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Titel
Ego-Histoire?. Und andere Erinnerungs-Versuche


Autor(en)
Niethammer, Lutz
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Latzel, Bielefeld

Anfang der 60er-Jahre in einer kleinen Stadt in Südwestdeutschland: Ein junger Mann steigt aus dem Auto, zündet sich eine Zigarette an und betrachtet, „den Mantelkragen hochgeschlagen“, das Gebäude des städtischen Friedhofsamtes. Als sein Blick auf sein Spiegelbild in einem Schaufenster fällt, lacht er über seine „prächtige Kriminalfilmpose“ (S. 12), wirft die Zigarette weg und begibt sich ins Amt, um seine Fragen zu stellen. Sie gelten dem Schicksal derer, die in einer Ecke des Friedhofs begraben liegen, in kleinen Gräbern mit handgroßen Plättchen, auf denen steht: „unbekannt“. Die Toten sind Opfer des ehemaligen Arbeitserziehungslagers der Stadt, das zum terroristischen Kosmos des nationalsozialistischen Lagersystems zählte.

Ende der Neunziger-Jahre befindet sich derselbe Mann erneut, oder besser: immer noch auf Spurensuche im historischen Gedächtnis: Nun bewegt er sich „sozusagen mit hochgeschlagenem Mantelkragen im Nebel der Geistesgeschichte“ und verfolgt die Entstehungszusammenhänge der in der Historie allgegenwärtigen Rede von der „kollektiven Identität“. Am Ende des Berichts über seine ausufernden Streifzüge durch die Geschichte dieses Begriffs plädiert er dafür, versuchsweise auf das polemogene „Plastikwort“ zu verzichten und sich stattdessen lieber über konkrete Zugehörigkeiten zu verständigen. 1

Wer ist der Mann im hochgeschlagenen Mantelkragen, der sich an die Arbeit am kollektiven Gedächtnis macht? Lutz Niethammer stellt sich diese Frage selbst im Vorwort zu seiner jüngsten Buchveröffentlichung „Ego-Histoire? und andere Erinnerungsversuche“: „Wer war dabei“? (S. VIII) Der Weg, auf dem er Antworten sucht, passt in kein Genre. Das Buch ist weder Autobiografie noch herkömmliche Aufsatzsammlung, sondern es versammelt unterschiedliche, oft andernorts bereits veröffentlichte und hier überarbeitete, Textsorten. Der erste Teil erzählt von „Projekt-Erfahrungen“: Er enthält ein Radio-Feature des 23-Jährigen Studenten aus dem Jahre 1962 über die eingangs genannte Recherche zu dem Arbeitserziehungslager, einen Bericht über die Durchführung lebensgeschichtlicher Interviews Mitte der achtziger Jahre in der DDR, Reflexionen über die „andauernde Faszination Carl Schmitts“ (S. 63) sowie eine (vorläufige) Bilanz von Niethammers Tätigkeit als Kanzleramtsberater bei der Frage der Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern in den Neunziger-Jahren.

Den zweiten Teil und in jeder Hinsicht das Zentrum des Buches macht ein fast 90 Seiten umfassender Essay aus, dem der Band seinen Titel verdankt (dazu sogleich mehr). Im dritten Teil („Kollegiale Bezüge. Gelegentliche Miniaturen“) finden sich Würdigungen von Kollegen und Freunden. Der vierte Teil („Promemoria. Anstöße“) bietet programmatische Texte: ein Nutzungskonzept für die Zeche Zollverein in Essen als industriehistorisches Museum, eine Einführung in die Droysen-Vorlesungen an der Universität Jena, an der Niethammer seit 1993 lehrt, und Vorschläge zum Zukunftsfonds der für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter eingerichteten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Den Schluss des Bandes bilden unter der Überschrift „In memoriam“ zusammengefasste Nachrufe auf verstorbene Freunde und Kollegen Niethammers.

Ich muss gestehen, dass ich, zum ersten Mal in diesem in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Band blätternd und mich hier und da festlesend, nicht wenig irritiert war. Wie sollte dieses „Puzzle“ aus „fragmentarischen, exemplarischen, essayistischen“ (S. IX) Texten Antworten auf die eingangs von Niethammer gestellte Frage bieten? Und was genau war eigentlich mit dieser Frage gemeint? Versuchsweise folgte ich Niethammers im Vorwort gegebenem Ratschlag, das „Kaleidoskop“ seiner „Erinnerungssplitter“ bei Bedarf auch anders zu schütteln (S. IX). Nun stand am Anfang der Lektüre der Titel-Essay „Ego-Histoire? Ausufernde Fragmente einer Antwort“, und die Irritation begann allmählich zu weichen.

Niethammer fragt in diesem Essay zunächst, was denn eine „Ego-Histoire“ gewöhnlich ausmache. Er zieht dafür das von Pierre Nora initiierte Modell von Selbstbeschreibungen französischer Historiker heran 2, das ihm aber in mehrfacher Hinsicht Unbehagen bereitet. Ihm fehlen darin nicht nur Einblicke in das persönliche Leben der Autoren, sondern es ist insbesondere die „Konstruktion der Egos“ (S. 106), die ihn nicht überzeugt. Was, so fragt er weiter, steht am „Quell von Kreativität“? Nur das sich selbst bewusste, vernünftige Ich? Nicht auch tiefere Schichten des Selbst, Beziehungen zwischen diesem und Herausforderungen von außen, Wechselwirkungen, die allenfalls zum Teil bewusst und jedenfalls nicht beherrschbar sind?

Um das herauszufinden, schlägt Niethammer einen Weg ein, den er auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit oft betreten hat: Er argumentiert nicht primär theoretisch, sondern er spricht von (hier: seinen) Erfahrungen, um diese sodann theoretisch zu reflektieren und - hier: mit der Ideologie des autonomen, rationalen Schöpfer-Ichs zu konfrontieren (S. 106). Dafür gewährt er einen Blick in seine Werkstatt: Kreatives Schreiben geschieht in der Nacht, mit Pfeife und Rotwein, der die Gedanken löst, die zu Papier gebracht und am nächsten Morgen vom („hoffentlich“) rationalen Ich betrachtet und beurteilt werden. Wäre aber nur dieses am schöpferischen Prozess beteiligt, würde der wohl kaum lohnendes hervorbringen (S. 107).

Am genannten Modell der Ego-Histoires missfällt ihm weiter, dass diese einen programmatischen Sinn und eine Kontinuität in die Entwicklung des wissenschaftlichen Werkes hineinlegten, als wären ihre Verfasser wirklich Herr ihrer Geschichten. Seine eigenen Gefühle gegenüber seiner Arbeit und gar seinem Leben sprächen freilich eine andere Sprache, nämlich von Ungewissheiten und Fragmentierungen (S. 107).

Und, erneut die Wendung zur eigenen Erfahrung, diesmal als oral historian: In lebensgeschichtlichen Interviews würden Lebensläufe zunächst gewöhnlich arg konventionalisiert präsentiert, während erst bei näherem Nachfragen und Hinsehen Erinnerungssplitter hervorkommen, die nicht in übergreifende Muster passen wollen, gerade diese aber hätten sich als Schlüssel für die Interpretation von Erfahrungen erwiesen (S. 108).

Angesichts dieser Schwierigkeiten, sich der konventionellen Form von „Ego-Histoire“ zu unterwerfen, sucht er nach einer eigenen. „Wer war ich dabei?“ Im Verlaufe des Textes gerät die Antwort zur immer komplexeren Entwicklung dieser Frage, die sich dabei allmählich charakteristisch verschiebt und eher lauten müsste: In welchen Konstellationen bewegte ich mich, wie und aus welchen Motiven habe ich auf diese reagiert und sie selbst beeinflusst? Das führt Niethammer in immer neuen Anläufen durch eine Reihe von Arbeits- Lebens- und manchmal Liebesgeschichten, die er mit selbstkritischen Reflexionen verknüpft.

Ein paar Stichworte dazu müssen hier genügen: Niethammer berichtet über seine Veröffentlichungen; bewegt von Fragen der Zeit, entstanden sie oft als Interventionen in öffentliche Debatten, woraus ihr „Mangel an thematischer und methodischer Kohärenz“ resultierte (S. 109). Gleichwohl ergibt sich für Niethammer schließlich ein wiederkehrendes Grundthema seiner wissenschaftlichen und öffentlichen Engagements: die „Folgen und Erbschaften des Nationalsozialismus“ (S. 159). Er beschreibt sich als Teamworker, der sich in unterschiedlichen Netzwerken auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene zum Eingreifen in den wissenschaftlichen und politischen Zeitgeist herausgefordert sah, von der Auseinandersetzung mit dem Erstarken der NPD in den Sechziger-Jahren über die „Erfahrungsgeschichte des Volkes“ in den großen Oral-history-Projekten im Ruhrgebiet und der DDR bis zum Eintauchen in die Intellectual History in den letzten Jahren. In all diesen Tätigkeiten entdeckt er ein unwillkürliches „Verhaltens- und Beziehungsmuster“: die Schwierigkeit, männliche oder väterliche Autorität zu akzeptieren oder sich in Unterordnungsverhältnisse zu fügen, sowie Probleme mit seiner eigenen Autorität, der er sich häufig zu entziehen versuchte, indem er die ihm institutionell angesonnenen „Väterrollen“ zugunsten freundschaftlicher Verhältnisse moderierte (S. 157f.).

All dies wird in vorwiegend vergnüglichem und meist ironischem Ton dargeboten, enthält immer wieder skeptische Betrachtungen und manchmal auch bewegende Erzählungen – insgesamt ein Lesegenuss, der durch eine Zusammenfassung keineswegs wiedergegeben werden kann.

Nach einer kurzen theoretischen Betrachtung über das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte, die seine wissenschaftlichen und politischen Interventionen ins historische Gedächtnis in die aktuelle theoretische Diskussion einbetten, folgt am Ende des Essays ein fünfundzwanzigseitiges Kabinettstück, ein fiktives lebensgeschichtliches Interview Niethammers mit sich selbst. Es enthält fremde und eigene Erinnerungen, Episoden und Reflexionen über seine Kindheit und Jugend. Niethammer entwirft deren Beziehungskonstellationen, erzählt von seiner Herkunft, von seinem im Krieg abwesenden Vater, den er erst im Alter von zwölf Jahren kennen lernte, ohne mit ihm über ein Verhältnis vorwiegenden Schweigens hinauszugelangen, von seinem Aufwachsen im „mütterlichen Nest“ (S. 173), von seinen Geschwistern, von einer fast völlig weiblichen und als idyllisch erinnerten Welt. „Aber“, interveniert er in seine eigenen Erinnerungen, „sag mir eins: Willst Du wirklich, dass ich Dir glauben soll, Du hättest keine Kriegserinnerungen?“ (S. 182)

So von sich selbst bedrängt, ringt er sich schließlich durch, sich Zugang zu einigen Kriegserlebnissen zu gestatten, schildert aufblitzende Erinnerungen aus der kleinen Stadt südwestlich von Stuttgart, wohin die Familie evakuiert war, Erinnerungen, in denen durch die vermeintliche Idylle die Zeichen der Gewalt bemerkbar werden. Dennoch stellen sich selbst diese Erinnerungen schließlich als gleichsam defensiv verzerrt heraus. In einer anrührenden Schilderung konfrontiert Niethammer seine eigene Erzählung von der Beobachtung des roten Nachthimmels über dem in der Ferne bombardierten Stuttgart, in dem die elterliche Wohnung in Flammen aufgeht, mit einer Erzählung seines Bruders: Nein, die Bombennacht in Stuttgart hätten sie doch selbst erlebt, wurden erst danach evakuiert und hätten seither immer fürchterliche Angst gelitten, wenn die Flugzeuggeschwader über sie hinwegdröhnten – und der Bruder habe wohl recht; gleichwohl könne er selbst sich daran nicht erinnern, habe seine unerträglichen Erlebnisse als 3-4-Jähriger wohl zugunsten einer idyllischen Schutzgeschichte verdrängt.

Niethammer pointiert mit diesem Schluss noch einmal das Fragezeichen im Titel: „Ego-Histoire?“ Nein, so ließe sich nun antworten, der Begriff trifft nicht das Spannungsverhältnis von eigenen und fremden Erinnerungen, von Ich-und-Wir-Bezügen, von „Lebenserfahrung und kollektivem Gedächtnis“, das Niethammer wissenschaftlich immer umgetrieben hat und das er hier am Beispiel seines eigenen Lebens exemplifiziert.

Nach Lektüre dieses Essays fällt es leicht, die Perspektive einzunehmen, unter der auch die übrigen Texte des Bandes zu lesen sind und sich nun mühelos in die Frage „Wer war er dabei“ einstellen lassen. Also: Wer war (und ist!) er dabei? Eine Antwort wäre anmaßend, aber drei Schlüsselbegriffe, die immer wieder in den Texten auftauchen, lassen einige Elemente erahnen: „Herausforderung“, „Verführung“ und „Historisierung“. Herausforderung ist dabei wechselseitig zu verstehen: Die politischen und gesellschaftlichen Folgen des Nationalsozialismus werden von Niethammer als permanente Nötigung zur theoretischen und praktischen Stellungnahme, zur öffentlichen Intervention, zur Herausforderung des kollektiven Gedächtnisses, zu dessen Historisierung im Sinne aufklärender Kritik, empfunden. Eine der ersten Herausforderungen, die Niethammer benennt: „Seit meinen Schülertagen verspürte ich das Bedürfnis, mich mit jenen Völkern in Verbindung zu setzen, die durch die Nazi-Herrschaft am tiefsten verletzt worden waren“ (S. 147), insbesondere mit Israel, was ihn zwischen Schule und Studium dazu bringt, ein Jahr Hebräisch und Griechisch zu studieren, und als Student für ein halbes Jahr in einen isrealischen Kibbuz führt.

Die Frage nach den Herausforderungen dient Niethammer auch als Richtschnur der Kritik in seiner wissenschaftlichen Arbeit, etwa wenn er formuliert, dass das Denken Carl Schmitts nicht durch seine Einbettung in die „verwaschenen Positionen“ der Weimarer Rechten bestimmt, „sondern durch Krisen und Herausforderungen erregt (wurde), d.h. durch die Wahrnehmung konkreter Gefährdungs- und Verunsicherungslagen, in denen eine gedankliche Front gegen die Gefahr aufgebaut werden soll“ (S. 76). Glücklicherweise ist der Unterschied der Interventionen von Schmitt und Niethammer einer ums Ganze: Während Schmitt das Visier herunterlässt und „quasi eine Fortsetzung des Krieges mit begrifflichen Mitteln“ (S. 76) betreibt, versteht Niethammer seine Aufgabe als Intellektueller als „kritische Dienstleistung: das in der Praxis Verschüttete und Verdrängte zur Sprache und zur Geltung zu bringen“ (S. 220).

Die Art und Weise, in der er dies tut, lässt schließlich den Begriff der Verführung ins Spiel kommen, und auch dieser ist wechselseitig zu verstehen: Nur zu gern lässt sich Niethammer, wie er vielfach beschreibt, von der Atmosphäre intellektuellen Abenteuers, produktiver Phantasie und kreativer Geselligkeit („gelegentlich sogar fast erotisch“ (S.144)) in wissenschaftlichen und politischen Netzwerken verführen. Seine entspannte Haltung gegenüber überspannten „disziplinären Normen“ (S. 248), sein Credo, dass Historiker nicht nur eine konventionelle Wissenschaft betreiben, sondern „auch eine Kunst“ und sich „zu ihren geschulten Intuitionen“ bekennen (S. 250), tragen das ihre dazu bei, dass ich das Buch auch denjenigen empfehlen würde, die sich mit dem Gedanken an ein Geschichtsstudium tragen oder die gerade beginnen, sich darin zurechtzufinden. Es gewährt eine Fülle von Einblicken in die historische Praxis, in denen deutlich wird, wie sich persönliches Interesse und Wissenschaft ineinander verweben lassen, hilft so, mögliche Scheu vor dem System Wissenschaft zu überwinden, und ermuntert, eigene Fragen an historische Erfahrungen zu stellen und zu reflektieren. Man müsste den Mantelkragen schon sehr hochgeschlagen haben, um sich davon nicht anregen – nein: verführen zu lassen.

Anmerkungen:
1 Niethammer, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000, hier S. 72, 33.
2 Nora, Pierre (Hg.), Chaunu, Pierre; Duby, Georges; Goff, Jaques Le; Perot, Michelle, Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen, Frankfurt am Main 1989.

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