Annemarie Tröger (1939–2013) gehört zu den intellektuellen und aktivistischen Wegbereiterinnen der feministischen Wissenschaften in der Bundesrepublik. Trotz ihrer diversen und einflussreichen Aktivitäten ist sie vermutlich nur wenigen bekannt, was vor allem daran liegt, dass Tröger keinen Wert darauf legte, sich im akademischen Feld in gängiger Weise zu profilieren. Die studierte Psychologin war seit 1960 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) engagiert, arbeitete während ihrer Aufenthalte in den USA mit Vietnam-Veteranen und Gewerkschafterinnen, in West-Berlin engagierte sie sich in der Frauengruppe „Brot und Rosen“ und gegen Frauenarbeitslosigkeit.
Am ehesten dürften sie diejenigen kennen, die sich mit der frühen feministischen Erforschung des Nationalsozialismus beschäftigen, denn in diesem Feld war Annemarie Tröger eine der wichtigsten Pionierinnen. Ihr 1977 veröffentlichter Artikel über die „Dolchstoßlegende der Linken – Frauen haben Hitler an die Macht gebracht“ ist laut der Historikerin Gisela Bock ein Urtext der historischen Frauenforschung zum Nationalsozialismus.1 1981 ermöglichte Annemarie Tröger einer Gruppe junger Forscherinnen die Veröffentlichung eines ersten Sammelbandes zu diesem Thema; sie war zu diesem Zeitpunkt als wissenschaftliche Assistentin am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin mit der Aufgabe betraut, zusammen mit Tilla Siegel den Arbeitsbereich „Vergleichende Faschismusforschung“ aufzubauen.2 In dem 1992 zwischen Gisela Bock und Claudia Koonz ausgetragenen Historikerinnen-Streit über die Opfer- und Täterinnenschaft von Frauen im Nationalsozialismus trat Annemarie Tröger nicht mehr auf. Sie war im Zuge der universitären Institutionalisierung und Disziplinierung der feministischen Geschichtswissenschaft im Laufe der 1980er-Jahre aus diesem Forschungsfeld ausgeschieden.
Mit „Kampf um feministische Geschichten. Texte und Kontexte 1970–1990“ würdigen die Herausgeberinnen Regine Othmer, Dagmar Reese und Carola Sachse ihre frühere Mentorin und Weggefährtin als „engagierte linke und feministische Intellektuelle“ (S. 9). Der Band versammelt vierzehn Texte von Annemarie Tröger aus zwei Jahrzehnten. Diese seien nicht als „Werk“ im akademischen Sinne zu verstehen (S. 10), sondern als „historische Dokumente eines Forschungsanliegens oder auch einer Denkweise, die sich als politisch und wissenschaftlich umstürzend, also revolutionär verstand und disziplinäre Grenzen in den Wissenschaften selbstbewusst ignorierte“ (S. 9). Im Kontext einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Traditionsbildung der neuen Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert ist diese Publikation als eine Intervention anzusehen, die angesichts des Einflusses, den Tröger auf viele ihrer Zeitgenoss:innen hatte, berechtigt erscheint.3 Sie stellt sich auch bewusst den Schräglagen entgegen, die daraus resultieren, die Frühgeschichte der historischen Frauen- und Geschlechterforschung nur in den historischen Instituten oder bei den wenigen der Pionier:innen zu suchen, die im Laufe ihrer Karrieren eine Professur erlangten.4
Die Herausgeberinnen haben weitere Weggefährt:innen gebeten – darunter mehrere namhafte Historikerinnen wie Atina Grossmann und Elisabeth Harvey –, die ausgewählten Texte zu kommentieren. Daraus ist ein vielfarbiges Panorama aus detaillierten wissenschafts- und zeithistorischen Kontextualisierungen und persönlichen Erinnerungen an Annemarie Tröger entstanden.
Der Band ist in vier Teile gegliedert. Die ersten drei Teile geben jeweils vier Texte von Annemarie Tröger wieder, die alle um einen Kommentar ergänzt sind. Diese Aufteilung entspricht Trögers Schaffensphasen sowie Forschungsschwerpunkten. Der erste Block widmet sich „Revolutionäre[n] Zeiten“ und enthält ausschließlich Texte aus der ersten Hälfte der 1970er-Jahre, darunter ein Radio-Feature „Über Slums in Lateinamerika“ und Trögers Auseinandersetzung mit der russischen Sozialistin und Feministin Alexandra Kollontai (1872–1952). Tröger verstand sich zu Beginn der 1970er-Jahre als „Berufsrevolutionärin“; seit dieser Zeit bewegte sie sich international und publizierte in mehreren Sprachen (S. 393–396). Darauf verweist auch, dass mehrere ihrer Texte im englischen Original wiedergegeben sind. Mit den folgenden beiden Abschnitten „Feministische Wissenschaft: Primat der Praxis und methodische Ansätze einer Geschichte von unten“ sowie „Vorgeschichte der neuen Frauenbewegung: Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“ werden die Schwerpunkte von Trögers Arbeit ab Mitte der 1970er-Jahre deutlich.
Neben ihrem in den USA erschienenen Artikel über die erste West-Berliner Sommeruniversität für Frauen, die sie 1976 maßgeblich mit ins Leben gerufen und organisiert hatte, und einem Portrait über die Fotografin Ilse Bing (1899–1998) befassen sich alle anderen Texte dieser Zeit mit Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Zwei Beiträge sind besonders hervorzuheben, da sie auf Trögers – gemessen an ihren methodischen Ambitionen – ‚größten‘ geschichtswissenschaftlichen Projekte dieser Zeit verweisen: die Biografie über die im Nationalsozialismus verfolgte Kommunistin Hilde Radusch (1903–1994) und das Oral-History-Projekt „Mündliche Geschichte“ über Lebenswirklichkeiten von Frauen in einem Berliner Arbeiter:innenviertel. Beide Buchprojekte konnten aus unterschiedlichen Gründen als solche nicht verwirklicht werden. Aus der Zusammenarbeit mit Hilde Radusch ist die gemeinsame Auswertung des Gesprächs mit der Interviewten selbst als „Versuch, Forschung feministisch zu betreiben“ (1981) erhalten, im Falle des Oral-History-Projekts ist es der Abschlussbericht von 1982. Beide Texte werden von Dagmar Reese kenntnisreich kommentiert und die methodische Pionierarbeit und ihr letztliches Scheitern eingeordnet. Annemarie Tröger war damit eine Wegbereiterin der sich in den 1980er-Jahren ausweitenden Geschichtsbewegung ‚von unten‘ und arbeitete auch international mit Gleichgesinnten zusammen, etwa als eine der wenigen Deutschen in der International Oral History Association.5
Der letzte Teil „Rückblicke, Ausblicke“ versammelt abschließend noch zwei Texte von Tröger, die sie als weiterhin kritische Beobachterin ihrer Zeit ausweisen: ihre Retrospektive auf die bundesdeutsche Studentenbewegung als „Avantgarde der Angestelltenklasse“ (1988) sowie ihre Analyse der damals aktuellen Veränderungen in der DDR (1990).
Die Herausgeberinnen schreiben in ihrer Einleitung, Trögers Texte seien „avantgardistisch, indem sie Politik und Wissenschaften samt den dazugehörigen Disziplinen durcheinanderwirbelten, und konservativ zugleich, indem sie, wenn auch zunehmend verzagt, die feministische Aufbruchstimmung der 1970er-Jahre in eine Zeit weiterzutragen versuchten, in der sich die inzwischen so genannte Frauen- und Geschlechterforschung im disziplinär-etablierten Wissenschaftsbetrieb einzurichten begann“ (S. 17). Dies ist ein Aspekt der interessanten Heterogenität von Trögers Texten, die die Lektüre spannungsvoll und bisweilen herausfordernd gestaltet. Nicht nur deswegen ist „Kampf um feministische Geschichten“ mit reichhaltigen 432 Seiten auch ein Buch zum Hineinlesen und Entdecken, dessen stringente Lektüre nicht unbedingt erforderlich ist. Die erhellende Einführung der Herausgeberinnen und die aufschlussreiche biografische Skizze von Regine Othmer am Schluss des Bandes bilden dabei eine hervorragende Rahmung. Othmer gelingt es, Trögers intellektuelle Arbeit in den Zusammenhang ihrer „viele[n] Leben“ (S. 377) zu stellen. So erfahren wir, dass Annemarie Tröger als Kind Thüringer Großbauern vaterlos und mit dem Grundbesitz- und Statusverlust ihrer Familie aufgewachsen war. In ihren letzten Berufsjahren wirkte sie als Psychotherapeutin in Kairo, London und Berlin.
Der Band bereichert die aktuelle Forschung, rückt eine einflussreiche Pionierin und die sehr spezielle Phase der frühen historischen Frauenforschung in den Fokus. Die Textauswahl fordert zur neuen Auseinandersetzung mit Annemarie Trögers vielseitigem intellektuellen Schaffen und seinen Kontexten heraus. Das feministische Archiv FFBIZ (Berlin) digitalisiert aktuell Teile von Trögers Nachlass und ermöglicht somit niedrigschwellig den Zugang zu Dokumenten ihrer Arbeit, was zukünftige Projekte anregen sollte.
Anmerkungen:
1 Gisela Bock / Cillie Rentmeister, Interview zur ersten Berliner Sommeruniversität für Frauen (6.–10. Juli 1976), in: Feministische Projekte in Berlin 1974–1978, 12.8.2016, https://feministberlin.de/gruenderinnen-der-sommeruni-im-interview/gisela-bock/ (20.08.2021).
2 Frauengruppe Faschismusforschung, Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1981. Der lesenswerte Erinnerungsbericht von Tilla Siegel zu dieser Zeit findet sich im vorliegenden Band auf S. 55–63.
3 Vgl. zu verschiedenen Strategien der Traditionsstiftung in Frauenbewegungen: Angelika Schaser / Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Aufbrüche: Geschichte der Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 69 (2021) H. 2. Zeichen des aktuellen Interesses, auf in der Forschung und/oder öffentlichen Wahrnehmung bisher weniger präsente Akteur:innen der neuen Frauenbewegung aufmerksam zu machen, ist auch die 2020 erschienene Anthologie der feministischen Satire-Zeitschrift „Die Schwarze Botin“: Vojin Saša Vukadinović (Hrsg.), Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980, Göttingen 2020.
4 Vgl. Ulla Bock, Pionierarbeit. Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung an deutschsprachigen Hochschulen 1984–2014, Frankfurt am Main 2015; Angelika Schaser / Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013), S. 79–110.
5 Die International Oral History Association (IOHA) entstand 1976 als informelles Netzwerk, in dem Annemarie Tröger von Beginn an engagiert war; vgl. Annette Leo / Franka Maubach (Hrsg.), Den Unterdrückten eine Stimme geben? Die International Oral History Association zwischen politischer Bewegung und wissenschaftlichem Netzwerk, Göttingen 2013.