaren Bauschrott und Wertgegenstände aus dem Gelände bergen. Anfang Mai 1944 wurden die Lagerkommandantur, die Mehrheit der Wachmannschaft und der Lagerälteste aufgrund von Korruptionsvorwürfen abgelöst; das Lager wurde als "Arbeitslager Warschau" dem KL Majdanek unterstellt. Ende Mai gelangten neue Transporte mit ungarischen Juden via Auschwitz in das Lager, das Ende Juli, wenige Tage vor Ausbruch des Warschauer Aufstands, aufgelöst wurde. Schätzungsweise 4.000 Häftlinge wurden auf einen Evakuierungsmarsch nach Kutno getrieben und von dort aus weiter nach Dachau deportiert. Eine Einheit der Armia Krajowa befreite die letzten knapp 400 Häftlinge in den ersten Tagen des Warschauer Aufstands Anfang August 1944.
Maria Trzcinska hat nun die erste selbstständige Publikation über das Lager vorgelegt, die zahlreiche Dokumente und Fotografien enthält. Als Staatsanwältin der "Hauptkommission zur Untersuchung der hitleristischen Verbrechen in Polen" leitete Trzcinska von 1973 bis 1994 die Ermittlungen über das KL Warschau, die aufgrund eines Rechtshilfegesuchs der "Zentralen Stelle" in Ludwigsburg aufgenommen wurden.1 Bei der als "Synthese ihrer Untersuchungen" angekündigten Arbeit handelt es sich jedoch nicht um eine wissenschaftliche Darstellung über das KL Warschau, sondern vielmehr um einen polemischen Beitrag zur polnischen Geschichtspolitik.
Als KL Warschau gilt Trzcinska nicht die an der ul. Gesia gelegene Haftstätte, die der Amtsgruppe D im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS unterstand, sondern ein Komplex aus fünf Lagern im Raum Warschau. Dazu zählt sie ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht in Kolo, zwei Haftstätten auf dem Ghettogelände (darunter auch das Lager an der ul. Gesia) und zwei Lager am Westbahnhof. Bei einem habe es sich um eine unterirdische Vernichtungsanlage gehandelt, die vom Herbst 1942 bis zum August 1944 in Betrieb gewesen sei. Belege dafür, dass die Lager unter einer gemeinsamen Verwaltung standen, wie sie behauptet (S. 17), vermag Trzcinska nicht zu liefern. In der umfangreichen Literatur über die Okkupation Warschaus finden sich auch keine Hinweise darauf, dass am Westbahnhof in der Zeit von 1942 bis 1944 ein Lager bestand oder eine Gaskammer in Betrieb war.2 Ein Blick in das spärliche Literaturverzeichnis zeigt, dass die Autorin nicht einmal die polnischen Aufsätze über das KL Warschau rezipiert hat,3 geschweige denn die deutschen Arbeiten über das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.
Um ihre Behauptung zu belegen, im Zentrum Warschaus habe zwei Jahre lang eine Vernichtungsstätte existiert, interpretiert Trzcinska einige Dokumente in geradezu manipulativer Weise. Der "Papst-Plan", ein im Januar 1940 vom Würzburger Architekten Hubert Groß unter dem Titel "Warschau, die neue deutsche Stadt" gestalteter Entwurf, sah zwar die "Liquidierung Warschaus als polnische Hauptstadt und die Verkleinerung ihrer Einwohner auf 500.000" vor (S. 12).4 Der Paradigmenwechsel in der deutschen Besatzungspolitik vom "absoluten Zerstörungsprinzip" (Hans Frank) zur hemmungslosen ökonomischen Ausbeutung führte jedoch dazu, dass dieser Plan nicht realisiert wurde. Trzcinska suggeriert hingegen, dass sich Himmler mit seinem Befehl vom 16. Februar 1943, in dem er aus "Sicherheitsgründen" die Verkleinerung Warschaus und die Errichtung eines Konzentrationslagers in der Stadt forderte, unmittelbar auf Groß’ Entwürfe bezog (S. 13). Den Kontext blendet Trzcinska dabei aus. Himmlers Order bezog sich allein auf das Ghetto. Die Pläne, dieses in ein Konzentrationslager umzuwandeln und die dort verbliebenen jüdischen Arbeitskräfte unter Kontrolle der SS zu bringen, reichen bis in den Herbst 1942 zurück.5 Der bewaffnete jüdische Widerstand verhinderte schließlich, dass das Ghetto wie projektiert in ein Arbeitslager der SS-eigenen Ostindustrie überführt wurde. Trzcinska geht jedoch davon aus, dass das KL Warschau im Oktober 1942 tatsächlich errichtet wurde; sie behauptet darüber hinaus, nicht Juden, sondern Polen seien dort interniert gewesen (S. 12). Weder der Befehl Himmlers vom 11. Juni 1943 zur Errichtung des KL Warschau noch Pohls Vollzugsmeldung vom 23. Juni 1943 enthalten einen Hinweis darauf, dass das Lager aus zwei räumlich getrennten Komplexen bestand, wie Trzcinska behauptet (S. 14).6
Das KL Warschau war kein "Einweisungslager". Nicht das RSHA entschied über die Deportation von Häftlingen in das Lager; sie wurden vielmehr aus anderen Konzentrationslagern nach Warschau gebracht. Für Trzcinska stellt sich der Sachverhalt anders dar: Das KL Warschau war kein "Einweisungslager", weil es für den "Völkermord" an der Warschauer Bevölkerung vorgesehen war (S. 16). Insgesamt 200.000 Menschen, mehrheitlich Polen, seien in dem KL Warschau ermordet worden. Zu diesem Ergebnis gelangt Trzcinska durch den Vergleich des in einer polnischen Enzyklopädie genannten Bevölkerungsverlusts von Warschau während des Krieges und der Okkupation mit Angaben aus der Forschung, ohne dafür jedoch eine Quelle zu benennen (S. 88). Die Mehrzahl der Opfer des "Vernichtungslagers Warschau" sei in den Gaskammern eines Tunnels am Westbahnhof ermordet worden. Ihre These stützt Trzcinska auf Gutachten eines „Gasspezialisten", der die technische Möglichkeit einer solchen unterirdischen Vernichtungsanlage zu belegen versucht (S. 36-38; S. 44-47). Die Ermordeten seien in verschiedenen Krematorien an der ul. Gesia verbrannt worden (S. 74).
Bis zum Frühjahr 1944 musste ein Sonderkommando die bei den Abrissarbeiten im Ghetto entdeckten Leichen und die Opfer der Exekutionen, die von der Sicherheitspolizei und dem SD regelmäßig auf dem Gelände durchführt wurden, auf improvisierten Scheiterhaufen verbrennen. Vermutlich führte die exzessive Ausweitung der Erschießungen im Winter 1943/44 dazu, dass im Frühjahr 1944 mit dem Bau des Krematoriums begonnen wurde. Nach Aussage der Häftlinge wurde es jedoch vor der Räumung des Lagers nicht mehr in Betrieb genommen.7 Die Aussagen von polnischen Zeugen, die Trzcinska zitiert (S. 75-77), geben ebenfalls keinen Aufschluss darüber, dass das Krematorium noch vor Evakuierung des Lagers betriebsfertig war.
Trzcinskas Argumentation stützt sich weitgehend auf Zeugenaussagen und zeitgenössische konspirative Berichte des polnischen Untergrunds. Eine genauere Beschreibung oder Kritik der Quellen liefert sie nicht. Ein Großteil des Ghettos blieb auch nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands für die Öffentlichkeit gesperrt – eine mögliche Erklärung für manche offensichtlich fehlerhaften Angaben in den Berichten des polnischen Untergrunds über die Vorgänge auf dem Gelände.
Ein gutes Drittel ihrer Arbeit verwendet Trzcinska auf die Darstellung des politischen Streits über das KL Warschau in Polen. Die These vom "Vernichtungslager Warschau" mit den unterirdischen Gaskammern am Westbahnhof vertritt Trzcinska bereits seit den 1980er Jahren.8 Gegenüber der "Hauptkommission" und ihrer Nachfolgeinstitution, dem "Institut des Nationalen Gedenkens" (IPN) erhebt sie schwere Vorwürfe. Eine Aufklärung der im KL Warschau verübten Verbrechen sei in der Volksrepublik aus politischen Gründen nicht möglich gewesen, da auf dem Gelände an der ul. Gesia von 1945 bis 1955 der NKWD Angehörige der Armia Krajowa und der polnischen Intelligencja inhaftiert habe (S. 94). Dass dort in den ersten Nachkriegsjahren auch deutsche Kriegsgefangene interniert gewesen seien, bezeichnet sie als "Nonsens" (S. 97).9 Schwere persönliche Vorwürfe erhebt Trzcinska gegen ehemalige und gegenwärtige Mitarbeiter des IPN, die ihren Thesen um "Vernichtungslager Warschau" kritisch gegenüberstehen. Dem von ihr unterstützten "Komitee zum Gedenken an die Opfer des KL Warschau“ gelang es, das Thema auf die politische Agenda zu bringen. Am 27. Juli 2001 forderte der Sejm per Mehrheitsbeschluss auf Antrag von Tomasz Feliks Wójcik, an die Opfer des KL Warschau mit einer von Papst Johannes Paul II. geweihten Gedenktafel zu erinnern. Der Beschlusstext nennt zwar nicht die Zahl von 200.000 Opfern, und auch von einer Vernichtungsstätte am Westbahnhof ist nicht die Rede, doch Wójcik, ehemals Abgeordneter des "Wahlbündnisses Solidarnosc" und heute in der nationalkatholischen "Liga der Polnischen Familien", berief sich eindeutig auf die von Trzcinska propagierten Thesen über das KL Warschau.
Seit Januar 2002 ermittelt nun das IPN erneut über das KL Warschau.10 Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob es sich bei dem KL Warschau um ein Vernichtungslager gehandelt hat, wie Trzcinska unermüdlich behauptet, und die Zahl der Opfer. Der Abschlußbericht des leitenden Staatsanwalts Witold Kulesza wird noch im Jahr 2003 erwartet. Von Journalisten einer führenden polnischen Wochenzeitschrift über das vermeintliche "Vernichtungslager Warschau" befragt, äußerte sich Wladyslaw Bartoszewski, einer der besten Kenner der Okkupationszeit, Ende Juli 2001: "Es gibt eine kleine Gruppe, die seit Jahren meint, daß in Warschau zu wenig Menschen gestorben sind."11
Anmerkungen:
1 Die "Zentrale Stelle" leitete 1967 Ermittlungen zum KL Warschau ein. Die Staatsanwaltschaft München eröffnete 1973 ein Strafverfahren gegen Angehörige der Lagerkommandantur. Nach mehreren Teileinstellungen wurde das Verfahren 1994 endgültig eingestellt, ohne dass es zu einem Urteil gegen einen der Angeklagten kam.
2 An der ul. Gesia befand sich vom Frühjahr bis zum Herbst 1943, räumlich und organisatorisch vom KL getrennt, ein Arbeitserziehungslager (AEL) der Sicherheitspolizei Warschau, in dem Polen inhaftiert waren. Beide Lager werden in polnischen Quellen und Darstellungen als "Gesiówka" bezeichnet, was zu beständigen Verwechslungen führt. Vgl. Bartoszewski, Wladyslaw, Der Todesring um Warschau 1939–1944, Warschau 1969, S. 171-173.
3 Vgl. Berenstein, Tatiana; Rutkowski, Adam, Obóz koncentracjny dla Zydów w Warszawie (1943–1944), in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego w Polsce 62 (1967), S. 3-22; Matusak, Piotr, Obóz koncentracjny dla Zydów w Warszawie, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego w Polsce 86/87 (1973), S. 253-256; Domanska , Regina, Obozy w Getcie Warszawskim, in: Biuletyn Glównej Komisji Badania Zbrodni Przeciwko Narodowi Polskiemu/Instytutu Pamieci Narodowej 34 (1992), S. 124-135.
4 Vgl. Gutschow, Niels; Klain, Barbara, Vernichtung und Utopie. Stadtplanung Warschau 1939–1945, Hamburg 1994, S. 21-54.
5 Himmlers Befehl vom 9. Oktober 1942 findet sich als Faksimile in: Grabitz, Helge; Scheffler, Wolfgang (Bearb.), Letzte Spuren. Ghetto Warschau, SS-Arbeitslager Trawniki, Aktion Erntefest, Fotos und Dokumente über Opfer des Endlösungswahns im Spiegel historischer Ereignisse, 2., durchges. Aufl., Berlin 1993, S. 179.
6 IMT NO-2496. Himmler an Pohl am 11. Juni 1943. IMT NO-2516. Pohl an Himmler am 23. Juni 1943.
7 Eine polnische Untersuchungskommission vom Mai 1945 kam zu dem gleichen Ergebnis: Archiwum Akt Nowych 212/II-4. Bl. 88.
8 Vgl. Polen weist bislang unbekanntes KZ im Zentrum von Warschau nach, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung. Nr. 22, 30. Mai 1986, S. 3.
9 Vgl. Kochanowski, Jerzy, W polskiej niewoli. Niemieccy jency wojenni w Polsce 1945-1950, Warszawa 2001, S. 90-95; Kopka, Boguslaw, Obozy pracy w Polsce 1944-1950. Przewodnik encyklopedyczny, Warszawa 2002, S. 164-166; Trzcinska polemisiert in diesem Kontext gegen das geplante "Museum gegen die Vertreibung", in dem auch des Schicksals der Deutschen in Polen nach 1945 gedacht werden soll (S. 99).
10 Vgl. www.ipn.gov.pl/aktual_2707_klw.html
11 Niezgoda, Agnieszka; Panasiuk, Arkadiusz, Tunel pod pomnik. KL Warschau - biala plama czy dmuchany balon?, in: Polityka 34 (25. August 2001), S. 67.