Der Topos der „geglückten Demokratie“1 ist nach wie vor ein gerne gewählter Bezugsrahmen, um davon ausgehend die Notwendigkeit zu betonen, die „Demokratisierung der Deutschen“2 nach 1945 eben nicht als voraussetzungslose Zwangsläufigkeit aufzufassen. Daran anknüpfend wurden im Kontext zahlreicher Studien und Publikationen die mit diesem Prozess in Verbindung stehenden Kontinuitäten, Brüche und Widersprüche in den Blick genommen. Im Fokus standen dabei insbesondere in den letzten Jahren zahlreiche Aufarbeitungsprojekte, die sich sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene mit der Geschichte verschiedener Behörden im Spannungsfeld zwischen personellen und inhaltlichen Kontinuitäten auseinandersetzten. Mittlerweile wurde wiederholt versucht, kritisch Bilanz zur Konjunktur der „Behördenforschung“ zu ziehen.3
Daran anknüpfend wird in diesem Zusammenhang in einem immer stärkeren Maß danach gefragt, welche Demokratievorstellungen und -konzepte nach 1945 wirkmächtig waren. Die von Alexander Kraus vorgelegte Studie ist unmittelbar an diese Frage anschlussfähig. Der Autor versteht dabei die Demokratie als Lebensform und analysiert diese als Demokratielabor (S. 15). Im Fokus der Arbeit steht die Stadt Wolfsburg, die dem Autor der Studie aufgrund ihrer spezifischen Geschichte als gleichermaßen beispielloser wie exemplarischer Untersuchungsgegenstand erscheint (S. 27). Dieser Einschätzung ist zuzustimmen, denn ganz offenkundig konnte nach Kriegsende in der erst im Jahr 1938 gegründeten „Stadt des KdF-Wagens“ nicht an lange stadthistorische Linien angeknüpft werden. Vielmehr sah sich die Stadtgesellschaft in ganz besonderem Maße damit konfrontiert, sich von der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit abkoppeln zu müssen (S. 19). Das daraus resultierende Erkenntnisinteresse leuchtet ebenso wie die der Arbeit zugrunde liegende Fragestellung unmittelbar ein, auch wenn das konkrete Verständnis des von Kraus (bereits im Titel) prominent verwendeten Begriffs des „Demokratielabors“ im Ungefähren bleibt.
Neben der Einleitung und dem Schluss ist das Buch in insgesamt dreizehn Kapitel unterteilt, die aus unterschiedlicher Perspektive Demokratisierungsprozesse in Wolfsburg thematisieren. Der von Kraus in den Blick genommene Untersuchungszeitraum geht weit über die unmittelbare Frühphase der jungen Bundesrepublik hinaus und erstreckt sich bis in die 1970er-Jahre. Die in sich abgeschlossenen (und überaus lesenswerten) Kapitel eröffnen ein sehr breites Themenspektrum an stadtgeschichtlichen Untersuchungen, die sowohl kommunalpolitischen Handlungsmustern als auch bürgerlicher Mitverantwortung der lokalen Akteure nachspüren (S. 30). Es sind insbesondere die in der Studie eröffnete thematische Breite und die Dichte der herangezogenen Quellen, die dazu führen, dass interessierte Leser:innen durch dieses Buch anhand der Auseinandersetzung mit der Stadt Wolfsburg instruktive und luzide verfasste Einblicke in die zahlreichen und durchaus konfligierenden Aushandlungsprozesse nach 1945 erhalten. In diesem Zusammenhang wäre es allerdings wünschenswert gewesen, zu erfahren, welche Kriterien für die getroffene Themenauswahl maßgeblich waren. Eine Antwort auf diese Frage hätte umso mehr interessiert, da Kraus selbst anmerkt, dass noch viele weitere Kapitel denkbar gewesen wären, und in diesem Zusammenhang auf eine ganze Palette von weiteren spannenden Themen verweist (S. 34).
Kapitel 1 setzt sich mit dem Wahlerfolg der Deutschen Rechts-Partei (DRP) im Zuge der Kommunalwahl in Wolfsburg im Jahr 1948 auseinander, bei der die rechte Splitterpartei 64,3 Prozent der Stimmen enthielt. Kraus rekapituliert in dem Abschnitt nicht nur den Ablauf und das Ergebnis der Wahl, sondern interessiert sich anhand quellengestützter Analysen sowohl für die zeitgenössische Rezeption der Wahl in der Presse als auch für Deutungen, die retrospektiv zu Beginn der 1960er-Jahre in der Stadt zirkulierten. Anhand einer exemplarischen Auseinandersetzung mit einem (privaten) Tagebuch gelingt es Kraus in diesem Kapitel zudem, „eine individuelle Perspektive auf das Geschehen vor Ort“ abzubilden und zeitgenössische Einblicke in die Zeitwahrnehmung mit der werdenden Demokratie (S. 87) in seiner Analyse zu berücksichtigen.
In dem sich daran anschließenden Kapitel 2 widmet sich der Autor anhand der Auseinandersetzung mit diversen journalistischen Reportagen, die insbesondere bis zu den 1960er-Jahren entstanden, den darin enthaltenen Zuschreibungen, die sich aus diesen herauslesen lassen. Dabei erwies sich Wolfsburg in den in den Blick genommenen Reportagen „als eine überaus anpassungsfähige Projektionsfläche, als Leerraum, der auf vielfältige Art und Weise mit Zuschreibungen gefüllt werden konnte“ (S. 108). Unter der pointierten Überschrift „Gebaute Demokratie aus dem Geist des Totalitarismus?“ zeichnet Kraus nachfolgend die Baugeschichte des Wolfsburger Rathauses nach und adressiert in diesem Kontext auch die Frage nach personellen Kontinuitäten und Brüchen in der frühen Bundesrepublik (Kapitel 3).
Um den lokalen erinnerungskulturellen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands geht es in drei weiteren Kapiteln, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven annähern. In Kapitel 6 analysiert Kraus die Ausgabe einer sich mit dem Holocaust auseinandersetzenden Schüler:innen-Zeitung, die 1960 an einem Wolfsburger Gymnasium erschien. Diese erlangte, wie Kraus aufzeigt, eine Resonanz, die weit über den lokalen Kontext hinausging. Während dieses Kapitel als Beispiel für ein erfolgreiches demokratieförderndes Engagement gelesen werden kann, widmet sich Kraus nachfolgend „verpassten Chancen zur Auseinandersetzung mit der NS-Unrechtsgeschichte“ und zeichnet nach, warum der Versuch scheiterte, im Jahre 1964 die Ausstellung „Auschwitz – Bilder und Dokumente“ nach Wolfsburg zu holen (Kapitel 7). Das nächste Kapitel behandelt anhand der widersprüchlichen Geschichte der für längere Zeit despektierlich als „Ausländerfriedhof“ bezeichneten Grabstätte für Zwangsarbeiter:innen und der Transformation des Ortes zu einem Gedenkort die damit verbundenen erinnerungskulturellen Debatten (Kapitel 8).
Die Auseinandersetzung mit der (eigenen) nationalsozialistischen Vergangenheit steht allerdings nicht in allen Kapiteln im Fokus. Wie erwähnt, verfolgt der Autor einen breiteren Ansatz, um die gesellschaftliche Vielfalt und die damit verbundenen Aushandlungsprozesse innerhalb des von ihm konstatierten „Demokratielabors“ zu entfalten: Kapitel 4 wendet sich unter einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive dem kommunalen Fußballsport zu. Kraus verdeutlicht in diesem Zusammenhang, wie „sehr die umfassende Benachteiligung der Frauen und die starren, wenn nicht besitzwahrenden Denkweisen männlicher Entscheidungsträger“ auch in der Bundesrepublik dominierten und mühsam aufgebrochen werden mussten (S. 140). Um In- und Exklusionsprozesse im lokalen Kontext geht es Kraus in Kapitel 9, in dem er das Zusammenleben mit italienischen „Gastarbeitern“ als medial vermittelte Integrationsherausforderung beschreibt. In weiteren Abschnitten der Publikation widmet sich der Autor anhand der Wolfsburger Jugend in den 1950er-Jahren generationellen Selbstzuschreibungen und Aushandlungsprozessen (Kapitel 5). Kapitel 13 verhandelt anhand der Beschäftigung mit dem Thema „Prostitution im politischen Diskurs der Volkswagenstadt“ sich wandelnde Moralvorstellungen und Liberalisierungsdiskussionen zu Beginn der 1970er-Jahre. Zudem geht es um kulturpolitische Debatten (Kapitel 10), um Bürgerbriefe als Medium der politischen Teilhabe (Kapitel 11) sowie um kommunale Schulpolitik im Kontext des Schüler:innen-Streiks in Wolfsburg im Jahre 1970 (Kapitel 12).
Das Schlusskapitel des Buches rückt schließlich das 25-jährige Stadtjubiläum Wolfsburgs aus dem Jahr 1963 in den Fokus. Kraus interessiert in diesem Zusammenhang in erster Linie die Frage, welche Bedeutung die lokalen politischen Entscheidungsträger der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft der Stadt beimaßen (S. 431). So interessant und relevant diese Frage auch sein mag, so ist doch zu konstatieren, dass dieser Abschnitt im Grunde „nur“ ein weiteres exemplarisches Schlaglicht ist, das neben den anderen Kapiteln steht. Angesichts der in diesem Buch verfolgten breiten Herangehensweise hätte es sich angeboten, am Ende den Versuch zu unternehmen, die auf den vorherigen Seiten überzeugend dargestellten Demokratisierungsprozesse argumentativ zusammenzubringen und miteinander mit Blick auf das von Kraus in den Raum gestellte Konzept des Demokratielabors in Bezug zu setzen. Dieser Kritikpunkt ändert jedoch nichts daran, dass es sich hierbei um eine beeindruckende Studie zur bundesdeutschen Demokratiegeschichte handelt.
Anmerkungen:
1 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.
2 Tim Schanetzky u.a. (Hrsg.), Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020.
3 Niels Weise, „Mehr als Nazizählerei“. Die Konjunktur der behördlichen Aufarbeitungsforschung seit 2005, in Magnus Brechtken (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021, S. 386–404.